2019 ist noch nicht alt, aber ein Lieblingswort fürs neue Jahr habe ich schon: Zukunftskunst.
Es ist der rote Faden in Uwe Schneidewind´s Buch: Die Große Transformation – Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels.
In diesem Buch waren etliche Details für mich neu, die großen Linien kenne ich dagegen schon lange und teile sie. Die Große Transformation bildet den Horizont, unter dem ich als Landessozialpfarrer und Fachbereichsleiter Kirche. Wirtschaft. Arbeitswelt im Haus kirchlicher Dienste angetreten und unterwegs bin.
Dankbar bin ich Schneidewind und seinen Mitstreiter/innen zum einen für die Zusammenschau und die „Ordnung“, die dieses Buch in die komplexen und oft widersprüchlich scheinenden Herausforderungen bringt, die sich mit den Stichworten Nachhaltigkeit, Transformation, Klimakrise usw. verbinden.
Und zum anderen für dieses wunderbare Wort: Zukunftskunst. Ich liebe es auch, Worte zu erfinden oder genauer: Worte zu finden, die etwas auslösen. Sehnsuchtswach, Transformationszauber, caremutigen, Spielfalt – das waren Worte, die meine Frau und ich 2016 suchten und fanden und die im Herz der Predigt bei meiner Einführung standen. Aktuell haben wir gerade gemeinsam das Instagram-Projekt Wandelpunkte.de aus der Taufe gehoben und waren überrascht, dass dieses Wort bislang kaum verendet wurde. Und zwischendurch lief mir die Zukunftskunst über den Weg.
Zukunftskunst bezeichnet die Fähigkeit von Politik, Zivilgesellschaft, Unternehmen, Wissenschaften und allen Pionieren des Wandels, grundlegende Transformationsprozesse von der kulturellen Vision der Nachhaltigkeit her zu denken und von dort institutionelle, ökonomische und technologische Perspektiven zu entwickelnd. Getragen ist ein solcher Ansatz vorn der Zuversicht, dass Zukunft mitgestaltbar ist. (21)
Dieser Ansatz schließt für mich mehr oder minder nahtlos an Frithjof Bergmanns Vision von „Neuer Arbeit und neuer Kultur“ an. Bergmann gilt bis heute als Vater des Begriffs New Work bzw. Neue Arbeit. Neben der Tatsache, dass der millionenfache Gebrauch dieses Begriffs kaum noch etwas mit Bergmanns Ansatz zu tun hat, beschäftigt (vor allem) meine Frau und mich die Beobachtung, dass der zweite Teil von Bergmanns Vision, die neue Kultur, weitgehend nicht diskutiert wurde. Damit aber geschah genau das, was Schneidewind ähnlich auch im Blick auf den Begriff Nachhaltigkeit beschreibt: eine Fixierung auf Technologie und die „einfache“ Okkupierung des Begriffs New Work für alle möglichen Effizienzprogramme. Mit dem Ziel, immer noch mehr aus den Einzelnen herauszuholen und sie auszubeuten. Perfektioniert in der Entwicklung, dass New Work immer mehr Menschen zu immer größerer freiwilligen Selbstausbeutung antreibt. Bergmann hatte etwas anderes im Sinn – nur noch ein Drittel Erwerbsarbeit, dazu ein Drittel hochtechnologisch gesteuerte Selbstversorgung und vor allem: ein Drittel Arbeit, die ich „wirklich, wirklich will“.
Ich beschreibe das hier etwas ausführlicher, um deutlich zu machen, dass Schneidewind für mich eine Weiterführung und, wenn man so will, Aktualisierung des New Work-Ansatzes darstellt. Und das schöne Wort Zukunftskunst scheint mir geeignet, ein ähnliches „Mantra“ für die Transformationsdiskussion zu werden wie der Begriff des „wirklich, wirklich wollen“ in der engeren Debatte um Bergmanns Vision von Neuer Arbeit und neuer Kultur: Denn es löst (bei mir) etwas aus. Zustimmung, Hoffnung, Kreativität, Leichtigkeit, ja Humor.
Zukunftskunst also. Schneidewind schreibt:
Der Rückgriff auf den Kunstbegriff ist für unser Anliegen bewusst gewählt. Kunst als Ausdruck eines kreativen Handelns und Sich-in-der-Welt-Orientierens, spielt gerade in der Auseinandersetzung mit Transformationsprozessen eine besondere Rolle. In komplexen Veränderungsprozessen ist es notwendig, verschiedene Formen des Wissens und unterschiedliche Perspektiven kreativ aufeinander zu beziehen. (…) Rein instrumentelle und analytische Vernunft stößt hier an Grenzen. Die Große Transformation ist vielmehr auf Erzählungen und auch auf Experimente angewiesen, um ihre Wege zu finden. (39)
Schneidewind schlägt dabei auch die Brücke zu Harald Welzer und FUTURZWEI, die mich neben Bergmanns Vision von Neuer Arbeit in den letzten zehn Jahren mit am stärksten beeinflusst haben. Möglichkeitssinn statt Wirklichkeitssinn öffnet Zukunft. Dazu bedarf es Szenarien, die helfen, das Denken und Träumen zu üben und mich so im Kopf beweglich machen und halten – ganz anders als Katastrophen- und Schreckensszenarien, die nur eins machen: Angst. Und die lähmt und macht handlungsunfähig.
Ein letzter Gedanke. Schneidewind kritisiert, dass in der Nachhaltigkeitsdebatte das Individuum viel zu sehr in seiner Rolle als Konsument/in wahrgenommen und darauf reduziert wurde. Es braucht dagegen Menschen, die sich als Bürger/innen zugleich als Pionier/innen des Wandels verstehen. Schneidewind schließt hier an den wissenschaftlichen Beitrat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) und seinen Text aus dem Jahr 2011 „Welt im Wandel“ an:
Pioniere des Wandels gehen ‚beim sozialen Wandel voran (…) und (verbreiten) ein Bewusstsein seiner Chancen‘. Pioniere des Wandels ‚haben eine überzeugende Veränderungsidee und eine erste Idee für deren Umsetzung. Sie vernetzt sich und gewinnen wichtige Mitstreiter. So schaffen sie es, eine kritische Masse für die Veränderungen zu gewinnen. Danach entwickelnd sie die Idee in Schritten gemeinsam weiter. Die Veränderung von Routinen, der Rahmenbedingungen, die Bildung neuer Institutionen, ein Paradigmenwechsel schließen den Prozess ab.‘ (459f.)
In einem Satz: Pionier/innen des Wandels üben sich in der Zukunftskunst.
Schöner Beitrag und ein toller Buchtip! Allein dafür ein ganz herzlicher Dank!!! und ja: Die Parallelen sind da, trotz unterschiedlicher Richtung… 😉
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