Predigt bei meiner Verabschiedung in der Ev. Kirchengemeinde Götterswickerhamm am Reformationstag 2014
Ich betrete die Sakristei in der evangelischen Kirche in Götterswickerhamm.
Stelle meine Tasche auf den Tisch.
Hänge den Talar auf.
So wie ich es in den letzten Jahren oft getan habe.
Durch die halbgeöffnete Tür sehe ich auf die Empore zu Anja Steimann.
Ich winke ihr kurz zu und schaue ins Kirchenschiff.
Es füllt sich.
Wie könnte es auch anders sein, an solch einem Tag.
Reformationstag.
Abschiedstag.
Nach so vielen Jahren.
Gerade betritt Harald Eickmeier die Kirche.
Und kurz hinter ihm Matthias Jung mit seiner Frau Christine.
Ersterer hat vor vier Jahren die Gemeinde verlassen.
Der andere auf den Tag genau heute vor zehn Jahren.
Und ich bin nun auch schon neun Jahre hier.
Im Sommer 2015 kam ich in den Pfarrbezirk Ost.
Hinter mir geht die Sakristeitür auf.
Hanke Ibbeken kommt und mit ihr ein Schwall kalter Luft.
Etwas angespannt sieht sie aus.
Kein Wunder:
Hält sie doch heute hier ihren letzten Gottesdienst.
Nach bald 25 Jahren pfarramtlicher Tätigkeit.
An und in dieser Kirche.
Vor ein paar Tagen hat Hanke mich an meinen ersten Tag hier erinnert.
Weißt du noch …?
Ja, ich weiß noch sehr gut.
Es war in den Herbstferien.
Harald Eickmeier hatte – wie so oft in dieser Zeit – Urlaub.
Also zogen wir beide durch die Gemeinde.
So viele Namen hörte ich.
So viele Hände schüttelte ich.
So viele Ideen gingen mir durch den Kopf.
Hanke meinte, wie gut, dass nun ein neuer Blickwinkel in die Gemeinde kommt.
Als ich hier anfing, machte die Gemeinde gerade Nägel mit Köpfen.
Im Bewerbungsgespräch zeigte man mir den Plan des neuen Zentrums und fragte:
Können Sie etwas damit anfangen?
O ja, ich konnte.
Es beflügelte mich richtig.
Ich fing an zu sprudeln.
Es schien dem Presbyterium zu gefallen.
Staunend stand ich dann nach meiner Wahl im Rohbau.
Malte mir aus, mit anderen zusammen dieses Zentrum zu füllen.
Ich konnte das Leben in diesem Haus schon ahnen.
Wunderbar hatten Gereon Hecker und seine Mitarbeiterinnen die Ideen aufgenommen.
Und weitergedacht.
In Holz, Steine und Glas gegossen.
Von Anfang entwickelte sich das Haus wie erhofft.
Ein Zentrum der Begegnung.
Intensive Gespräche.
Wunderbare Feiern.
Zwangloses Zusammensein an der Theke.
Natürlich gab es Reibereien am Anfang.
Natürlich wurden Tränen vergossen, als der Pavillon geschlossen wurde.
Und der Rönskenhof.
Mittlerweile Vergangenheit.
Das Alte ist nicht vergessen.
Bilder hängen den Fluren des Zentrums.
Halten in Erinnerung, welchen Segen diese Gebäude für viele bedeuteten.
So wie heute unser neues Haus.
Ich sage immer noch neu, obwohl es auch schon acht Jahre steht.
Küster Klaus Meier kommt herein.
Er will mit mir die Live-Übertragung testen.
Neumodischer Kram, hatten manche geschimpft.
Als das Presbyterium anfing, den Gottesdienst ins Internet zu übertragen.
Sonntag für Sonntag.
Gottesdienst ist doch kein Fernsehprogramm.
Riefen die einen.
Irgendwann bleiben dann alle auf dem Sofa sitzen.
Meinten die anderen.
Inzwischen waren die Stimmen verstummt.
Zu hoch waren die Abrufzahlen.
Nicht nur an den Feiertagen.
Und der Gottesdienstbesuch stieg an.
Ich hab´ Sie im Fernsehen gesehen, jetzt will ich Sie auch mal live erleben.
Und es gab so viele Rückmeldungen.
Von denen, die nicht mehr kommen konnten.
Oder anderen, die nicht mehr am Ort wohnten.
Auch heute wird das Interesse hoch sein.
Letztmals Hanke Ibbeken in Götterswickerhamm auf der Kanzel.
Das lockt nicht nur viele in die Kirche, sondern auch vor die Bildschirme.
Ja, die Veränderungen.
Das ist nicht leicht in den Gemeinden.
Es ändert sich immer so viel …
Warum kann denn nicht wenigstens in der Kirche alles so bleiben wie früher …
Ja, warum?
Andersherum waren viele beglückt, als ich als neu in die Gemeinde kam.
Ein neues Gesicht.
Neue Gedanken.
Andere Ideen.
Frischer Wind.
Unser Leben, eine ewige Mischung aus Aufbruch und Bewahren.
Mal trennt man sich vom Falschen.
Mal macht man alles richtig.
Aber nur das Alte festhalten?
Wo soll das denn hinführen?
Manches ändern geht leicht.
An anderen Stelle knirscht es.
Und dauert.
Zum Beispiel regte ich an, in Möllen die Bänke aus der Kirche zu entfernen.
Und Stühle hineinzustellen.
Ich war vom ersten Moment an beeindruckt von der Akustik in diesem Raum.
Es war an meinem allerersten Tag hier.
Ich setzte mich an die Orgel und spielte einen Choral.
Hanke sang mit und es klang wunderbar.
Ich dachte, wow, was könnte man hier nicht alles machen.
Ohne Bänke, mit Stühlen.
Es war ein langer Weg, den Denkmalschutz aufzuheben.
Heiß umstritten im Presbyterium.
Und in der Gemeinde.
Da haben dann einige gemerkt, dass die neue Pfarrerin nicht nur gut aussieht
– wie mir so manch ein Chauvi zu raunte -,
sondern auch kämpfen kann.
Heute bringt der Raum viel Geld ein.
Ein Konzert- und Theatersaal.
Und trotzdem noch regelmäßig für Gottesdienste genutzt.
Andersherum, was wäre aus diesem Haus geworden.
Zu teuer, zu wenig ausgelastet.
Heute waren alle zufrieden.
Genet steckt den Kopf in die Sakristei.
Flüstert mir zu, alle sind da, alles passt.
Genet leitet den Chor der Flüchtlinge.
Den hatte ich mit ins Leben gerufen.
2015 kamen immer mehr christliche Flüchtlinge nach Voerde.
Aus dem Irak, aus Syrien, aus Eritrea, aus dem Iran.
Und klopften in unserer Gemeinde an.
Der eine oder die andere fand schon früher den Weg in unsere Gottesdienste.
Doch mit einem Mal saßen da zwanzig, fünfundzwanzig.
Sonntag für Sonntag.
Mittlerweile haben wir „Einheimische“ uns ja daran gewöhnt.
Und es schätzen gelernt.
Aber vor zehn Jahren, hallo?
An manchen Sonntagen waren die Flüchtlingsfamilien in der Mehrheit.
Und wollten beteiligt werden.
Sie machten uns deutlich:
Wir wollen vorkommen.
Es ist auch unser Gottesdienst.
Wir sind keine Gäste, sondern wohnen hier.
Wie ihr.
Hier ist nicht unsere Heimat, aber unser Zuhause.
Voerde.
Die Kirche.
Und ihr.
Mit Musik, das war am einfachsten.
Ich lud sie ein und wir versuchten, uns zu verständigen.
Mit Händen und Füßen und brachialem Englisch.
Sie sangen und ich spielte die Melodien der Lieder auf dem Klavier nach.
So begann es.
Anfangs haben wir viel geweint beim Singen.
So viele schreckliche Erinnerungen standen im Raum.
Wir verstanden einander nicht mit Worten.
Aber durch die Musik.
Sie sangen uns ihre Lieder im Gottesdienst.
Erst eins an einem Sonntag.
Dann immer öfter.
Und mehr.
Schnell wurde es zur Gewohnheit.
Und wir Einheimischen sangen bald mit.
Heute sitzen drei ehemalige Flüchtlinge im Presbyterium.
Bestimmte Ansagen im Gottesdienst machen wir auf Englisch.
Für diejenigen, die wieder einmal neu sind.
Denn leider reißt der Strom derjenigen nicht ab, die ihre Heimat verlassen.
Die Turbulenzen auf unserem Erdball nehmen einfach kein Ende.
Aus dem Zusammenleben mit ihnen entstand die Idee des Gemeinschaftgartens.
Viele saßen vielfach nur herum saßen und wollten etwas tun.
Hinter dem neuen Zentrum lag die Brache.
Mit dem längst versandeten Teich.
Den einst Matthias Jung mit Monika Reinke und Frank Boßerhoff angeregt und angelegt hatten.
Heute war hier ein Gemüse- und Blumengarten.
Gemeinsam bewirtschaftet.
Von denen, die Lust und Zeit haben.
Und das sind einige.
Sonntags wird der Kirchenschmuck von hier geholt, in allen Jahreszeiten.
Geld für Blumen auf dem Altar haben wir schon lange nicht mehr ausgegeben.
Und in Frostzeiten experimentieren wir mit Steinen, Ästen und vielem anderen.
Nach dem Gottesdienst wird ganz oft erst im Garten geerntet.
Dann im Zentrum gekocht.
Gegessen.
Gequatscht.
Gesungen.
Getanzt.
Gespielt.
Gemeinschaft.
Schabbat, Sonntag.
So viele Erinnerungen.
So schöne.
Fünf Jahre waren wir hier zwei Pfarrerinnen und ein Pfarrer.
Harald hatte seinen Spaß dran.
Er jammerte zwar immer, dass er jetzt in der Minderheit sei.
Und die Männer würden sowieso nur unterdrückt und, und, und …
Das zeigte aber nur den guten Zusammenhalt.
Eine alte Tradition in dieser Gemeinde.
Bei Stellenbesetzungen wurde immer wieder darauf geachtet.
Das die, der Neue zu den anderen passt.
Erzählte mir Hanke am ersten Tag.
Ich habe das sehr schätzen gelernt.
Schließlich erzählten Kolleginnen auch von anderen Verhältnissen in Gemeinden.
Von sprachlosem Nebeneinander bis hin zum offenen Kampf.
Das haben wir hier nie gehabt.
Gott sei Dank, buchstäblich.
Die Glocken beginnen zu läuten und reißen mich aus meinen Gedanken.
Hanke klappt den Ordner mit der Predigt zu.
Einen Augenblick plauschen wir noch.
Die eine geht, die andere bleibt, jemand neues wird kommen.
Eine Zeitlang werde ich alleine in der Gemeinde sein.
Denn die Pfarrstelle von Harald Eickmeier wurde schon nicht mehr wieder besetzt.
Aber es gibt neuerdings Unterstützung.
Über unsere langjährige Prädikantin hinaus.
Ehrenamtliches Pastorat heißt das.
Pastorinnen und Pastoren im Ehrenamt.
Einen davon haben wir hier.
Mika Arvidsson, Theologe aus Schweden.
Sohn eines Schweden und einer Nigerianerin.
Der Liebe wegen an den Niederrhein gezogen.
Freiberuflich als Berater tätig.
Und nebenbei in der Gemeinde.
Wie glücklich ist er, dass er hier als Pfarrer tätig sein darf!
Für die Gemeinde war erst nicht einfach.
„Nur“ noch zwei „richtige“ Pfarrersleute …
Und ein Ausländer.
Schwede zwar, aber die Hautfarbe …!
Es ging.
Es ging gut.
Sehr gut.
Die Glocken verhallen.
Die Posaunen beginnen zu spielen.
Ich gehe hinter Hanke in die prall gefüllte Kirche.
Als ich die Tür hinter mir schließe, kommt mir ein Bibelwort in den Sinn.
Matthias Jung wählte es einst bei seiner Abschiedspredigt als Predigttext.
Und ich bei meiner Einführung.
Hat man mir damals nach dem Gottesdienst augenzwinkernd gesagt.
Dieses wunderbare ermutigende Wort aus dem Hebräerbrief:
„Wir haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir.“
Amen.