Das Buch ist nicht neu. Erschienen 2012. Mehr durch Zufall lese ich es in diesen Tagen und Wochen. Und das ist gut so. Es hilft mir, in diesen aufgewühlten Zeiten zu unterscheiden. Um dies zu unterstreichen, reicht es, ein paar Zitate nebeneinander zu stellen:
Die Eigenschaft Gottes, mit der Gott sich im Koran am häufigsten beschreibt, ist die Barmherzigkeit. Das arabische rahme (Barmherzigkeit) leitet sich von rahim (Mutterleib) ab. Die Bedeutung von Barmherzigkeit gewinnt dadurch eine physische und emotionale Konnotation mütterliche Liebe. (32)
Es ist Gott also wichtig, dass man ihn als den absolut Barmherzigen, ja als die Barmherzigkeit selbst erfährt. Es ist erstaunlich, dass dieser Gott, der absolut Barmherzige, in der islamischen Theologie und im Volksglauben kaum wahrgenommen wird! (36)
Während der Koran es kategorisch ablehnt, Traditionen unhinterfragt zu übernehmen, erleben wir in der gegenwärtigen islamischen Welt eine Überbewertung von tradierten Lehrmeinungen, die eine eigene Autorität erlangt haben, die manchmal über die des Koran gestellt wird. (42)
Sünde ist kein juristischer Begriff, sondern ein Ausdruck einer inneren Unausgeglichenheit des Menschen, die den Menschen daranhindert, Liebe und Barmherzigkeit zur Wirklichkeit zu machen. (68)
Der Gedanke, Gott habe die Menschen erschaffen, weil er verherrlicht oder angebetet werden wolle, macht aus Gott einen von Minderwertigkeitesgefühlen geplagten, egoistischen „Diktator“, der auf der Suche nach sich selbst ist. Das ist dann aber nicht mehr Gott. (70)
Wie soll ich jemanden aufrichtig leiben, der mir Angst macht?! (64)
Das Kriterium der Religiösität ist nicht die Zahl der Gebete, die Länge des Bartes oder das Tragen eines Kopftuchs, auch nicht, ob man Sunnit oder Schiit ist, ob man zu dieser oder jener Denkschule gehört. Das Kriterium ist, ob man an die Würde, die Freiheit und die Vernunft des Menschen glaubt, – also an das Menschsein. (101f.)
(Viele islamische Gelehrte) maßen sich an, sich an Gottes Stelle zu stellen und Urteil über andere Menschen zu fällen. In Diskussionen sind sie meist aggressiv und überheblich. Wenn sie über den Islam sprechen, entsteht der Eindruck, die machten eine Kampfansage. Ihre Mimik und ihre Stimme sind oft hassgeladen. Die Rede von der Hölle und dem Zorn Gottes überwiegt. Diese Menschen haben es versäumt, ihre Herzen der Liebe und Barmherzigkeit zu öffnen. (107f.)
Offenbarung ist die Offenbarung der barmherzigen Liebe Gottes, die als wirkende Liebe dem Menschen in seinem Menschen zugewandt ist. Durch sein barmherziges Handeln bezeugt der Mensch die Barmherzigkeit Gottes und lässt sie Wirklichkeit werden. (112)
Wenn unter Scharia ein juristisches System verstanden wird, das alle Lebensbereiche erfassen und genau vorschreiben soll, in welcher Situation was zu tun ist, dann steht das in klarem Widerspruch zum Islam. Wieso eigentlich? Weil es nicht Aufgabe von Religionen, auch nicht des Islam ist, Gesetze zu erlassen. Das eigentliche Anliegen des Islam ist, dass der Mensch sich vervollkommne, um die Gemeinschaft Gottes zu erlangen. (116)
Wir stehen also vor zwei Definitionen des Glaubens, einer statischen und einer dynamischen. Die statische Definition sieht im Glauben lediglich das Bekenntnis tu einer Anzahl von Glaubenssätzen. Entweder man bekennt sich dazu oder nicht. (…) Muhammad selbst hab den Glauben und die Frage nach der Glückseligkeit nicht vom Handeln des Menschen getrennt verstanden. (…) Mit dem guten Handeln meint der Koran nützliches Handeln in der Gesellschaft. Es geht also nicht darum die Scharia als juristischen Gesetz einzuführen. Worauf es ankommt, ist, dass das jeweilige Handeln nützlich und aufrichtig ist und vom Charakter des Menschen zeugt. (152f.)
Religionen sind nicht da, um Gesetze zu verkünden. (…) Religionen sind da, um den Menschen vom Egoismus zu befreien, ihn zur Empathie und Nächstenliebe zu rufen, sein Menschsein hervorzuheben, sein Inneres zu vervollkommnen. (154)
In der Einleitung beschreibt Korchide seinen biografischen Werdegang zwischen Beirut, Saudi-Arabien, Österreich und Deutschland. Das fand ich ebenfalls sehr aufschlussreich.
Bei der Lektüre hatte ich an vielen Stellen das Gefühl, dass über Gott und die Welt so geredet wird, dass ich als Christ den Formulierungen voll und ganz zustimmen kann. Ein ähnliches Gefühl kenne ich aus dem christlich-jüdischen Gespräch. Fundamentalisten gibt es allerdings hüben wie drüben. Und auch unter uns. Die Herausforderung aus meiner Sicht ist daher nicht die Bekämpfung des Islams, sondern der fundamentalistisch verkürzte Sicht auf unsere Welt. Die gibt es übrigens auch in politischen und ökonomischen Ideologien.
Mich hat der Autor (Mouhanad Korchide) auch tief beeindruckt. habe aber das Buch nicht gelesen, sondern einige Vorträge von ihm auf Youtube. Und ich finde auch: Als Christ kann ich seinen Formulierungen voll und ganz zustimmen. Da gibt es sicher mehr Übereinstimmungen als mit anderen Christen. Die Unterschiede jedenfalls sind unbedeutend.
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