Es gibt viele Bücher, die beschreiben, wie furchtbar sich das Leben auf unserem Planeten – vielleicht, vermutlich, wahrscheinlich – entwickeln wird. Es gibt wenige Bücher, die trotz allem hoffnungsvolle Utopien beschreiben und damit ermutigen. »Gemeinsam! Eine reale Utopie. Wenningen 2025« gehört für mich dazu. Ich fand es lesenswert und die Autoren haben mir viele Gedankenanstöße gegeben. Von beidem soll hier die Rede sein. Daher: (K)eine Rezension.
a) Das Buch…
Steffen Andrea und Matthias Grundmann gehen von drei Annahmen aus und entwerfen von dort aus eine Utopie, wie sich das Leben in einem kleinem Ort im Jahr 2025 darstellt: Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommen, Bürgerbeteiligung und Peak Oil. Soweit ist das nichts Neues, das kann man auch anderswo nachlesen.
Neu ist dagegen die literarische Form: Erzählt wird die Geschichte konkreter (fiktiver) Personen. Teils als Fließtext, teils mit Briefen, Emails, Flugblättern, Interviews. So entsteht zum einen ein plastisches Bild, zum anderen können durch diesen »Kunstgriff« die Chancen und Risiken, Vor- und Nachteile des Prozesses verschränkt erzählt werden. In Sachbüchern geschieht dies in Regel nacheinander. So wehrt die Form jeglicher Euphorie oder Depression, je nachdem, in welchem Kapitel eines gegliederten Sachbuchs ich grade lese. Wirklichkeit ist komplex und kompliziert, das wird durch diese Erzählweise schön transportiert. Gerade weil die Schwierigkeiten und Rückschläge nicht verschwiegen werden, macht dieses Buch Mut, weil es nicht abgehoben daher kommt. Sicher kann ich an der ein oder anderen Stelle fragen, ob nicht doch zu optimistisch gedacht wird, ob die Annahmen stimmen, ob die Szenarien vielleicht zu einfach gedacht sind. Sei´s drum.
Ein Beispiel. Katrin schreibt in der Rückschau:
»Durch das Zusammenleben im miteinander Arbeiten hatte sich auch in ihrer Lebensgemeinschaft etwas verändert. Entgegen ihren Ängsten vor der Vereinnahmung im Zusammenleben ergaben sich ungeahnte Freiräume. Sie hatte immer gefürchtet, daß das gemeinschaftliche Leben mit anderen ihre Freiheit einschränken würde. Nun erfuhr sie tagtäglich, daß es genau andersherum war. Sie hatten alle mehr Freiheit gewonnen, es öffneten sich Handlungsmöglichkeiten und Gestaltungsspielräume, die sie vorher einzeln gar nicht hatten. Und auch ihre Vorbehalte gegenüber einer zwanghaften Kollektivierung, gegenüber Vereinnahmungen und Zumutungen, sie sich aus dem gemeinsamen Leben ergeben würden, hatten sich nicht bestätigt. Vielmehr schien es ihr, als ob das Zusammenleben weder ein klares Wir noch ein klares Ich bedeutet, sondern irgendwie dazwischen lang.« (S. 38)
Utopien wirken unecht, wenn sie entweder Horrorszenarien an die Wand malen oder sich im rosaroten Himmel aufhalten. Leben ist immer komplex und vollzieht sich trotz allem im Handeln von einzelnen Menschen, die in die Bezogenheiten ihrer Zeit eingebunden sind. Handlungsfähigkeit, Ermutigung zum Handeln, zum ersten, zweiten, dritten kleinen Schritt will das Buch vermitteln. Und das gelingt, weil ich mich in die Personen einfühlen kann. Und diese nicht eindimensional, sondern mehrstimmig, ja zum Teil gebrochen gezeichnet werden. Wie im richtigen Leben halt. Chancen und Risiken, Ängste und Hoffnungen, Erfolge und Enttäuschungen liegen eng nebeneinander und das wird hier anschaulich beschrieben.
In einem Schlusskapitel werden die Grundannahmen noch einmal kurz zusammengestellt.
Manches erinnert mich sehr an die Vision von Frithjof Bergmann (»Neue Arbeit, neue Kultur«):
»Wir befürchten, daß zu viele Menschen durch noch größere Bildschirme (…) und noch billigere Kleidung und durch Zwänge, die eine konsumistische Gesellschaft permanent erzeugt, in einem Zustand der Apathie bleiben, gehalten werden oder gelangen und auch diesem heraus nicht die Kraft entwickeln können, die es braucht, um die Fundamente der kapitalistischen Gesellschaft zu zerstören. (…) Eine reale Utopie muß auch der Aufgabe gerecht werden, die Gewohnheiten so zu verändern, daß keine Verstörung entsteht, sondern Neugier.« (S. 150)
b) …und die Kirche
Was mich als »Mann der Kirche« sehr nachdenklich macht: Kirche kommt nicht vor. Nirgends, weder als Akteur in den Veränderungsprozessen, noch nicht einmal als negative, dem »alten« Denken verhaftete Institution. Steht am Marktplatz in Wenningen keine Kirche? Selbst bei den Jahresfesten werden kirchliche Feiertage nicht einmal genannt (S. 98f.).
Mich macht das sehr nachdenklich, ja es treibt mich um. Sind wir zu sehr mit uns selbst und unseren permanenten, kraftraubenden (ja, notwendigen!) Struktur- und Anpassungsprozessen beschäftigt? Sind wir (noch) ein gesellschaftlicher Akteur? Wir reden von Nachhaltigkeit und Bewahrung der Schöpfung und da passiert auch sehr viel, landauf, landab. Eine Vielzahl von Initiativen existieren im kirchlichen Raum die sich mit Fragen von »Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung« befassen. Gerade deswegen ist es mir bei der Lektüre so ins Auge gesprungen:
Warum wird »Kirche« nicht wahrgenommen? Warum kommt sie in ihrer Vielfältigkeit nicht mit einem Wort vor? Weder als Institution, noch als Gebäude, noch als handelnde Personen? Noch nicht mal negativ, als »Bremser«. Das gibt mir sehr zu denken. Ich meine das nicht vorwurfsvoll oder kritisch, wenn überhaupt, dann selbstkritisch. Es ist viel eher eine offene Frage an die Autoren von Gemeinsam!, eine neugierige Frage: Warum kommt Kirche nicht vor in eurem Buch?
Zwei Möglichkeiten fallen mir ein:
a) es ist ein bewusstes Stilmittel (dann wäre ich auf die Begründung gespannt) oder;
b) die Autoren sind nicht auf den Gedanken gekommen, weil Kirche in ihrem Erfahrungsraum keinerlei Rolle spielt.
Daher interessiert mich dies: Wie seht ihr das? Aus eurer Erfahrung? Wie schätzt ihr das ein? Spielt »Kirche« ein Rolle? Oder auch: Könnte »Kirche« eine Rolle spielen? Noch schärfer gefragt: Was erwartet, erhofft ihr euch von »Kirche«? (»Kirche« hab ich jetzt mal in Anführungszeichen gesetzt, es geht mir nicht um irgendeine »Ebene« von Kirche, ich möchte das so offen wie möglich fragen.)
Ich bin fest davon überzeugt, dass es kirchliche Gruppen gibt, die sich an solchen Projekten und an der Diskussion beteiligen. Beim Bedingungslosen Grundeinkommen und bei vielen Aktionen, die sich der »Bewahrung der Schöpfung« verpflichtet sehen, weiß ich es aus Erfahrung. Und es kann auch nicht anders sein.
Denn Kirche lebt von der Hoffnung. Hat eine Utopie und mächtige Bilder in ihrer Tradition. Verblassen sie? Nicht nur als hauptamtlichen »Mann der Kirche« interessiert mich das, auch als Theologen und »ganz normalen« Christenmenschen.
Erschienen im Packpapier Verlag. 10 Euro.
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Hallo Matthias!
Vielen Dank für deine kleine Rezension. Wo bleibt die Kirche? ist deine Frage. Und diese Frage ist insofern meine Frage, da ich nicht verstehen kann, warum die Kirche von sich aus nicht mehr den Kontakt zu gemeinschaftlichen Lebensformen sucht. Wo bleibt die Kirche? fragte ich Anton Rotzetter, einen Kollegen von dir, auf einer Podiumsdiskussion, als ihm aufgefallen war, dass seine christlichen Überlegungen sich mit meinen utopischen Vorstellungen decken. Warum bekommen Gemeinschaftssuchende nicht leer stehende Kirchengebäude zur Verfügung gestellt? Warum macht diese Institution nicht bei jeder Gelegenheit darauf aufmerksam, dass es Leben in umfassender Verantwortung in Lebenszusammenhängen, wie Ökodörfern, Kommunen, Wagenburgen konkret gibt? Sollten wir, als Gemeinschaftsinteressierte nicht automatisch davon ausgehen dürfen, dass die Kirche unsere Verbündete ist und ihr ganzes auch kommunalpolitisches Gewicht für die Gemeinschaftsszene verwendet? Hier kommen nämlich, welche Worte wir auch immer verwenden und welche Religion wir auch immer gut heißen, die Menschen zusammen, mit denen eine Figur wie Jesus seine Protestmärsche startete. Menschen, die sich aufmachen, um den Nächsten zu lieben, die Natur, den Mitmenschen, den Kontrahenten, den Gegenüber und sich selbst. Menschen, die sich aufmachen, sich von Institutionen zu befreien. Menschen, die ihr Handeln in einen Bezug setzen, zur Umwelt – kritisch, wach, bohrend, neugierig, politisch.
Wo bleibt die Kirche? Das frage ich auch.
Herzliche Grüße
Steffen Andreae
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