Agile Verwaltung – eine Rezension

Auf dem freiräume.camp 2018 nehme ich an einer Session teil, die Wolf Steinbrecher vom „Forum agile Verwaltung“ anbietet. Seine Ausführungen zum Thema fand ich klar, pragmatisch und sachgerecht. Seither folge ich dem Blog des Forums und dort erschien vor einigen Wochen der Hinweis auf „das beste, weil erste Buch“ unter dem Titel „Agile Verwaltung – Wie der Öffentliche Dienst aus der Gegenwart die Zukunft entwickeln kann“.

Da ich zum einen im KDA immer wieder mit Menschen aus dem Öffentlichen Dienst zu tun habe und ich zum anderen selber in einem Haus arbeite, dass eng mit kirchlicher Verwaltung verbunden ist, habe ich das Buch sofort gekauft und gelesen. Mit Gewinn.

Es teilt sich in drei Abschnitte: Grundfragen der Agilität, Methoden und Anwendungsbeispiele aus der Praxis. Ich möchte an zwei Texten deutlich machen, was ich gelernt habe.

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Veronika Lévesque und Cornelia Vonhof stellen die Frage: „Komplexität, VUKA und andere Schlagworte – was verbirgt sich dahinter?“ Der Text steht im ersten Abschnitt und bezieht sich noch nicht spezifisch auf Verwaltungen. Die Autorinnen gehen von der Beobachtung aus, dass in der Theorie zumeist drei Dinge vorausgesetzt werden:

„- Der Auftraggeber weiß, was er will.
– Die Umsetzenden wissen, wie das Problem bzw. der Auftrag zu lösen ist.
– Während des Projektverlaufs ist dem Plan zu folgen, d.h. es ändert sich nichts.“ (16)

Die Realität in der Gegenwart (einer immer komplexer werdenden Welt)  sieht aber zumeist eher so aus:

„- Die auftraggebende Person entdeckt erst unterwegs genauer, was sie wirklich benötigt. (…)
– Die Umsetzenden entdecken Schritt für Schritt, welche Optionen es gibt, um das Problem zu lösen oder den Auftrag umzusetzen. (…)
– Vieles ändert sich im Verlauf, – denn die Welt dreht sich außerhalb des Auftrags unbeirrt weiter.“ (ebd.)

Dabei steht „Auftraggeber“ als Platzhalter für etliche mögliche Rollen: Vorgesetzte, Kundin/Kunde, Politik usw., gleiches gilt für die anderen Spiegelstriche.

Dies stellt Verwaltungen vor erhebliche Herausforderungen, da es grundsätzlicher Auftrag von Verwaltungen ist, für Stabilität, Verbindlichkeit und Verlässlichkeit zu sorgen. Somit sind öffentliche Verwaltungen weniger darauf angewiesen, sich permanent auf wechselnden Märkten zu behaupten – und von daher fehlt hier oft die Erfahrung und das Instrumentarium, sich auf Veränderungen „routiniert, gelassen und kreativ“ einzulassen. In der Praxis heißt das zB:
„Es werden keine umfangreichen Pläne ausgearbeitet, die für ein ganzes Jahr oder länger gelten. Sondern das Team arbeitet bewusst in einem Experimentiermodus, wertet Erfahrungen schnell aus, verstärkt Erfolgreiches, verwirft Wirkungsloses.“ (19)

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Thomas Michl und Wolf Steinbrecher fragen:
„Wozu kann unsere Gesellschaft eine ‚agile Verwaltung‘ brauchen?“
Ihre These lautet:

„Agilisierung bedeutet (…) eine ganz grundlegende Änderung der Arbeitskultur in der öffentlichen Verwaltung – nämlich der (weitgehende) Übergang von der Arbeit in Einzelzuständigkeiten und ‚Silos‘ zu einer Arbeit und kollaborativen Zusammenhängen, in Teams.“ (27)

Dabei unterscheiden die Autoren zunächst zwischen stark und schwach strukturierten Prozessen. Erstere umfassen Vorgänge, die immer wieder gleich ablaufen, einen Führerscheinantrag stellen, Urlaubsantrag genehmigen usw. Hier ist die klare Zuständigkeit eine große Hilfe. Solche Prozesse gibt es in jeder Verwaltung, die Autoren schätzen den Anteil auf 50-70% der Arbeit. Hier machen agile Methoden keinen Sinn, und die Frage, wo und warum Agilität im Öffentlichen Dienst sinnvoll eingesetzt werden kann und wo nicht, durchzieht das ganze Buch.

Denn es  gibt auch hier Prozesse, an denen viele (Abteilungen, Personen) notwendig oder sinnvollerweise zu beteiligen sind, zB Genehmigungsverfahren oder größere Planungsvorhaben. Hier kommt das System der Einzelzuständigkeiten an seine Grenzen, Die Autoren veranschaulichen dies am Bild des Mobiles:
Jede/r der vielen im jeweiligen Fachbereich hochqualifizierten Personen sieht nur den Teil des Mobiles, für den er oder sie zuständig ist – und übersieht dabei, dass jede eigene Bewegung sich auf alle anderen Teile des Mobiles auswirkt. Die Lösung heißt daher hier: „Abkehr vom isolierten Spezialistentum und direkte Zusammenarbeit (in einem gemeinsamen Team.“ (35)

Das ist alles andere als einfach, gerade in öffentlichen Verwaltung, zu deren DNA solche kollaborativen Vorgehensweise nicht ohne weiteres gehören. Teamarbeit muss gelernt werden und verlangt von Mitarbeitenden wie Führungskräften Haltungsänderungen. Wo es gelingt, gibt es aber nach Michl und Steinbrecher auch einen Gewinn, weil durch die (ungewohnte) Zusammenarbeit eine ganz neue Form der Handlungsfähigkeit entdeckt wird, die sich positiv auf die Arbeitsmotivation auswirkt.

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Im zweiten Tel des Buches werden verschiedene Methoden wie Scrum, Kanban, User Story, u.a. vorgestellt und auf den Verwaltungsalltag hin fruchtbar gemacht.
Interessant fand ich den Hinweis von Martin Bartonitz zu unterschiedlichen Formen der Entscheidungsfindung in Teams. Entscheiden via Konsens und via demokratische Abstimmung war mir bekannt, aber im Umfeld von öffentlicher Verwaltung bringt Bartonitz auch das Entscheiden via Konsent ins Spiel. Dieses beruht im Kern darauf, nicht nach Mehrheiten oder Zustimmung zu suchen, sondern die Frage zu stellen, welche gravierenden Einwände es gegen einen vorliegenden Vorschlag gibt. Diese Methode hat den Vorteil, dass es keine „Verlierer/innen“ gibt, sondern der Widerspruch sich an einem sachlichen Einwand orientiert, der dann mit dem Ziel bearbeitet wird, den vorliegenden Vorschlag noch besser zu machen.

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Im letzten Teil kommen dann Praxisbeispiele u.a. aus Bibliotheken und Universitäten, Erfahrungen mit dem eGovernment und aus der schwedischen Stadt Ängelholm, die sich als „erste agile Kommune Schwedens“ betrachtet und ihr gesamtes Verwaltungssystem entsprechend umgestaltet hat. Es sind teils schon beeindruckende Erfahrungen, die hier geschildert werden und die Lust und Mut machen, selbst zu überlegen, ob und was ich in meinen Alltag übernehmen kann, wenn ich in Verwaltungen welcher Art tätig bin. Spannend wäre nun auch zu diskutieren, wie sich die hier beschriebenen Erfahrungen auch in kirchlichen Verwaltungen fruchtbar machen lassen, daher wäre es wünschenswert, wenn das Buch auch kirchlichen Kreisen gelesen wird.

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Insgesamt habe ich das Buch ziemlich flott und mit großer Aufmerksamkeit gelesen und es hat mir manche Erkenntnis verschafft, an einigen Stellen auch bestätigt, was ich ich vermutet hatte, aber noch nie selbst in Worte gefasst hatte. Von daher eine klare Leseempfehlung, für alle, die sich für die Frage interessieren, ob und wie agile Methoden und Haltungen auch jenseits der „freien Wirtschaft“ sinnvoll eingesetzt werden können.

Ein kleiner Wermutstropfen fällt am Ende in den Becher: Leider finden sich in diesem Buch etliche orthografische Fehler, das ist für mich bei einem so hochpreisigen Buch nicht verständlich.

Das Buch ist bei Springer Gabler erschienen und kostet 49.99 €. Es ist auch als eBook erhältlich für 39,99 €.

Und zuletzt stellen die Autoren ihr Buch selber auf dem Blog des Forums Agile Verwaltung unter diesem Link vor:
Neu erschienen: das beste Buch über „Agile Verwaltung“

2 Gedanken zu “Agile Verwaltung – eine Rezension

  1. Pingback: Buch-Rezension: Agile Verwaltung – Wie der Öffentliche Dienst aus der Gegenwart die Zukunft entwickeln kann | Der Mensch - das faszinierende Wesen

  2. Lieber Matthias,

    lange hatte ich nicht mehr auf Deinem Blog vorbeigeschaut. Nun fand ich auf dem unsrigen Deinen Hinweis auf Deine Rezension und habe gleich gelesen.

    Vielen Dank für die Blumen 🙂

    Und:

    „Ein kleiner Wermutstropfen fällt am Ende in den Becher: Leider finden sich in diesem Buch etliche orthografische Fehler, das ist für mich bei einem so hochpreisigen Buch nicht verständlich.“

    Dass wir doch noch so viele Typos drin haben, schmerzt ein wenig, da wir uns die Texte via Peer-Reviewung bemühten, möglichst frei von ihnen zu bekommen 😦

    Aber so haben wir Potential, sollten wir neuauflegen 🙂

    Viele Grüße
    Martin

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