
Abwärts
Ein grauer, stürmischer Februarnachmittag.
Es dämmert schon.
Vor mir eine schmale Öffnung.
Mit den schweren Stiefeln stolpere ich hinein.
Vierzehn Menschen stehen schließlich eng gedrängt.
Die Abdeckung fällt herunter und schon geht es los.
Mit acht Meter in der Sekunde stürzen wir hinab.
Es ist dunkel.
Keiner redet.
Jeder ist mit seinen Gedanken beschäftigt.
Allmählich wird es wärmer.
Nach zwei Minuten bremst der Korb.
Wir sind auf 1300 Metern.
Tief unten im Nordschacht von RAG Anthrazit in Ibbenbüren.
Meine ersten Begegnungen mit dem Bergbau
Laut meinem Kalender bin ich am 24. Februar 1996 in Lohberg erstmals eingefahren, am Tag des Apostels Matthias. Ich weiß noch, wie mich die Größe der Anlage unter Tage faszinierte, die breiten Gänge und die Menge an Technik.
Damals war ich am Niederrhein als Gemeindepfarrer nebenamtlich im KDA tätig. Im Kirchenkreis Dinslaken gab es zwei Zechen, in Dinslaken Lohberg-Osterfeld und in Duisburg Walsum. Der Bergbau war noch allgegenwärtig, ebenso wie die Stahlindustrie. Der Strukturwandel an Rhein und Ruhr war im Gang und er sollte sozialverträglich durchgeführt werden. In unseren synodalen Arbeitskreisen saßen wie selbstverständlich Bergleute und Gewerkschaftler der IGBE (später fusioniert zu IGBCE). Die Bevölkerung hatte große Sympathien mit den Bergleuten, verschiedenste Solidaritätsaktionen wurden von vielen mit getragen, sichtbarster Ausdruck war vielleicht das „Band der Solidarität“, eine Menschenkette durchs Revier im Jahr 1997. Es gab regionale Arbeitskreise Kirche und Kohle und die GSA (Gemeinsame Sozialarbeit von Kirche und Bergbau) war äußeres Zeichen der engen Verbundenheit wie auch manche Barbarafeier. Vielleicht haben einige es bereits geahnt, aber so richtig vorstellen konnte sich damals niemand, dass es knapp zwanzig Jahre später vorbei sein sollte mit dem Steinkohlebergbau in Deutschland.
All das war wichtig für mich als Gemeindepfarrer, denn ich habe etliche Bergmänner zu ihren Geburtstagen besucht und viele von ihnen später beerdigt. Ihre Geschichten ähnelten sich, viele kamen alleine oder mit ihren Familien nach dem Krieg an den Niederrhein, angeworben von den Zechen, die immensen Personalhunger hatten.
Tief unten
Wir verlassen den Förderkorb.
Kein Mensch ist zu sehen, dafür Leitungen, Rohre, Förderbänder, Treppen…
Langsam setzen wir uns in Bewegung.
Mit der Grubenlampe leuchte ich voraus.
Es ist uneben, streckenweise rutschig.
Etwa drei Kilometer liegen vor uns.
Die Füße tun mir jetzt schon weh in den ungewohnten Stiefeln.
Es ist angenehm warm, um die 25 Grad.
Noch haben wir Luft.
Ab und zu machen wir Halt.
Wir bekommen die Belüftung erläutert.
Erfahren, wie lange der Notarzt im Ernstfall braucht.
Ich verliere jedes Zeitgefühl.
Der Schweiß fängt langsam an zu laufen.
Wir begegnen lange keinem Kumpel.
Nur die Maschinen sind zu hören und das Rattern des Förderbands.
Heilig Abend auf Lohberg-Osterfeld
Wenn ich an Heilig Abend 1996 zurückdenke, dann ist der erste Impuls immer: Das wäre heute überhaupt nicht mehr vorstellbar. Auf Lohberg findet auf der vierten Sohle in 845 Meter Tiefe ein Gottesdienst am 24.12. vormittags statt. Selbst der spätere Ministerpräsident von NRW und damalige Wirtschaftsminister Wolfgang Clement ist höchstpersönlich angereist. Ein Zeichen der Solidarität und der Verbundenheit in schwierigen Zeiten. Ein Signal soll von hier aus nach Bonn ausgehen, wo über die Zukunft der Zechen debattiert wird, wieder einmal. Noch ist die Unterstützung für den Bergbau vorhanden, in einigen Jahren wird sich der Wind radikal drehen.
Ein Bergmannschor singt, die Pfarrer Harrro Düx (evangelisch) und Wihelm Lepping (katholisch) zelebrieren die Andacht. Es gibt Grubenlampen für die anwesenden Vertreter/-innen mit der Bitte, diese mit in die Gottesdienste an Heilig Abend zu nehmen und von diesem ungewöhnlichen Gottesdienst zu erzählen. Im Gemeindehaus Rönskenhof steht die Grubenlampe in der Christvesper und anschließend in meinem Arbeitszimmer. Nach meinem Wechsel nach Osnabrück steht sie nun in meinem Büro.
Hier einige Zeitungsartikel, die ich noch in meinem Archiv gefunden habe, mit freundlicher Genehmigung der NRZ Dinslaken:
Pause
Irgendwann kommen wir zu ein paar Bänken.
Pause.
Helm runter, Schweiß abwischen.
Trinkflasche raus und ich nehme einen großen Schluck.
Komisch, es fühlt sich nicht so an als seien wir mehr als einen Kilometer unter Tage.
Wie ist das wohl Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr um Jahr hier unten zu arbeiten?
Hochachtung vor der Arbeit der Kumpel macht sich breit.
Nur kurz, es ist keine Zeit für tiefere Gedanken.
Unser Begleiter gibt schon wieder das Zeichen zum Aufbruch.
Die Auseinandersetzungen um den Rahmenbetriebsplan Walsum
2001 kippt die Stimmung. Jedes Bergwerk muss Rahmenbetriebspläne für den Abbau der nächsten Jahre einreichen und genehmigen lassen. Walsum hatte keine Chance, zwischen zwei anderen Bergwerken blieb in der Nordwanderung nur der Weg unter die Stadt Voerde und den Rhein. Das löste Angst in der Bevölkerung und eine ungeheure Gegenbewegung aus. Die Anhörung fand in einer riesigen Halle statt. Und ich war überrascht, als ich merkte, dass auch eher konservative Gemeindeglieder Tag für Tag dort saßen. Sicher, der Bergbau hat auch Fehler gemacht und dachte, dieser Plan wird auch wieder wie alle anderen zuvor ruckzuck genehmigt sein. Weit gefehlt, am Ende führte die Geschichte zur „Walsumer Verständigung“ von 2005 und zur vorzeitigen Schließung der Zeche.
Erschreckend war die aufgeheizte Stimmung in der Bevölkerung zwischen Befürwortern und Gegnern. Es gab Beschimpfungen und durch manche Familien gingen Risse. Plakate wurden von hüben und drüben abgerissen. Veranstaltungen gab es unzählige, in denen in der Regel aufeinander eingeprügelt wurde oder nur eine Gruppe zu Wort kam. Eine haben wir vom KDA organisiert und es sollte die einzige sein, in der einigermaßen sachlich miteinander gesprochen wurde (unter diesem Link findet sich mehr zu der ganzen Geschichte der Auseinandersetzungen um diesen Rahmenbetriebsplan). Es war vor allem die Angst vor der Absenkung des Rheins und dessen Folgen (höhere Deiche), aber auch der Wertverlust von Eigenheimen. Dazu meldete sich das Umweltbewusstsein. Naturschutzverbände machten auf die Folgen aufmerksam und Politiker/-innen sprachen von der Notwendigkeit, „die Schöpfung zu bewahren“. Interessanterweise spielte der CO2-Ausstoß und die Folgen für das Klima noch keine Rolle. Es wurde eher kurzsichtig, „egoistisch“, genauer aus einem nationalen Blickwinkel heraus argumentiert. Denn es war klar, wenn die Kohle nicht aus der heimischen Erde geholt wird zur Verstromung, dann kommt sie eben aus China – und wird dort unter menschlich und ökologisch noch ganz anderen Umständen gefördert. Doch das spielte alles keine Rolle.
Im Streb
Irgendwann sind wir am Ziel.
Vor mir ein Loch.
76 Zentimeter hoch.
Der Streb liegt vor uns.
Jetzt heißt es krabbeln.
Erst noch die Lampe am Helm befestigen.
Dann hinein in die Enge.
Rechts von mir und über mir das schützende Schild.
Links das Transportband.
300 Meter soll der Streb lang sein.
Die Kumpel machen diesen Weg pro Schicht mehrmals.
Kaum zu glauben.
Wir müssen uns nur 25 Meter hindurch winden.
Mir reicht das auch.
Dann heißt es hinsetzen.
Gegenüber an der Wand glitzert es.
Das ist sie, die Kohle.
Ein Moment der Ehrfurcht.
Millionen Jahre lag sie in der Dunkelheit, jetzt kommt sie ans Licht
Der Hobel kommt von links heran gerauscht.
Ein Riesending, vielleicht fünf Meter lang.
3 cm hobelt er ab pro Vorbeifahrt.
Nach einer Weile kommt er von rechts zurück.
Dann bewegt sich etwas.
Ich erschrecke kurz, dann merke ich:
Das Förderband gleitet nach vorn, 6 cm.
Und das Schild über mir ebenso.
10 Meter pro Tag fräst sich die Maschine durch den Berg.
Und hinter ihr fällt in kürzester Zeit wieder alles zusammen.
Wahnsinn.
Es ist nicht erlaubt, unter Tage Fotos zu machen. Auf Youtube gibt es aber ein Video aus dem Jahr 2002, das die Atmosphäre und die Abläufe gut wieder gibt.Das beeindruckende Abhobeln der Kohle im Streb wird ab 17:16 beschrieben.
(Warum das Video bei 17:20 und nicht am Anfang beginnt, keine Ahnung…)
Zehn Jahre KDA in der Lohnhalle des Bergwerks West
2002 feiert die Regionalstelle für den KDA Duisburg-Niederrhein ihr zehnjähriges Bestehen. Auf Einladung der DSK (Deutsche Steinkohle AG) findet die Feier in der Lohnhalle des Bergwerks West in Kamp-Lintfort statt. Ein deutliches Zeichen für die Verbundenheit zwischen Kirche und Kohle und das Engagement der Regionalstelle in diesem Bereich. Jürgen Schmude, damals Präses der EKD-Synode, hält den Festvortrag. Neben Horst Manja als 1. Bevollmächtigter der IG Metall Duisburg und mir als Vorsitzendem des Geschäftsführenden Ausschusses spricht noch Bernd Tönnjes, Vorstandsvorsitzender der DSK . Ein kleiner Auszug aus meiner Rede:
„Wir feiern heute in der Lohnhalle des Bergwerks West in Kamp-Lintfort. Sie haben sich schnell und überaus einsatzbereit bereit erklärt, uns den Raum und auch Ihre Mitarbeiter für diese Feier zur Verfügung zu stellen. Das hat uns sehr gefreut, zeigt es doch, dass z. B. zum Bergbau in diesen Jahren intensive Kontakte entstanden sind, die hier einmal exemplarisch Früchte tragen. Dabei ist es keineswegs so, dass der KDA dem Bergbau unkritisch gegenüber stände. Gerade in den heftigen Auseinandersetzungen um den Rahmenbetriebsplan des Bergwerks Walsum in den letzten beiden Jahren gelang es dem KDA, mit allen Konfliktparteien gleichermaßen im Gespräch zu bleiben. Diese Haltung hat dem KDA nicht nur Freunde, sondern auch Kritiker eingebracht. Aber in manchen Situationen muss man vermitteln, in anderen ohne Wenn und Aber Partei ergreifen, so wie es der KDA in vielen Auseinandersetzungen um Arbeit auch getan hat.
Also: wir sind gerne Ihrer Einladung gefolgt, heute hier in Kamp-Lintfort zu feiern. In einer Stadt, in der 1995 Bergarbeiterfrauen mehrere Wochen lang Zuflucht in der Christuskirche gesucht und gefunden haben.“
Rückmarsch
Wir kriechen zurück.
Das geht überraschend flott.
Aufrichten, strecken, durchatmen.
Das war schon eng …
Kurze Pause.
Dann geht es zurück durch die endlosen Gänge.
An einer Aufstiegstation machen wir halt.
Unser Begleiter stoppt das Förderband.
Wir steigen auf, legen uns auf den Bauch.
Mit einem kleinen Ruck geht es los und wir rasen durch den Berg.
Das macht Laune!
Zweimal heißt es umsteigen.
Stoppen, runter vom Band.
Ein paar Meter weiter bis zum nächsten laufen, hochklettern und weiter.
Das ist echt irre.
Viel zu schnell ist es vorbei.
Der Bergbau gerät aus dem Blick
Mit den Auseinandersetzungen um den Rahmenbetriebsplan und den Vereinbarungen zu den Zechenschließungen setzen zwei Entwicklungen ein, die für mich als KDAler dazu führen, dass der Bergbau nach und nach aus dem Fokus gerät.
Einerseits werden viele Kumpel durch die sozialverträgliche Abwicklung der Schließungen von hier nach dort versetzt. Sie wohnen nicht mehr dort, wo sie einfahren. Das lockert die vormals engen Beziehungen zu den Orten und auch die Verbindung Kirche und Kohle. Und die Schließung von Lohberg und Walsum gehen auch verhältnismäßig geräuschlos über die Bühne. In Lohberg entsteht unter Einbeziehung etlicher Gebäude ein Kreativpark auf dem ehemaligen Zechengelände, ein Naherholungsgebiet und ein Neubaugebiet. Der Schacht Voerde, zur Zeche Walsum gehörend, wird zurück gebaut, dadurch werden auch Flächen frei, die einst meine Kirchengemeinde an die Ruhrkohle verpachtet hatte. Unvergessen bleibt mir ein Geburtstagsbesuch, wo zum 85. Jubelfest eines Kumpels der Bergmannchor kommt und im Garten drei Lieder singt, mit Stolz und Wehmut gleichermaßen in der Stimme.
Andererseits ziehen wir im KDA am Niederrhein aus den Diskussionen die Konsequenz, uns mit anderen Formen Energieversorgung und -gewinnung zu beschäftigen. Eng damit verbunden ist die Frage nach Ersatzarbeitsplätzen, denn nicht jeder Bergmann kann z.B. bei der Tunnelbaustelle am Gotthardt eine neue Beschäftigung finden. So besuchen wir u.a. die Firma Winergy in Voerde, die rasant wächst und mittlerweile ein Beschäftigungsmotor in der Stadt ist mit ihren Antriebskomponenten für Windkraftanlagen.
Aufwärts
Müde und hungrig quetschen wir uns erneut in den engen Korb.
Abdeckung runter und es geht hinauf.
Es wird schnell kälter.
Und schon ist es vorbei.
Der Korb hält, wir steigen aus.
Dunkel ist es hier oben geworden.
Es regnet und ist ziemlich frisch.
Unsere Grubenfahrt hat ein Ende.
Es geht zurück zum Hauptgelände.
Foto, klar, das muss sein.
Stiefel aus, Helm runter, Gürtel ab.
Dann Imbiss, mit ungewaschenen Händen.
Vor der Dusche und der Heimfahrt.
Ende 2018
Neu kommt der Bergbau erst wieder Ende 2014 in mein Blickfeld, als ich nach Osnabrück ziehe und nun als Referent im KDA der hannoverschen Landeskirche arbeite. Ibbenbüren liegt nur ein paar Kilometer jenseits der nahen Landesgrenze. Ich erinnere mich daran, dass der heutige Arbeitsdirektor Jörg Buhren-Ortmann 1992 Gründungsmitglied des synodalen Fachausschusses des KDA im Kirchenkreis Dinslaken war. Und den Öffentlichkeitsbeauftragten Uwe Reichow kenne ich auch noch vom Niederrhein her. So entstand die Idee einer Grubenfahrt speziell für Menschen, die an verschiedenen Stellen in Kirche tätig sind, aber noch nie unter Tage waren. Erst später, als die Grubenfahrt längst ausgemacht war, stoße ich auf die reichhaltige Bergbautradition in Osnabrück und Georgsmarienhütte und besuche das Industriemuseum am Piesberg.
Noch einmal einfahren zu können, war für mich eine Reise in die Vergangenheit. Vieles stand mir wieder vor Augen, was ich seit 1992 erlebt habe, seit ich im KDA anfing. Zuhause habe ich nachgelesen in meinen Aufzeichnungen und fand auch die verschiedenen Zeitungsartikel. Während ich das nun aufgeschrieben habe, war ich beeindruckt von der Fülle der Ereignisse und Diskussionen, die sich für mich in der Begegnung mit dem Steinkohlebergbau und den Kumpels ergeben haben.
Die Grubenfahrt im Februar 2016 war eine der letzten Einfahrten für Besuchergruppen, da die Abbaugebiete demnächst noch weiter vom Nordschacht entfernt sein werden und nicht mehr erreicht werden können. Aber die Idee kommt auf, die Schließung der Zeche in Ibbenbüren 2018, die zugleich das Ende des deutschen Steinkohlebergbaus bedeutet, zum Anlass nehmen, dies aufzugreifen und mit der Tradition in Niedersachsen zu verbinden. Den Spuren finden sich sowohl in der Landschaft als auch in den Köpfen und Herzen – und auch die Zeche in Ibbenbüren gehörte einst zur Preussag bzw. zu TUI, also Konzernen mit niedersächsischer Geschichte. Wir werden diese Idee weiter verfolgen.
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Ja,wer einmal als Besucher untertage einfahren durfte, vergisst dieses Erlebnis wohl nie – und wird immer großen Respekt vor den Bergleuten und dem großen technischen Wissen, das mit dem Bergbau im Ruhrgebiet verbunden war, haben. Dieses Jahr wird der „Pott“ im alten Sinne nun endgültig Geschichte sein.
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