Gestern war ich in Duisburg und Dinslaken, also in meiner alten Heimat. Anlass waren die Feierlichkeiten zum 25jährigen Bestehens der Regionalstelle des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) Duisburg-Niederrhein. Seinerzeit hatte ich mich als junger Gemeindepfarrer entschieden, nebenamtlich im KDA mitzuwirken, eine Entscheidung, die ich nie bereut habe. Ich habe zwar die Verhandlungen zur Gründung der Regionalstelle nicht miterlebt, war aber vom ersten Tag an mit im Geschäftsführenden Ausschuss, dem ich später acht Jahre vorstand. Daher war es gar keine Frage, dass ich mich auf den weiten Weg aus Hannover an den Rhein gemacht habe.
Und mit „weit“ meine ich weniger die realen Kilometer. Der Gottesdienst mit „Alt-Präses“ und ehemaligen Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider (auch ein Gründungsmitglied) und die Festveranstaltung im Ledigenheim in Lohberg, in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Zechengelände, waren zunächst einmal eine Art Klassentreffen vieler ehemaliger Weggenoss/-innen. Ja, auch wenn in Gottesdienst und Festakt nur eine einzige Frau aktiv beteiligt war – im Saal waren viele und es wäre spannend, die Rolle der Frauen in den 25 Jahren Regionalstelle mal gesondert zu betrachten, es gab nicht nur mehrere hauptamtliche Mitarbeiterinnen und zwei Vorsitzende im Geschäftsführenden Ausschuss (seit langem jetzt schon Pastorin Karin Dembek), auch in den Auseinandersetzungen bei Kohle und Stahl im Strukturwandel spielten Frauen immer wieder eine wesentliche Rolle, herausragend sicher die „Besetzung“ der Christuskirche durch Bergarbeiterfrauen in Kamp-Lintfort über mehrere Wochen in den neunziger Jahren.
Damit bin ich bei dem Gefühl, eine weite Reise unternommen zu haben. Es gab eine Podiumsdiskussion mit Nikolaus Schneider und dem Bochumer Sozialethiker Traugott Jähnichen, die neben vier Männern aus Kohle und Stahl teilnahmen. Und diese vier zeichneten eine Welt im Übergang, die mit viel Untergang verbunden ist. Die hohe soziale Verantwortung vor allem bei der Kohle wurde mehrfach, fast schon gebetsmühlenartig betont, wenn es um die Frage ging, wie der Strukturwandel bewältigt worden ist – nämlich ohne betriebsbedingte Kündigungen. Darauf ist man stolz, zu Recht. Und es ist sicher vorbildhaft auch für andere Branchen und Regionen, wenn ich da zum Beispiel an die Herausforderung denke, die auf Niedersachsen zu kommt, wenn es um den Umbau des VW-Konzerns geht. Massiv wurde dann auch Siemens attackiert als aktuelles Beispiel, wie Konzerne Milliardengewinne machen und gleichzeitig Standortschließungen verkünden – ohne Sozialplan für die Städte und Regionen. An dieser Stelle ist der Gedanke der Familie noch sehr lebendig im Ruhrgebiet, sicher auch der Tatsache geschuldet, dass bei Kohle und Stahl ohne Solidarität am Hochofen und unter Tage die anstrengende und oft auch gefährliche Arbeit nicht zu bewältigen war und ist.
Das trifft dann auch die Seele vieler Menschen hier an der Ruhr. Auf die – naive – Frage des Moderators, ob denn die Digitalisierung den Strukturwandel unter Tage und bei den Stahlkochern hätte aufhalten können, reagierten die Diskutanten empört und zeigten auf, wie hochtechnisiert bei Kohle und Stahl seit langem gearbeitet wurde und wird. Und überhaupt, es sei völlig unverständlich, dass der Steinkohlebergbau ausläuft, wo doch so viele Menschen dort gute Arbeit geleistet haben. Jetzt auch noch die neue Diskussion um die Braunkohle, das ginge doch überhaupt, was soll aus den Menschen werden, die dort ihren Lohn verdienen für sich und ihre Familien…
Wohl wahr, das schreit nach einem Rahmen, nach einem Woraufhin, damit klar ist, was und warum gestaltet werden muss. Da war ich schon überrascht, dass keine der sechs Personen auf dem Podium, auch nicht Nikolaus Schneider und Traugott Jähnichen, das Stichwort Klimawandel und die Transformation der Ökonomie überhaupt nur erwähnte. Da fühlte ich mich dann plötzlich ganz nah und zuhause – denn in der letzten Woche konnten Stephan Weil und Bernd Althusmann, inzwischen immerhin Ministerpräsident und Wirtschaftsminister, neunzig Minuten beim Tag der Niedersächsischen Wirtschaft über die drängendsten Zukunftsaufgaben für Niedersachsen und unser Land insgesamt sprechen, ohne das Wort „Klimawandel“ auch nur einmal in den Mund zu nehmen. Es war dann Landesbischof Ralf Meister, der anschließend vor den Unternehmer/-innen und Politiker/-innen an dieser Stelle deutliche Worte fand.
Und damit wird dann manches hohl und schräg. Natürlich hat Traugott Jähnichen recht, wenn er aus evangelischer Perspektive Solidarität in der Ökonomie einfordert und neben dem Trend zu mehr Selbstbestimmung in der (Erwerbs-) Arbeit die Entwicklung einer Sozialkultur fordert, die den Rahmen für die individuelle Entwicklung abgeben muss, damit nicht alles auseinander läuft, im übertragenen Sinn, aber auch wortwörtlich. So plädierte Traugott Jähnichen entschieden dafür, den Sonntagsschutz nicht weiter auszuhöhlen und forderte Kirche und Gewerkschaften auf, hier kämpferisch zu sein. So weit, so gut. Aber all das muss doch heute eingebettet werden in den großen Rahmen der Herausforderungen, in denen wir heute schon stehen. Der Klimawandel ist Fakt und wenn wir nichts oder zu wenig tun, dann haben unsere Kinder und Enkel noch ganz andere Probleme. Gute Arbeitsplätze in der Braunkohle sichern Menschen ihr Auskommen, doch zu welchem Preis? Ich bin davon überzeugt, dass die Erfahrungen, die in den letzten dreißig Jahren im Ruhrgebiet gemacht wurden im Übergang von Kohle und Stahl zu einer neu aufgestellten Industrieregion sehr hilfreich sein können, wenn wir uns der Frage stellen, was getan werden muss.
Strukturwandel braucht Zeit, Solidarität und Hoffnung – so lautete einmal das Motto, unter dem im Ruhrpott am Strukturwandel gearbeitet wurde. Gestern hat diese Trias niemand ausdrücklich in den Mund genommen, aber sie war da, unausgesprochen in fast allen Redebeiträgen. Und sie ist hilfreich als Kriterien für eine sozialverträglich Umgestaltung unsere Lebenswelt, in den privaten Bezügen genauso wie in Arbeitswelt und Ökonomie. Als gemeinsam verstandene solidarisch gestaltete Aufgabe, die Menschen die nötige Zeit und zugleich Hoffnung gibt.

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