Annäherung an ein neues Wort
Ich bin von Natur aus ein neugieriger Mensch.
Allerdings hat das Wort Neugier einen schalen Beigeschmack. Neugierige Menschen stecken ihre Nasen in Dinge, die sie nichts angehen, in private Lebensbereiche zum Beispiel. Und auch das Wort Gier lässt mich schaudern, es klingt verschlingend, maßlos und grenzüberschreitend. Deswegen sage ich ungern von mir, dass ich von Grund auf neugierig bin, weil ich befürchte, es stellt mich bei der oder dem anderen in ein ungutes Licht.
Das bedauere ich sehr, weil ich finde, Neugier im besten Sinne ist eine wunderbare Sache. Offen für neue Erfahrungen, Begegnungen, Erkenntnisse.
Zum Beispiel einfach mal ausprobieren, wie stricken geht. Hab ich gemacht, letztens auf der Denkumenta. Eine hat auch gleich ein Foto gemacht und mein Vater hat gestaunt. Stricken war aber nichts für mich. Ich weiß jetzt wie es geht, aber das reicht auch.
Neugier, die englische Sprache sagt: »curiosity« (lateinisch: curiositas).
Curiosity meint auch Merkwürdigkeit, Schaulust oder Wissbegier. So heißt auch der kleine Flitzer auf dem Mars. Das passt, finde ich. Ich finde es faszinierend, Bilder vom Mars zu sehen, aus »reiner« Neugier, auch wenn ich mich frage, welchen Sinn dieses Unternehmen hat…
Aus einer ähnlichen »Verlegenheit« dem Begriff Neugier gegenüber hat Ina Praetorius auf der Denkumenta für Neugier das Wort »Neubegehren« geschaffen, wahrscheinlich das Wort dieser Tagung.
Im postpatriarchalen Durcheinander hilft das Neubegehren, auf der Suche nach dem guten Leben zu bleiben und der negative Klang der Neugier tritt in den Hintergrund.
Neubegehren, immer wieder neu begehren. Bin ich also ein neubegieriger Mensch? Irgendwie klingt das auch schräg, vielleicht sage ich besser: Ich bin ein stets neubegehrender Mensch. Allerdings klingt dieses Begehren auch nicht unproblematisch, es könnte verwechselt werden mit der Begierde, dem rein sexuellen Begehren und gibt auch Stoff und Anlass für Missverständnisse.
In dem postpatriarchalen Versuch, Wörter neu zu denken und zu beschreiben, spielt das »begehren« schon lange eine zentrale Rolle:
»Mit dem Wort ›Begehren‹ bezeichnen wir einen inneren Antrieb, der Kraft und Orientierung bieten kann. Wenn Menschen etwas in Einklang mit ihrem Begehren tun, merken sie das zum Beispiel daran, dass sie es gern tun, dass ›Strom drauf‹ ist, dass sie es wagen, eigene Grenzen zu überschreiten, dass sie begeistert sind und sich lebendig fühlen (…) und dass sie ihr Tun als sinnvoll empfinden.«
(http://abcdesgutenlebens.wordpress.com/category/begehren/ )
Andere sprechen hier von Motivation oder von Begeisterung, vom Flow oder vom »wirklich, wirklich wollen«.
Begehren schließt für mich aber noch die Sehnsucht mit ein, die Sehnsucht nach Grenzüberschreitung und nach neuen Erfahrungen. Darüber hinaus finde ich schon, dass der Anklang an die Körperlichkeit, der im deutschen »begehren« mitschwingt, gut passt. Es ist eine Bewegung der ganzen Person, Mann oder Frau, nach vorne, auf etwas Neues hin, auch auf neue Menschen, Männer und Frauen. Und das Neubegehren ist sinnlich, mit jeder Faser erlebe ich den Flow, den Strom.
Das »ABC des guten Lebens« grenzt das Begehren gegenüber den Bedürfnissen ab:
»Während die Bedürfnisse dafür sorgen, dass Menschen (über)leben können, (…) drückt sich im Begehren die Sehnsucht nach einem ›Mehr‹ aus, das dem Auf-der-Welt-Sein Sinn gibt. Während es im Zusammenhang mit den Bedürfnissen ein Genug gibt, bezieht sich das Begehren immer auf ein ›Mehr‹, auf Fülle.« (ebd.)
Das ist ein interessanter Gedanke. Das Neubegehren kennt kein Genug, sondern zielt auf die Fülle, auf das Mehr. Als Warnung vor dem Verschlucken ist es vielleicht dann doch gut, dass die Gier vom Wortstamm her nicht weit entfernt ist. Mein Neubegehren findet seine Grenze in der Begegnung mit dem anderen Menschen, Mann oder Frau. Auch in den natürlichen Begrenzungen, oder in der Unterscheidung zwischen Sinn und Unsinn.
Ich bin nicht neubegehrend darauf, zum Mars zu fliegen, höchstens neubegierig – und verletze so die Grenze der Anderen, weil ich Ressourcen einsetze, in dem ich sie raube. Von daher ist die Marsmission des kleinen Roboters »kurios« – sie dient der Schaulust und ist merkwürdig und wenn auch der Wissbegier entstammend, so doch völlig nutzlos (Expert/inn/en mögen mir widersprechen).
Neubegehren hingegen ist ein sanftes Wort, klingt nicht hart wie die Neugier.
Neubegehren ist ein fließendes Wort, das dem entspricht, was ich unter Neugier verstehe: Eine erhöhte, vorsichtige, schwebende Aufmerksamkeit, getragen von Achtsamkeit, mit dem Wunsch, den Kern einer Sache, eines Momentes, eines Menschen, Mann oder Frau – nein, nicht zu erfassen. Eher zu erahnen, zu spüren, dem Wesen zu begegnen, mich ansprechen und anrühren zu lassen.
Neubegehren will aber nicht vereinnahmen, sondern sucht den Moment der Erkenntnis. Vielleicht liegt in diesem Wunsch, diesem inneren Antrieb, diesem Begehren, auch die Faszination, mit meiner Kamera ganz nah ran zu gehen und die Details hervorzuheben, die kleinen Aspekte, die leicht übersehen werden und die oftmals die entscheidenden Fundamente für die Mauern und Gebäude sind, die auf ihnen errichtet werden.
Das Neubegehren kann auch nicht »befriedigt« werden, es kommt nie an ein Ende. Der Moment der Erkenntnis, der Verschmelzung, der Begegnung hat seinen Sinn in sich, das Neubegehren ist mit dem Moment nicht vorbei. Höchstens für den Augenblick befriedigt. Ich lehne mich – eventuell gemeinsam mit Dir – zurück, sage: Ja. Und trinke mit Dir ein Glas Wein. Oder so.
Neubegehren ist mehr eine Haltung und weniger ein Tun.
Natürlich gibt es auch Zeiten, in denen ich mich zurückziehe, meine Neugier, mein Neubegehren nach außen hin schwach ausgeprägt ist. Dann brauche ich die Ruhe – und mein Neubegehren richtet sich nach innen. Dann will ich dort etwas erkennen, verstehen, erspüren, begreifen, will mir selbst begegnen und zwar so, dass ich von Neuem überrascht werde, von dem »mehr als genug«, das es auch in mir zu entdecken gibt.
Dieses letzte Foto ist für mich ein Bild für das, was ich mit diesem Wort verbinde.
Eine Vielfalt von Formen und Farben öffnet sich vor mir, zieht meinen Blick in eine geheimnisvolle, noch verborgene Mitte. Und ich weiß, nur wenn ich mich dieser Blüte achtsam nähere, beschädige ich sie nicht, sondern kann sie in ihrer Schönheit auf mich wirken lassen.
(Alle Foto stammen von mir. Aufgenommen in Meran und in Dortmund im Jahr 2013)
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Was mich so fasziniert an all diesen neu in den Lebensraum gestellten Worten ist, dass es keine festzulegende Definition dafür geben braucht, um mit ihnen wirklich sein zu können. (Sind das jetzt also unverbrauchte Worte, Dorothee?)
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Neubegehren hat für mich nichts mit „Mich-nicht-zufriedengeben“ zu tun. Es geht mir um die offene, freudige, vergnügte Erwartung des stets Neuen, dass letztlich in der Begegnung mit einem Menschen stattfinden kann. Zum Beispiel wäre ich „neugierig“ oder eben neubegehrend, dir mal live zubegegnen, nachdem wir übers Netz schon lange kommunizieren.
Neubegehren gibt es auch im Alten, klar. Auch in meiner Vergangenheit, meiner Vorfindlichkeit kann ich Neues entdecken. Und ja – nicht genug bekommen von dem, was ich bereits schätzen gelernt habe, das gehört für mich da mit hinein. Neubegehren ist für mich eine Haltung und nicht „ergebnisorientiert“.
Mehrbegehren, ne. Das Neue hat seine Faszination, aber nicht (oder zumindest weniger) in der Sucht nach dem ständig neuen Smart- oder iPhone, sondern in der Begegnung, der Erkenntnis, des Mich-Weiter-Entwickelns (weiter-lernen mag ich als Begriff grad nicht so)…
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Dann noch mal anders: Bedeuten Alt- wie Neubegehren nicht einfach auch ein Sich-nicht-Zufriedengeben mit dem, was ist, was man kennt, was man weiß, was man hat? Geht es nicht auch um das Neue im Alten, von dem nicht genug bekommen können, was man bereits schätzen und lieben und achten gelernt hat? Wie wäre es mit: „Mehrbegehren“?
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Interessante Frage…
Nein, ich glaube nicht. Dem ABC des guten Lebens liegt ja daran, alte Worte neu zu denken oder eben auch neue zu schaffen, wo alte nicht (mehr) passen. Neubegehren stand auf der Denkumenta mit einem Mal im Raum, es passte zur Atmosphäre, schlug ein und nahm in Bann. Neubegehren statt Neugier (und eine Altgier gibt es ja nicht 😉 ).
Begehren allein reicht nicht für mich nicht aus, um das Wort in seiner Fülle zu beschreiben. Es hat schon was von Poesie, es klingen Aspekte an, die im Begehren fehlen.
Allerdings…
…ist „Altbegehren“ auch ein neues Wort. Kommt da noch etwas Überschießendes drin zur Sprache, das im Neubegehren fehlt? Veilleicht der Bezug zur Vorgegebenheit? Das Einverstanden-sein-wollen mit dem was schon ist?
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Gibt es auch ein „Altbegehren“? Ist das besser oder schlechter als Neubegehren? Wenn es darauf nicht ankommt – reicht dann nicht: Begehren?
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