Von New Work, Neuer Arbeit, ist mittlerweile allerorten die Rede. Wer New Work bei Google eingibt, bekommt 140 Millionen Treffer, bei Neuer Arbeit sind es gar 186 Millionen. Der Begriff wird verwendet, um noch mehr Effizienz aus Mitarbeitenden herauszuholen. Andernorts wird Neue Arbeit als Heilmittel gegen Überlastungen in der heutigen Arbeitswelt verstanden. Zwischen diesen Polen gibt es buchstäblich alles und jedes. Vielfach wird nach der inneren Motivation in der (Erwerbs-) Arbeit gefragt. Es geht um die Gestaltung von Erwerbsarbeitsplätzen, an denen Menschen Arbeit leisten können, die sie lieben und die ihnen entspricht und die in Übereinstimmung von Arbeit und dem restlichen Leben steht (Work-Life-Balance, Work-Life-Blending). Wer heute von Neuer Arbeit spricht, muss in dieser Begriffsverwirrung benennen, was er oder sie darunter versteht. Dieser Text ist mein Versuch.
Ich habe den Begriff bei Frithjof Bergmann[1] kennengelernt, der für viele und zu Recht als Urvater von New Work gilt. Ausgehend von seinen Erfahrungen in der Autostadt Detroit, in der in den neunziger Jahren unzählige Erwerbsarbeitsplätze verloren gingen, zeichnet Bergmann das Bild eines Lohnkapitalismus, der Menschen zum einen in entfremdete Arbeit zwingt und sich andererseits als alternativlos versteht. [2]
Dagegen setzt er die Suche nach Arbeit, die Menschen „wirklich wirklich wollen.“ Seinerzeit war der Gedanke neu und revolutionär. Bergmann schwebte eine Drittelung der Arbeit(szeit) vor: Ein Drittel Erwerbsarbeit, ein Drittel Versorgungsarbeit auf höchsten technischem Niveau (er entwickelte die Vision, dass der 3D-Druck geeignet sein könnte, der Massenproduktion etwas entgegenzusetzen) und ein Drittel Arbeit, die ich „wirklich, wirklich will“.[3]
Bergmanns Vision von einem Arbeitssystem, das jenseits des entfremdenden Lohnkapitalismus Menschen wieder mit ihrer Arbeit vereint und zugleich ihre Sozialität wieder entdecken lässt (weil selbstbestimmte Arbeit und Selbstversorgung nur gemeinschaftlich, im Nahraum zu verwirklichen sind), hat eine hohe Anziehungskraft. „Das hat mich ja noch nie jemand gefragt!“ ist oft zu hören, wenn Menschen erstmals mit der Frage konfrontiert werden, was für sie Arbeit ist oder sein könnte, die sie „wirklich, wirklich wollen.“ Diesen Kern von Arbeit wiederentdeckt zu haben, ist der Verdienst von Bergmann. Seine charismatische Art hat darüber hinaus dazu geführt, dass sich unzählige Menschen von seinen Gedanken inspirieren ließen und lassen.
Das lose Netzwerk „Neue Arbeit, neue Kultur“ (NANK), das von Menschen im deutschsprachigem Raum um und mit Bergmann aufgebaut wurde, hat unterschiedliche Schwerpunkte. Ein Zweig setzt sehr stark auf den Einsatz moderner Technik, um Arbeit und Mensch zu versöhnen. Ein anderer Zweig setzt darauf, Mentor/innen auszubilden, die Menschen dabei helfen, herauszufinden, was sie „wirklich, wirklich wollen“. Beide Zweige existieren bis heute, aber nur noch in marginalisierter Form. In jüngster Zeit wird Bergmann hier und da wieder „entdeckt“.[4]
Bei aller Hochschätzung des Konzepts Bergmanns sehe ich zwei Aspekte kritisch.
Bergmann lässt sich in seiner Analyse der Arbeitswelt von einem Lohnkapitalismus prägen, der im wesentlichen industrielle Massenproduktion von Waren vor Augen hat. Damit bildet er aber die unglaubliche Vielfalt von ökonomischen Prozessen und Organisationsformen nicht ab. Er setzt auf einen disruptiven Untergang des industriellen Lohnkapitalismus, ohne andere existierende Formen wie z.B. die in Deutschland weit verbreiteten mittelständigen Familienunternehmen oder auch das Handwerk mit in den Blick zu nehmen.
Zum anderen ist es für Bergmann nicht vorstellbar, dass es Menschen gibt oder geben könnte, die in entfremdeten Erwerbsarbeitsplätzen im Lohnkapitalismus eine Arbeit finden/sehen, die sie „wirklich, wirklich wollen.“ Das Phänomen ist bekannt und z.B. von Günter Voß beschrieben.[5] Damit stellt sich die Frage, ob jede Arbeit, von der ein Mensch sagt, es sei für ihn „Arbeit, die er wirklich, wirklich will“, als Neue Arbeit zu bezeichnen ist. Mancher Beitrag aus dem Bereich der Literatur zur Neuen Arbeit lässt diese Vermutung zu. Ich bin allerdings nicht dieser Meinung. Für mich gehört zu Neuer Arbeit hinzu, die Fehlentwicklungen im heutigen Kapitalismus mit zu benennen.
Mittlerweile hat sich unsere Welt weitergedreht. Die Digitalisierung all unserer Lebensbereiche und Lebenswelten hatte Bergmann noch nicht auf dem Schirm, als er seine Vision entwarf, obwohl er die Kollaboration über das Internet bereits beschreibt und auch darin eine Angriffsmöglichkeit auf einen global organisierten Lohnkapitalismus sieht. Die Digitalisierung aber treibt den Prozess von Umorganisation von Arbeit in großem Tempo voran, und zwar sowohl auf der Ebene von Organisationsdesigns als auch bei der individuellen Beschreibung dessen, was Arbeit für mich ist bzw. sein kann oder soll.
Dennoch lohnt es nach wie vor, beim Nachdenken über Neue Arbeit von Frithjof Bergmann auszugehen, weil seine visionäre und charismatische Art in ihrer Tiefe und Weite zugleich ansteckend wirkt. Gleichzeitig gilt es, sein Konzept hier und da zu erweitern bzw. angesichts der teils dramatischen Veränderungen in Wirtschaft und Arbeitswelt weiterzudenken. Aus meiner Sicht beinhaltet das Nachdenken über Neue Arbeit drei Aspekte:
Erstens eine sich gegenwärtig mehr oder minder dramatische verändernde Organisation von Arbeit, sowohl im Blick auf Strukturen und Betriebe, Unternehmen und Verwaltungen als auch im Blick auf die Waren und Güter, die hergestellt oder bereitgestellt werden (sollen).
Zweitens auf Ebene der arbeitenden Frauen und Männer ein unablässig individueller werdendes Verständnis von Arbeit, und zwar von Arbeit in einem weiten Sinn, der Erwerbsarbeit, Care-Arbeit, ehrenamtliche Tätigkeit und Arbeit „nur für mich“ (Eigenarbeit) mitdenkt. Dennoch gehe ich bei allen Veränderungen davon aus, dass Erwerbsarbeit im Sinne „abhängiger“ Arbeit nach wie vor und auf absehbare Zeit Mainstream bleiben wird und für viele Menschen die Grundlage sein wird, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, mit allen Risiken und Nebenwirkungen, die damit verbunden sind.
Ein drittes Element kommt hinzu. Durch die Folgen der Globalisierung, der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und dem sich abzeichnenden Klimawandels stellt sich immer mehr die Frage nach dem großen Woraufhin unseres Lebens, Arbeitens und Wirtschaftens. Eine konsumorientierte Produktion wie in den letzten Jahrzehnten werden wir uns buchstäblich nicht mehr leisten können. Hier bin ich dann wieder sehr nahe an der Wirtschaftskritik Bergmanns, lege aber den Akzent stärker auf die Folgen der Erderwärmung. Entweder wir begreifen das noch rechtzeitig und steuern um, mit entsprechenden Regelungen und Verabredungen oder wir sind gezwungen, eines vielleicht nicht so fernen Tages das Wasser buchstäblich zurückzudrängen und dafür Ressourcen finanzieller und personeller Art zur Verfügung zu stellen, Ressourcen, die dann an anderer Stelle fehlen. „Umverteilung“ ist ein Stichwort, das bislang in der Debatte um Neue Arbeit selten zu hören ist, ich vermute, in einigen Jahren wird dies anders sein.
Ich fasse zusammen. Neue Arbeit hat für mich einen Dreiklang:
- Neue Arbeit fragt nach Veränderungen in der Organisation von Arbeit (dazu zählt auch die Neuorganistion von Care-Arbeit, also der Hälfte unbezahlter Sorgearbeit), die sich durch die Megatrends Globalisierung und Digitalisierung und demografischer Wandel ergeben.
- Neue Arbeit fragt nach Veränderungen im Verständnis von Arbeit auf der Ebene der Individuen und sucht nach Wegen, dass Menschen Arbeit finden, die sie „wirklich, wirklich wollen“.
- Neue Arbeit fragt nach dem Gesamtzielen unseres Wirtschaftens und sucht nach Visionen, wie gutes Leben für gegenwärtige und zukünftige Generationen angesichts des beginnenden Klimawandels gestaltet werden kann und welche Vereinbarungen und konkreten Schritte in Richtung Umverteilung von Arbeit und Ressourcen dazu notwendig sind.[6]
Alle drei Aspekte sind dabei dialektisch aufeinander zu beziehen. Beschränke ich mich auf einen oder zwei Gedanken allein, besteht die Gefahr von Verkürzungen und blinden Flecken. Das dialektische Hin und Her macht die Suche nach konkreten Antworten nicht einfach(er), aber die Ergebnisse solcher Prozesse sind nachhaltiger und weniger ideologieanfällig. So besteht die Möglichkeit, Konzepte „von außen“ zu hinterfragen, auch und gerade im Blick auf die Interessen, die verfolgt werden, sowohl auf der organisationalen als auch auf der individuellen Ebene.
[1] Frithjof Bergmann, Neue Arbeit, neue Kultur 2004
[2] „NewWork ist keine elaborierte Theorie, sondern eine Art Handlungsanleitung für alternatives Arbeiten, das schon in der bestehenden Erwerbsgesellschaft seinen Platz haben soll – und hier offenbar tatsächlich lebensfähig ist. Der Deutschamerikaner Frithjof Bergmann, Philosophie-Professor in Ann Arbor, machte Anfang der achtziger Jahre erste Experimente mit neuen Formen der Arbeit. General Motors führte seinerzeit im Werk Flint/Michigan Computer Aided Manifacturing ein, das einen erheblichen Teil der Belegschaft überflüssig machte. Im ‚Wolfsburg von Michigan‘ drohte deshalb eine Spaltung der Erwerbsbevölkerung in Arbeitslose und Überbeschäftigte. Der öffentliche Druck war so groß, daß sich Unternehmen und Gewerkschaft einigten auf ein ‚six months-on/six months-off‘-Modell einigten, das zunächst allen Beschäftigten ihren – halbierten – Arbeitsplatz sicherte. Für das erwerbsarbeitsfreie halbe Jahr spielt nun Bergmanns Center for New Work eine wichtige Rolle. Hier sollten die GM-Arbeitnehmer erst herausfinden und dann tun, ‚[what] they passionately want to do‘. Nach zwanzig Jahren Fließbandarbeit hatte sich bei vielen eine Art ‚Armut der Begierde‘ eingestellt, die erst krisenhaft überwunden werden mußte, ehe sie wieder wußten, was sie wirklich, wirklich arbeiten wollten. Doch den meisten Arbeitern gelang dies. (…) Überraschenderweise hat dieses so esoterisch anmutende Konzept Erfolg: Ob ein Hausbauprojekt von Sozialhilfeempfängern in Detroit, ein Living Wall Garden-Projekt in Vancouver oder Initiativen im thüringischen Mühlhausen, in Kassel und in München, – New Work hat viele Jünger.“
Rupert Scheule, Die Zukunft der Arbeit und die sehr große Ratlosigkeit. In: Theologie der Gegenwart, 43. Jg. (2000), Nr. 1, 37 – 53. Online: http://www.kthf.uniaugsburg.de/de/prof_doz/sys_theol/-hausmanninger/online_bib/-wirtschaftsethik/zukunft_der_arbeit/
Ähnlich äußert sich Andre Gorz, Arbeit zwischen Misere und Utopie 2000, 153f.
[3] Ich beziehe mich hier auf sein Buch von 2004. Seither hat Bergmann mündlich, in Vorträgen und auf Videos seine Vision modifiziert und weiterentwickelt.
[4] Markus Väth, Arbeit. Die schönste Nebensache der Welt 2016; Hendrik Epe, Zwischen Gesellschaft und Organisation – Was ist New Work?, https://ideequadrat.org/category/new-work/
[5] Hans Pongratz/Günter Voß, Arbeitskraftunternehmer 2003; Günter Voß, Kerstin Rieder, Der arbeitende Kunde 2006.
„Voß hat aufgezeigt, dass viele der Tätigkeiten, die der Arbeitende Kunde für Unternehmen vornimmt, eigentlich entfremdete, angepasste Arbeit darstellt. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass solche entfremdete Arbeit zugleich als selbstbestimmte Arbeit erlebt wird. (…) Entfremdete und selbstbestimmte Arbeit stehen sich also nicht polar gegenüber, sondern es handelt sich eher um zwei unterschiedliche Ebenen, die bestimmte Schnittmengen besitzen.“
Matthias Jung, Entgrenzung und Begrenzung von Arbeit 2012, S. 98
[6] Es wäre in einem weiteren Blogbeitrag zu beschreiben, welche theologischen Begründungsmuster für mich als Theologen und Christ hinter dem Dreiklang und jedem einzelnen der Aspekte stehen.
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