Erinnern gibt Zukunft – Gedanken am Ende des Steinkohlebergbaus in Deutschland

Vortrag zur Ausstellungseröffnung am 19. November 2018 in Osnabrück im Gewerkschaftshaus

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

im Jahr 2000 tobte am Niederrhein ein heftiger Streit. Das Bergwerk Duisburg-Walsum musste einen neuen Plan entwickeln und zur Diskussion stellen, in dem der Kohleabbau für die nächsten Jahre geregelt werden sollte. Aufgrund des Bergrechts hatte das Bergwerk keine andere Möglichkeit, als den Abbau unter dem Rhein hindurch zu planen. In der Bevölkerung regte sich ein Widerstand, den der Bergbau bis dahin noch nicht gesehen hatte. Bergleute und ihre Familien auf der einen Seite fürchteten um ihre Arbeitsplätze, Immobilienbesitzer/innen fürchteten den Wertverlust ihrer Häuser, und viele hatten einfach nur Angst, dass der Abbau unter dem Rhein katastrophale Folgen haben könnte, sprich: Ortschaften überflutet werden könnten, wenn irgendetwas schief ging.

Ich selber war in dieser Zeit Gemeindepfarrer in genau der Kirchengemeinde am Rhein, unter der die Steinkohlevorkommen lagerten, die nun abgebaut werden sollten. Meine Kirchengemeinde besaß auch Gebäude, die von möglichen Bergsenkungen betroffen waren. Gleichzeitig war ich seit zehn Jahren nebenamtlich im KDA tätig und hatte schon lange mit dem Strukturwandel bei Kohle und Stahl zu tun. Und es gab dort einen Arbeitskreis Kirche und Kohle, in dem diese Fragen diskutiert wurden – dort saß auch Jörg Buhren-Ortmann, heute Arbeitsdirektor von RAG Anthrrazit Ibbenbüren.

Als wir vor einigen Wochen diese Ausstellung in der Zentrale der IG BCE in Hannover eröffnet haben, stand Jörg vor den Tafeln, ging hin und her und murmelte: „Mensch, jetzt bin ich schon ein Zeitzeuge!“ In diesem Moment wurde mir klar: Das gilt auch für dich.

Die Ausstellung endet 1997. Sie zeugt von Solidarität und Wertschätzung, die Bergleute über Jahre und Jahrzehnte erfahren haben. Sie zeigt auch das Engagement der beiden großen Kirchen, auch wenn hier auf den Tafeln vor allem die evangelische Kirche zu sehen ist. Ich war auch in Kamp-Lintfort in der Christuskirche, welche Frauen über Wochen besetzt haben. Ich war auch in Dinslaken-Lohberg dabei, 1996 an Heilig-Abend, 1000 Meter unter Tage, bei einem Weihnachtsgottesdienst. Solidarität, das war über die Jahre hinweg ein Wort, das immer wieder mit Leben gefüllt wurde. Die Tafeln zeigen einige Stationen dieser Solidarität in den Jahren zwischen 1992-1997. Drei Jahre später hatte sich dann der Wind komplett gedreht, das Ende des Steinkohlebergbaus wurde eingeläutet, und das Datum der letzten Zechenschließungen auf den 31. Dezember 2018 gelegt.

In NRW ist das ein Thema, seit Wochen. In Niedersachsen so gut wie nicht. Als ich Ende 2014 hierher nach Osnabrück kam, habe ich meine Geschichte mitgebracht und sofort angefangen zu überlegen, wie wir das Ende des Steinkohlebergbaus hier in der Region thematisieren können. Niemand hatte das auf der Fahne. Das hat mich schon gewundert, hat doch zum einen hier diese Region eine lange Steinkohlebergbautradition und auch die Zeche Ibbenbüren war einmal ein niedersächsisches Unternehmen.

Umso mehr freut es mich, dass es gelungen ist, diese Ausstellung ab heute hier im Gewerkschaftshaus zeigen zu können. Drei Aspekte, die mir besonders am Herzen liegen, möchte ich kurz benennen.

Zum einen bin ich der Meinung, dass es angemessen ist, den Bergleuten für ihre Arbeit Respekt zu zollen. Die Kumpel in unseren Zechen haben über weit mehr als hundert Jahre einen erheblichen Beitrag dazu geleistet, dass Kraftwerke Strom produzieren konnten und Stahl geschmiedet werden konnte. Nach dem Krieg fanden unzählige Geflüchtete hier Arbeit, ja eine neue Heimat. Später sogenannte Gastarbeiter. Der Bergbau war immer auch ein großes Integrationsprogramm. In den Turbulenzen im Jahr 2000 war für mich erschreckend zu sehen, wie eine Auseinandersetzung um eine Sachfrage umschlug in persönliche Angriffe. Aus der „bösen“ Kohle wurde der „böse“ Bergmann, eine Entwicklung, die in diesen Tagen auch wieder zu beobachten ist im Streit um die Braunkohle. Am Niederrhein hat seinerzeit nicht viel gefehlt und Bergbaubefürworter/innen und Bergbaugegner/innen wären mit Gewalt aufeinander losgegangen. Gott sei Dank konnte das verhindert werden, ich komme da gleich noch einmal drauf zurück. Aber damals wie heute konnte und kann beobachtet werden, wie sich in Sachfragen Bewertungen verändern, in der Folge Emotionen hochkochen, und es entsprechendes Augenmaß bedarf, um angemessen zu reagieren. Und angemessen heißt immer auch solidarisch.

Heute kocht das Kohle-Thema erneut hoch. Der Klimawandel ist endlich (!) in der Mitte der Gesellschaft angekommen, und es ist unsere Herausforderung, so viel Kohle wie möglich unter der Erde zu lassen. Und hier, damit bin ich bei meinem zweiten Aspekt, da frage ich mich selbstkritisch: Warum haben wir auch als KDA und Kirche diese Entwicklung nicht schon vor zwanzig Jahren mit im Blick gehabt? Spätestens seit dem Bericht des Club of Rome 1972 war die Linie doch vorgezeichnet, die heute unübersehbar eintritt. Im Nachhinein empfinde ich es ein Stück persönliches Versagen, das wir zwar schon damals von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung gesprochen haben – aber die Frage von Alternativen zum Kohleabbau haben wir im KDA erst in den Jahren nach 2001 in den Blick genommen. Und siehe da, wir stellten fest, dass es in Voerde die Firma Winergy gab, die damals einer der Weltmarktführer von Antriebskomponenten von Windkraftanlagen war. Wir hatten da einen komplett blinden Fleck. Für mich heißt das: immer wieder mal innehalten, einen Schritt zurücktreten und fragen, habe ich wirklich das Ganze im Blick?

Erinnern gibt Zukunft – so heißt diese Ausstellung. Und damit komme ich zum dritten und letzten Aspekt. „Kein Bergmann soll ins Bergfreie fallen“, so lautete der Slogan in den Jahren des Strukturwandels. Und dies ist umgesetzt worden. Nicht ohne Schmerzen für viele einzelne, aber aufs Ganze gesehen ist das gelungen. Strukturwandel braucht Solidarität, Zeit und Hoffnung, unter dieser Überschrift haben sich auch die Kirchen mit eingebracht, neben vielen anderen gesellschaftlichen Gruppen. Der Strukturwandel im Ruhrgebiet wurde nicht nur als große gemeinsame Herausforderung gesehen, sondern angegangen. Zwischen vielen Beteiligten herrschte bei allen Differenzen ein respektvoller und letztendlich vertrauensvoller Umgang. Solidarität wurde gefordert und gegeben, Zeit wurde gegeben und so Hoffnung gemacht. Als die Auseinandersetzung zwischen Dinslaken und Wesel im Jahr 2000 zu eskalieren drohte, wurde Jürgen Widera, KDA-Pfarrer in der Region und mir als einzigen noch zugetraut, die verfeindeten Gruppen zu einem vertraulichen Gespräch zu bitten. Sie kamen alle und das Gespräch führte zu einer Wende in den persönlichen Angriffen. Im Nachhinein läuft mir noch ein Schauer über den Rücken, damals habe ich gar nicht begriffen, was da gelang und warum es gelang: für mich sind hier die Stichworte: gegenseitige Wertschätzung der Personen und Vertrauen.

Und das macht mir Sorgen. Denn wir stehen heute, nicht nur bei der Braunkohle, sondern in vielen Bereichen unserer Gesellschaft vor erheblichen Veränderungen. Und ich befürchte, der Druck ist noch viel größer als seinerzeit: die Problemlagen sind komplexer und wir haben auch nicht mehr viel Zeit, wenn wir auf den von uns verursachten Klimawandel noch einigermaßen angemessen reagieren wollen. Doch wie soll das gehen in einer Zeit, in der persönliche Verunglimpfungen und Lügen an der Tagesordnung sind und Solidarität bei vielen nur ein romantisches Wort aus lange vergangenen Tagen ist? In mindestens drei großen Sektoren stehen in Niedersachsen dramatische Veränderungen an, die wir noch gestalten können: in der Energieversorgung, der Landwirtschaft und in der Automobilindustrie. Klimawandel, Digitalisierung und demographischer Wandel treiben uns uns alle vor sich her, um so mehr bedarf es Solidarität und Vertrauen, die Hoffnung schaffen kann. Gemeinsam können wir in unsrem reichen Land diese Herausforderungen bewältigen, da bin ich mir ganz sicher. Doch wo ist der gesellschaftliche Konsens, der zusagt, dass niemand ins Leere fallen wird? Für ihn müssen für eintreten und kämpfen. Das ist auch eine Aufgabe für die Kirchen, die ja von einer Botschaft her leben, die Hoffnung gibt und den Blick nach vorn öffnet, immer wieder. Und dann auch nach rechts und links, und sie kann die Hände ausstrecken und zum Vertrauen einladen. Ich erlebe es als KDAler immer wieder, dass uns Vertrauen entgegengebracht wird, und daher sage ich euch: Fordert uns auch an dieser Stelle heraus! Fordert ein, dass wir dazwischen gehen und verbinden.

Erinnerung gibt Zukunft. Die Erfahrungen, die seinerzeit am Niederrhein und anderswo gemacht wurden, zeigen mir die Richtung an: der Strukturwandel braucht auch heute Solidarität, die Hoffnung gibt. Und da uns die Zeit wegläuft brauchen wir Mut. Mut zur Solidarität. Dann können wir es schaffen, gemeinsam. 1997 hat es drei Jahre gedauert, bis sich die Stimmung im Blick auf den Bergbau radikal gewandelt hatte in der Bevölkerung. Heute stehen wir in diesem Herbst nach diesem Sommer vor vielleicht wesentlichen Jahren der Veränderung. Stimmungen, Einstellungen können sich verändern, die Erinnerung daran sollte uns ermutigen, heute für einen Wandel in Solidarität einzutreten.

Links:

2015 hatten wir die Gelegenheit, eine der letzten öffentlichen Grubenfahrten in Ibbenbüren machen zu können.

Hier gibt es einem Bericht zu dem Gottesdienst 1000 Meter unter Tage an Heilig Abend 1996.

Und auch in meinem Rückblick auf fast 25 Jahre nebenamtliche KDA-Arbeit im Kirchenkreis Dinslaken am Niederrhein gehe ich auf die Geschichte von Kirche und Bergbau ausführlich ein.

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