Fadenhochzeit und Spielfalt

Predigt am 28. Oktober 2016 über Jesaja 11,1-9
bei meiner Einführung als Fachbereichsleiter Kirche. Wirtschaft. Arbeitswelt

Liebe Gemeinde,
es gibt Momente im Leben,
da trifft dich ein Wort,
ein Gedanke, ein Bild –
und du spürst sofort:
Das schlägt jetzt gerade voll ein.

So ging es mir mit diesen Worten von Hannah Arendt:

„All unser Handeln ist nicht mehr,
aber auch nicht weniger
als Fäden in ein Gewebe zu schlagen,
das andere vor uns gewebt haben.“

Ich sah das als Bild vor mir und sagte, ja, das stimmt.

Ein Faden, wie dieser hier.
Bringe ich ihn in dieses Gewebe hier ein, verändert sich das Muster.
Doch wenn er noch so schön farbig leuchtet:
Ohne das Gewebe bliebe er haltlos im luftleeren Raum.

Hannah Arendt sagt mit dem Bild:
Nichts von dem, was ich tue,
nichts von dem ist denkbar ohne das,
was andere vor mir getan haben.
Ich beziehe mich immer schon auf etwas,
das andere vor mir geschaffen haben.
Unsere Vorväter und -mütter.
Meine Eltern und Großeltern.
Arbeitskolleginnen und -kollegen, vielleicht schon im Ruhestand.
Und so weiter und so fort.

Doch zugleich schaffen wir immer wieder Neues.
Etwas, das vorher nicht da war.
Ich bringe einen Faden ein.
Und das Muster wird ein anderes, wird neu.

All unser Handeln steht in dieser Spannung.
Wir werden geboren und gebären im Lauf der Zeit Neues.
Ein Bild für unser ganzes Leben und Wirken.
Das klingt widersprüchlich und stimmt dennoch ganz und gar.
Geburtlichkeit nennt dies Hannah Arendt.

Und das Bild entfaltet sich schnell weiter.
An Mustern stricken viele mit.
Manche Gewebe sind so hart, dass ich mit meinem Faden nicht hineinkomme.
Andere sind brüchig und reißen, wenn ich mich zu verbinden suche.
Das Geflecht kann wunderschön aussehen –
oder völlig chaotisch.
Manche Fäden sind dicker, andere dünner.
Manche haben bunte, vielleicht auch grelle Farben.
Andere sind unscheinbar und grau.
Und so weiter und so fort.

Hannah Arendt ist dabei der Meinung:
Auch unsere Sprache gehört zu unserem Handeln.
Das Denken nicht.
Das bleibt im Kopf, ist nicht fassbar.
Aber in dem Moment,
in dem ich meine Gedanken in Worte fasse,
ausspreche oder aufschreibe –
da handle ich.
Wer schon mal an Texten gearbeitet hat,
kann das wohl nachvollziehen.
Was mir da alles an tollen Gedanken durch den Kopf schwirrt,
kommt oft nur so schwer aufs Papier …
Worte verändern die Welt.
Ein Wort explodiert in meinem Kopf.
Ein Bild breitet sich vor mir aus, von ganz allein.
Ein Vortrag stellt mein bisheriges Denkmuster in Frage.

Eigentlich ist Traugott Jähnichen schuld daran, dass ich seinerzeit auf dieses Bild von Hannah Arendt gestoßen bin.
Mein Doktorvater sagte einst zu mir:
Herr Jung, über Arbeit aus evangelischer Sicht haben vor allem Männer geschrieben.
Schauen Sie doch mal, ob Sie auch Texte von Frauen finden.
Ich suchte.
Und fand Antje Schrupp und Ina Praetorius.
In einem Buch von Ina stand dieser Gedanke von Hannah Arendt.
Und ich schrieb ihr diesbezüglich eine Mail.
So begann es.

Über Ina und Antje wurden meine Frau und ich aufmerksam auf das ABC des guten Lebens.
Genauer gesagt:
Meine Frau kannte das ABC schon vorher,
aber nun bekamen wir direkten Kontakt.
Das ABC des guten Lebens.
Ein Versuch, unser Leben und damit auch unser Arbeiten und Wirtschaften in anderen Horizonten zu betrachten.
Neue Wörter sind dabei die Fäden, mit denen die Autorinnen versuchen, die Muster alter Gewebe zu verändern.
Das kann aufregend sein, wenn Menschen beginnen, nach neuen Worten zu suchen.

Vor zwei Jahren zogen wir nach Osnabrück.
Diakoniepastorin Doris Schmidtke trat schnell an uns heran und fragte:
Wollen Sie beide nicht in der Gendersteuerungsgruppe mitwirken?
Wir sagten ja.
Und erzählten irgendwann vom ABC.
Das traf auf Resonanz in der Gruppe.
So verabredeten wir eines Tages:
Bis zur nächsten Sitzung erschafft jede und jeder ein neues Wort.
Weil Worte die Welt und uns verändern und neue Wörter allzumal.
Einige der schönen neuen Wörter auf dieser Karte sind so entstanden.
Verbundenheitsweberin.
Sehnsuchtswach.
Caremutigen.

Weitere habe ich in diesem Sommer gesucht.
Und sie mit Christine, meiner Frau und ErstMitdenkerin, getestet.
Manche wurden wieder verworfen.
Andere stehen hier auf der Karte drauf:
Zaunspalter.
Einverstimmig.
Transformationszauber.
Geistwebend.
Traumspinnen.
Wortwalten.

Mein aktuelles Lieblingsworte ist Fadenhochzeit.
Fadenhochzeit, der Moment, in dem ich spüre:
Ein Wort, ein Satz, eine Geste oder Handlung von mir kommt gerade bei dir an.
Ich sehe das an deinem Resonanzlächeln.
Und es kommt zu der beglückenden Erfahrung:
Mein Faden verschmilzt mit deinem Gewebe.
Wir verstehen uns.
Und es geschieht gerade jetzt etwas Neues.
In der Vereinigung wird das Muster verändert.
Wir feiern Fadenhochzeit.

Auch alte Worte, erneut gelesen und gehört, können Fäden sein, die Denken und Handeln verändern.
Der vorhin gelesene Abschnitt aus dem Buch Jesaja zum Beispiel.
Wir hören ihn regelmäßig im Advent.
Ein Abschnitt aus dem alten Testament, der hebräischen Bibel.
Hier erkennen Christinnen und Christen symbolisch das Wirken Jesu wieder.
Leider geht die Wucht dieser Worte in der adventlichen Kerzen-, Machthochdietür- und so weiter Stimmung regelmäßig unter.

Wolf und Lamm, Kuh und Bärin, Löwe und Rind…
En Bild des Friedens.
Frieden herrscht dort, wo Gerechtigkeit und Freiheit in der Waage stehen.
Aber es ist vor allem das Kind, das mir ins Augen springt.
Der Säugling, der vor und mit der Giftschlange spielt.
Spielt.

Kinder lernen durchs Spielen.
Erwachsene haben das leider oft verlernt.
Wir sind vernünftig, strukturiert, lösungsorientiert, pragmatisch.
Da passiert selten wirklich Neues.
Wir stricken mit viel Aufwand Muster um.
Wirkungslos ist das nicht, keine Frage.
Und auch nicht unwichtig.
Manchmal sogar notwendig.

Aber wie wäre es, wenn das Spiel hinzu käme?
Die Bereitschaft zum Spielen?
Die Bereitschaft, mich aufs Spiel zu setzen?
Locker entspannt, selbstvergessen, neugierig, ohne Angst?
Wo das geschieht, entsteht wahrlich Neues.
Ein uraltes Bild sagt:
Gott spielte bei der Schöpfung der Welt,.
Er spielte seinerzeit mit Freude am Experimentieren.
Am Ende kam etwas Wunderbares heraus.

Was könnte alles geschehen, wenn wir den Mut zum Spielen miteinander aufbringen?

Um einem Missverständnis zu wehren:
Es geht mir nicht um das Spiel als Methode.
Wie es in Psychoseminaren mehr oder minder sinnig angewendet wird.

Wenn ich das Bild von Jesaja auf mich wirken lasse, dann geht es um ein spontanes, selbstvergessenes Spielen in friedlicher Umgebung.
Ein Spielen, das einem inneren Bedürfnis entspringt.
Was wäre, wenn wir diesem Bedürfnis Raum geben?
Was wäre, wenn wir ihm einen Raum vorhalten?
Was wäre, wenn wir einfach miteinander zu spielen beginnen?
In unseren Arbeitsfeldern, in den Jahresgesprächen, im Fachbereich, im Leitungsausschuss, im Kuratorium, im Landeskirchenamt?
In unseren Dienststellen, Unternehmen, Verbänden und Gremien?
Und dann noch mal weiter, kunterbunt gemischt in all den vielfältigen Begegnungen, die wir so haben?
Vorstandsfrau und Umweltaktivist, Gewerkschaftler und Unternehmerin…?

Es gibt ja gute und vertrauensvolle Beziehungen untereinander.
Das wird heute hier auch sichtbar.
Kirche, Gewerkschaften, Arbeitgeber, Sozialverbände, Umweltgruppen, Politik – wir sprechen miteinander.
Alles gut – aber:
Was könnte noch alles geschehen, wenn wir miteinander zu spielen wagen?
Unsere Zuständigkeiten zur Seite schieben?
Und unsere Interessen, denen wir uns normalerweise verpflichtet fühlen?

Was wäre, wenn wir spielerisch zum Beispiel nach neuen Wörtern suchen?
Nach Worten, die uns und vielleicht auch der Welt gut tun?
In den Wirrungen und Ängsten dieser Zeit?
Ja, und darüber hinaus am Ende uns und die Welt vielleicht verändern?
Weil es Worte sind, die Verbundenheit weben und Zäune spalten?
Die Sehnsucht wach halten und caremutigen?

Sage bitte niemand:
Spinnerei, weltfremd, unmöglich.
Dann leugnen wir die Botschaft dessen, den Christinnen und Christen in Jesajas Text wieder erkennen.
Denn der, Jesus, war sehr nachdrücklich der Meinung:
Das Reich Gottes fängt schon mitten unter uns an.
Es ist kein Traum für ein schönes Jenseits.
Keine Vision vom ewigen Leben.
In dem wir dann auf der Wolke sitzen und Halleluja singen.

Jesus redete vom Hier und Jetzt.
Und handelte entsprechend.
Es ging ihm um eine Vision des guten Lebens.
Um gutes Leben, gutes Arbeiten, gutes Lieben, gutes Wirtschaften.
Und er brachte Fäden in die Welt ein, die bis heute Muster verändert haben.
Ich bin sicher, er hatte auch Freude am Erfinden neuer Wörter.
Und Bilder, die er Menschen vor Augen stellte.
Feindesliebe ist so ein Wort,
dass sich seither als Faden durch die Gewebe dieser Welt schlängelt.

Das Reich Gottes beginnt hier und heute.
Wird zwar nicht fertig
und bleibt ein Fragment.

Aber Jesus war der Meinung:
Diese Geistkraft Gottes, von der auch Jesaja singt,
die schafft Neues, mitten im Alten.
Es wird ein Zweig aus einem Baumstumpf hervorgehen.
Nichts anderes als das Bild der Geburtlichkeit, das Hannah Arendt erfand.
Ich kann es aber auch in ganz anderen Worten sagen:

Die Geistkraft Gottes ermöglicht Spielfalt.
Und kreatives Traumspinnen.
Einverstimmiges Zäune spalten.
Verbundenheit weben.
Die Sehnsucht wach halten.
Haben wir alles bitter nötig…

Denn wir erleben gerade:
Länger vertraute Muster unserer Welt werden brüchig,
bieten kaum noch Halt und Orientierung.
Die Vergangenheit scheint für manche so rosig zu sein,
dass sie mit Macht, ja mit Gewalt suchen daran festzuhalten.
Die Gegenwart ist für viele durch Depression, Angst und Resignation geprägt.
Und die Zukunft, die sieht düster aus.
Wir ahnen:
Nichts wird so bleiben wie bisher.
Klimawandel, Wanderungsbewegungen, Ressourcenverbrauch –
es ist vorbei.
Das Wachstumsmodell ist am Ende.
Es entfaltet keine Hoffnung und Zuversicht mehr.
Zäune, Mauern und Meere schrecken nicht mehr ab.
Und das Wasser steigt und steigt.

Alternativen werden gebraucht.
Dazu will Gottes Geistkraft uns anregen, anstoßen.
Neue Worte, neue Ideen, neue Fäden ins Gewebe einbringen.
Die Muster so verändern, dass sie Mut machen.
Und wir handlungsfähig werden.
Indem sie eine Vision von einem Leben zeichnen, das sich am Gemeinwohl aller ausrichtet.

Wir Christinnen und Christen sind dafür hervorragend ausgerüstet.
Denn wir haben einen an der Seite, der sagt:
Hey, Leute, die Zukunft ist immer offen.
Denn das Reich Gottes kommt auf euch zu.
Und fängt schon unter euch an,
hier und da und dort.
Nehmt diese Zusage –
und geht los.

Mutig.
Gelassen.
Entspannt.
Gehalten.
Neugierig.
Spielfältig.
Feindesliebend
Traumspinnend.
Zäune spaltend.
Verbundenheit webend.

Und schaut, was daraus wird.
Die Verheißung lautet:
Es wird.

Amen.


P.S. Eins der schönen neuen Worte auf dieser Karte ist „Neubegehren“. Das stammt allerdings nicht von mir. Die Geschichte dieses Wortes findet sich hier: Neubegehren. Annäherung an ein neues Wort

P.P.S. Auf dem Handy wird das Beitragsbild, die Karte mit den Worten nicht angezeigt. Daher hier noch mal unten drunter:

woerter_einfuehrung

2 Gedanken zu “Fadenhochzeit und Spielfalt

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