Ich bin zufällig auf dieses Buch gestoßen. Irgendwer postete auf Facebook, das es lesenswert sei. Neugierig guckte ich nach und als ich sah, das Trabold in Osnabrück lehrt, habe ich es sofort bestellt. Ich habe es verschlungen, obwohl es schwer verdaulich ist. Was aber nicht am Autor, sondern am Inhalt liegt.
Trabold nimmt eine Unterscheidung zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus vor. Dies scheint mir sehr hilfreich, gegenwärtige Phänomen und Entwicklungen in den Blick nehme zu können. Seine These lautet, dass der Kapitalismus dabei ist, die Demokratie zu unterwandern und die Macht zu übernehmen. Dazu zeichnet er die Geschichte des Kapitalismus nach, analysiert das Wesen von Macht und Demokratie und beschreibt die vielfältigen Instrumente, mit dem das System des Kapitalismus nach der Macht greift.
Kaum etwas ist neu in diesem Buch, aber die Zusammenschau macht eindringlich klar, wie weit es Neoliberalismus und Finanzkapitalismus gebracht haben. Vor ein Jahren las ich Naomi Kleins wütendes Buch: „Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus“. Sie zeichnet dort die schier unglaubliche Geschichte des Neoliberalismus nach. Ich war entsetzt und wurde (auch) zornig. Trabolds Buch ist dagegen staubtrocken, diagnostiziert und beschreibt nüchtern. Die Langzeitwirkung dürfte höher sein. Die Gesamtschau hilft, verstreute Einsichten zu bündeln. Natürlich wird es reichlich Gelegenheiten geben, im Detail Kritik zu üben. An der Richtung insgesamt dürfte aber kaum einen Zweifel bestehen. Wer mit offenen Augen durch unsere Zeit geht, wird nicht umhin kommen als Trabold zuzustimmen. Es sei denn, mann/frau gehört dem kleinen Kreis derer an, die vom System nachhaltig profitieren.
Ich will keine „klassische“ Rezension schreiben, sondern einige Gedanken benennen, die durch die Lektüre in mir wach gerufen wurden.
Zeitdiebstahl
Trabold beschreibt u.a. die Masche des Kapitalismus, uns Menschen die Zeit zu stehlen – damit wir nicht zum Nachdenken und damit zur Abkehr vom Dauer-Shoppen und Konsumieren kommen. Der Kapitalismus knüpft hier geschickt an die Sehnsucht des modernen Menschen an, die Hartmut Rosa so beschreibt:
„Das Leben in all seinen Zügen, seinen Höhen und Tiefen und seiner Komplexität auszukosten wird zum zentralen Streben des modernen Menschen.“ (Rosa bei Trabold, 363)
Das führt zu einem Zwang permanenter Selbstreflexion. Diese kann sich im Rahmen des Systems bewegen oder denselben überschreiten. Dazu muss aber zunächst die eigene Verwicklung erkannt werden. Innerhalb des kapitalistischen Systems gibt es nur drei Verwendungszwecke für Zeit: Arbeitszeit, Konsumzeit und physische Erholung. Denn:
„Der Kapitalismus hat ein massives Eigeninteresse daran, dass Menschen so viel Zeit wie möglich für Produktion und Konsum aufbringen, sich also Dingen widmen, die den Wirtschaftskreislauf in Schwung halten. (… Er stiehlt) dadurch den Menschen aber die (…) Zeit, die sie verwenden könnten, sich an demokratischen Prozessen zu beteiligen oder der Politik und der Wirtschaft auf die Finger zu schauen.“ (361f.)
Hier liegt die perverse Verwirrung der Realität: Da wir uns ein erfülltes Leben im Diesseits wünschen, nutzen wir die Zeitersparnis, die uns die verbesserten Produktionsformen bieten nicht zum Müßiggang, sondern um noch mehr zu produzieren oder zu konsumieren. Als gäbe es nichts anderes mehr auf der Welt, was zählt.
Verhinderung von Bildung als Kernproblem
Der Kapitalismus hat es weit gebracht in der Vernebelung der Wirklichkeit. Unser Bildungswesen, so Trabold, vermittelt Wissen, aber keine Bildung mehr. Ein Prozess, den ich Ende der siebziger Jahre selbst am Ausgang meiner Schulzeit miterlebt habe. Ich habe im „roten“ Hessen noch an meiner gymnasialen Oberstufe vieles von dem kennengelernt, was Trabold als sinnvoll erachtet, vor allem: Kritisches Denken zu lernen. Drei Jahre später, nach der „geistig-moralischen Wende“ unter Helmut Kohl hat mein Bruder an der gleichen Schule Abitur gemacht. Seine Oberstufenzeit war schon deutlich naturwissenschaftlicher orientiert, d.h. die Vermittlung von Wissen im Bereich Physik, Chemie, Mathematik wurde nun höher bewertet im Sinne der Vorbereitung auf ein Studium als ich es erlebt hatte. Heute interessiert Vernunft kaum jemanden mehr. Rankings sind alles was zählen, auch im Bildungswesen. Die Diskussionen um TTIP z.B. werden mit vielen Sachargumenten vorgebracht, aber weitgehend ignoriert. Aber Schwarzwälder Schinken aus Ohio? Da schlagen die Emotionen hoch, das bewegt, nicht die internationalen Schiedsgerichte. PEGIDA ist deswegen so „gefährlich“ weil es Emotionen berührt und schürt. Schwer zu kontrollieren. Gegen Vernunft hilft Geld und Propaganda. Gegen Emotionen? Beschwichtigung oder Einschüchterung. Hauptsache, Ruhe. Angst lässt sich nur schwer ignorieren. Vielleicht unterdrücken. Oder mit Konsum still stellen.
Dämonie, Kirche, Zeitgeistanfälligkeit
Trabold beschreibt in seinem Buch Mechanismen „des“ Kapitalismus, so dass man den Einruck bekommen kann, hier handele eine „Person“. Das ist ganz sicher nicht so, auch wenn viele Einzelpersonen und Einrichtungen ein Interesse daran haben, das heutige vorherrschende System es Kapitalismus beizubehalten. Dennoch beschlich mich das Gefühl, das hier ein System beschrieben wird, in dem eine Geisteshaltung personale Züge zu tragen scheint.
Neu ist das nicht. Während der Arbeit an meiner Dissertation las ich bei Dorothee Sölle in ihren Schriften aus den achtziger Jahren vom „militärisch-industriellen Komplex“, der ebenfalls dämonische Züge zu tragen scheint. Auch aus den Kirchen des Südens werden solche Fragen bis heute immer wieder gestellt. Im Vorfeld der Globalisierungssynode der Evangelischen Kirche in Rheinland wurde lange heftig um den „Status“ des kapitalistischen Systems gestritten. Gibt es eine kritische Ko-Existenz oder hat das System solch zerstörerische Auswüchse angenommen, dass nur noch entschieden „Nein“ gesagt werden kann? (Für die Insider: der Streit ging um die Frage „status confessiones“ oder „processus confessones“.) Die Synode entschied sich für die Ko-Existenz, wohl wissend, dass ein Nein einen „Ausstieg“ nach sich ziehen müsste, der schon rein praktisch nicht zu gestalten ist.
Genau das aber berührt das Problem, dass an vielen Stellen das Verhältnis von Kirche zur Ökonomie ungeklärt ist. Traugott Jähnichen hat in einem Aufsatz überzeugend dargelegt, dass der deutsche Protestantismus seit Jahrzehnten zeitgeistanfällig ist, und daher aktuell in der Gefahr der Ökonomisierung steht. (Die Parallelität von gesellschafts- und kirchenreformerischen Diskursen im 20. Jahrhundert : ein Beispiel der Zeitgeistanfälligkeit des deutschen Protestantismus? In: Karle, Isolde (Hrsg.): Kirchenreform. Interdisziplinäre Perspektiven. )
Doch was folgt daraus? Vielleicht dies: Die Unterscheidung zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft ist auch für den innerkirchlichen Diskurs hilfreich, um die eigene Verstrickung ins System zu analysieren und Wege zu beschreiten. Ansätze gibt es an vielen Stellen, so im Bereich des Klimamanagements oder des ethischen Investments.
Die politische (Macht-) Dimension der Care-Ökonomie
Die Unterscheidung zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus ist zum einen als These hilfreich, weil ich so die gegenwärtige Wirklichkeit analysieren kann, innerkirchlich wie gesamtgesellschaftlich. Zum anderen erlaubt sie, die Anliegen von Care-Ökonomie oder einer am sich am Haushalt orientierenden Marktwirtschaft sinnvoll in den Diskurs um „anständiges Wirtschaften“ (so ein Buchtitel von Hans Küng) einzubringen, oder anders gesagt ins Nachdenken über das gute Leben aller. Der monolithisch wirkende Block der gegenwärtigen Kapitalismusdiskussion kann so aufgebrochen werden, die Kurzsichtigkeiten beschrieben und Alternativen eingebracht werden.
Trabold deutet die Sinnhaftigkeit von Care-Ökonomie an. Allerdings kommt mir etwas zu kurz, die politische Dimension und das Machtpotential zu beschreiben, die hier enthalten ist. Die feministische Ökonomin Mascha Madörin hat dies in einem aktuellen Interview wieder einmal auf den Punkt gebracht:
„Ich beobachte, dass Care-Ökonomie meistens nur als eine soziale Frage, nicht als eine ökonomische diskutiert wird. Das hat zur Folge, dass Care-Arbeit als zentraler Begriff verschwindet, insbesondere dann,wenn es sich dabei um unbezahlte Arbeit handelt. (…)
Die Menschen leisten definitiv mehr unbezahlte Arbeit als bezahlte. In der Schweiz macht die unbezahlte Arbeit, in Marktlöhne umgerechnet, mehr aus als das gesamte Arbeitnehmerentgelt, wie es in der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts erfasst ist. Frauen verrichten insgesamt fast siebenmal mehr unbezahlte Arbeit als es bezahltes Arbeitsaufkommen etwa im Gesundheitssektor gibt. Hinzu kommt die bezahlte Care-Arbeit. Allein schon diese Dimension macht deutlich, welche Aufgabe vor uns liegt. (…)
Die Care Ökonomie geht davon aus, dass Sorgearbeit ein substanzieller Teil der Produktion der materiellen Bedingungen des Lebens ist und damit des Lebensstandards. Meine Berechnungen zeigen, dass der Wert der unbezahlten Arbeit in den Haushalten größer ist als deren Ausgaben für den Konsum! US-Statistiken zeigen beispielsweise eine dreifache Abwärtsspirale für die working poor, die trotz Arbeit armen Menschen: Erstens sinkt das Haushaltseinkommen der Geringverdiener, zweitens gehen die staatlichen Ausgaben für die Daseinsvorsorge, für Schulen oder Krankenhäuser, zurück, all das also, was den Haushalten gratis vom Staat zur Verfügung gestellt wird. Und vor allem steht drittens den Armen immer weniger Zeit zur Verfügung, um für das Wohlbefinden der Haushaltsmitglieder, um für das Wohlbefinden der Haushaltsmitglieder, Erwachsener wie Kinder, zu sorgen. Denn die Menschen müssen, um ein bestimmtes Einkommen zu erzielen, immer mehr Erwerbsarbeit leisten. Die Folgen dieser dreifachen Abwärtsspirale sind noch gar nicht absehbar.“ (https://www.freitag.de/autoren/ulrike-baureithel/es-geht-um-mehr-als-markt-und-staat)
Die Care-Ökonomie ist aus meiner Sicht ein Blickwinkel, der mit dazu beiträgt, die Einseitigkeiten des vorherrschenden Systems nicht nur aufzudecken. Mit der Care-Ökonomie eröffnet sich ein weiter Bereich des Wirtschaftens, der eben weder kapitalistisch noch marktwirtschaftlich sinnvoll beschrieben und gestaltet werden kann. Mit Ina Praetorius und anderen zusammen bin ich der Meinung, dass das Bild des Haushalts hier als Leitbild geeignet ist. Im Rahmen des Haushalten finden auch marktwirtschaftliche Aspekte ihren sinnvollen Platz. Aber nicht umgekehrt.
Meine Nähe zu Ina Praetorius macht vielleicht am besten dieser Blogbeitrag deutlich: https://blogmatthiasjung.wordpress.com/2013/10/06/erntedank-care-okonomie-und-ein-haufen-gold/. Der Gedanke vom Haushalt, der ursprünglicher ist als der Markt, findet sich in dieser Thesenreihe unter Punkt 8: https://blogmatthiasjung.wordpress.com/2012/10/22/10-theologische-thesen-zu-gegenwart-und-zukunft-der-arbeit/. Oder ausführlicher in meiner Dissertation: Entgrenzung und Begrenzung von Arbeit, S. 213-239
Die positive Rolle von Religion(en)
Trabold verfolgt die Frage, wie sich die Entwicklung hin zum Kapitalismus auf die Demokratie auswirkt. Logischerweise werden so andere Fragestellungen ausgeblendet. Zum Beispiel wäre es lohnend, die These von der Doppeldeutigkeit von Religion stärker zu beleuchten. Einerseits deutet Trabold an, dass auch religiöse Führer (in aller Regel Männer) Macht über Menschen ausgeübt haben und ausüben. Andererseits stellt er fest, dass der Aufstieg der Moderne und des Kapitalismus ohne die Wende von der Jenseits- zur Diesseitsorientierung nicht möglich gewesen wäre. Die mögliche positive Rolle von Religion – und ich schaue noch mal spezifischer aus Sicht der Kirche(n) – im Zuge der Wiedergewinnung der Demokratie wird nicht beleuchtet. Nur ein Schlaglicht: in der PEGIDA-Diskussion wird die These diskutiert, ob das Erstarken dieser Bewegung insbesondere in Ostdeutschland auch mit der schwachen Rolle der Kirche(n) zusammenhängen könnte. Pointiert z.B. aktuell von Holger Pyka:
„In Dresden sind heute keine 300, sondern 18.000 Pegida-Anhänger aufmarschiert. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie dort keine Kirchen mehr haben, die das Licht ausmachen können.“
http://kirchengeschichten.blogspot.de/2015/01/erfolgreich-quergestellt-oder-als-meine.html
Religion wird in unserer Gesellschaft zur Zeit – aus meiner Sicht – vor allem aus zwei Zerrbildern betrachtet: einem erlahmten, langweiligen landeskirchlichen Christentum und einem aggressiven Islam. Beides greift viel zu kurz, weil die positiven Aspekte, auch und gerade im Bereich Bildung und kritischem Engagement nicht zur öffentlichen Geltung kommen. Leider beobachte ich auch, dass sich – zumindest die evangelische – Kirche im Zuge der Spar- und Strukturdiskussionen aus dem Bereich der Medien zurückzieht. Aus meiner Sicht ein fataler Fehler, Trabold zeigt auf, wie die 4. Macht nach und nach ebenfalls vom Kapitalismus vereinnahmt wird und unabhängige Medien zurückgedrängt werden. Manachmal habe ich das Gefühl, „wir“ als Christinnen und Christen, als Kirche sind uns der „Macht“ die wir haben und die wir einsetzen (können), nicht oder kaum bewußt.
Die politische Chance von Social Media
Ein letzter, kritischer Gedanke. Merkwürdigerweise blendet Trabold die Chancen komplett aus, die sich mit der Nutzung der sozialen Netzwerke eröffnen. Insgesamt spielt die Digitalisierung unserer Wirklichkeit im Buch kaum eine Rolle.
Natürlich ist leicht nachweisbar, dass der Kapitalismus auch hier versucht, seine Ideologie zu verbreiten. Und natürlich hat er mehr finanzielle Möglichkeiten als andere, kapitalismuskritische oder marktwirtschaftlichfreundliche Institutionen. Man schaue aber nur mal die Kommentare unter dem Facebookauftritt der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Sie strotzen von Gegenargumenten. Es gibt sie also, die Menschen, die denken. Und sie vernetzen sich. Ich selbst habe aus den Diskussionen und „Gesprächen“ über die sozialen Medien wesentliche und wichtige Einsichten erhalten, die mir sonst verwehrt geblieben wären. Das Netz ist in seiner Vielfalt trotz aller Probleme mit Datenschutz und Cyberattacken ein guter Ort und ein hervorragendes Instrument, zur Bildung im Sinne Trabolds beizutragen. Schade, dass dies von ihm nicht stärker betont wird. Aus meiner Sicht ein klares Manko. Aber das einzige.
P.S.
Der Text ist parallel mit einem zweiten Beitrag entstanden, in dem es stärker um einen Gedanken aus Buch von Harald Trabold ging, den Zeitdiebstahl. Er ist noch nicht ganz fertig, erscheint am Wochenende.
Da ich das Buch ebenfalls momentan lese, finde ich diese Anmerkungen anregend. Vielleicht bieten die Religionen einen Ausweg („Laudato si“ von Papst Franziskus spricht ja die zentralen Probleme an), auch wenn gerade der Protestantismusja ein Geburtshelfer der weltlichen Religion des Kapitalismus war, worauf Trabold ja auch hinweist. Ein anderer Ansatz, der m.E. einen Ausweg bietet, ist dass die Tugenden des Kapitalismus (Habgier, Handlungen am eigenen Vorteil ausrichten) im persönlcihen Umgang als völlig intolerable betrachtet werden und die Durchökonomisierung aller Bereiche deshalb als starker Verlust an Lebensqualität empfunden wird.
Zu dem Aspekt der Habgier, die fürher mal eine Todsünde war, und heute als Tugend gepredigt wird, habe ich mal ein kleines Lied gemacht (Achtung: in einer Fremdsprache, die Ihnen als Theologe aber vielleicht nicht ganz fremd ist; und es gibt auch deutsche Untertitel):
LikeLike