Mutterschößigkeit. Eine Rezension zu „Erbarmen“ von Ina Praetorius

Liebe Ina,

ich habe Dein Buch gleich zweimal gelesen.
Einmal in einem Zug durch, weil ich wissen wollte, wie es ausgeht.
Und dann noch mal langsam mit Bleistift.
Jetzt ist es ziemlich vollgekritzelt.

Du machst es Menschen leicht, die zum ersten Mal ein Buch von Dir in der Hand haben.
Biografischen Skizzen helfen, den theologischen Gedanken zu folgen.
Eine Erstleserin muss sich erst hineinfinden:
In Deine Art von „Gott“ und der „Tradition“ zu sprechen.
In Dein Anliegen, vertraute Sprachmuster aufzubrechen.
Und so zugleich das Denken und ja, Glauben zu verändern.
Das braucht etwas Zeit.
Lohnt sich aber.

Hier atmet Dein Buch Erfahrungen, die im Umfeld der „Bibel in gerechter Sprache“ gemacht wurden.
Und Deine langjährige Auseinandersetzung mit dem, was Du (mit anderen zusammen) postpatriarchale Bewegung nennst:
Die Überwindung der Zweiteilung der Welt in ein oben/unten, stark/schwach, Mann/Frau.
Exemplarisch macht sich das fest an Deinem Kampf dafür, das Wort „Herr“ nicht mehr für „Gott“ zu verwenden.
Mit guten Gründen, wie Du an Otmar Keels faszinierenden Aufsatz aufzeigst. (56f.)

Du nimmst den Leser mit auf eine Reise durch die Bibel, die Schrift, die Tradition, die Matrix (36).
Und lässt uns teilhaben an Deinem Ringen, der Erfahrung des Unaussprechlichen sprachlich nachzuspüren.
Für Dich findest Du im Begriff Erbarmen hier einen zentralen Begriff.
Auch weil dieser in der Wortwurzel auf das hebräische rachamim zurückgeht, was mit „Mutterschößigkeit“ (41f.) übersetzt werden kann.
Das verweist darauf, in welch grundlegenden Bezogenheiten wir als Menschen, als Frau, als Mann oder was auch immer stehen:
In einer grundlegenden Bedürftigkeit und Angewiesenheit.
Und das wir alle eine unverlierbare Würde haben, lange bevor wir irgendetwas geleistet haben.

Wir begegnen Menschen, denen Du begegnest bist:
Xanthippe und Sokrates, Maria und Franziskus, Martha und Peter, Silvia und Thomas.
So wird noch mal verdeutlicht:
Wir sind nichts außerhalb unserer Beziehungen und Bezogenheiten.
Eine Einsicht, die heute so elementar wichtig ist.
In einer Zeit, in der das gängige Wirtschaftsmodell vom unbedingten Individualismus und der Stärke des, der Einzelnen ausgeht.
Was für ein Irrtum.
Die wirklich wichtigen Fragen lauten heute dagegen:

„Was ist eigentlich ‚Arbeit‘, was ‚Leistung‘?
Ist Geld alles, oder vielmehr nichts?
Wie merke ich, wann ich genug habe?
Welche Tätigkeiten brauchen wir als Gesellschaft, auf welche können wir verzichten?
Sind Menschen geborene Faulpelze oder eher Workaholics? (…)
Warum kann man heute mit Waffenproduktion und Finanzspekulation geldreich werden, nicht aber mit Tätigkeiten, ohne die kaum jemand als Säugling überlebt hätte? (…)
Wie können wir, als Einzelne und als Gesellschaften, Dankbarkeit lernen – als das kollektive Bewusstsein, dass keine und keiner sein oder ihr Leben selbst erarbeitet?“ (116f.)

Ich glaube, dass es auch anderen so geht, dass sie das Buch mehr als einmal lesen.
Weil es auf der einen Seite hochkonzentriert und präzise formuliert.
Und auf der anderen Seite gleichzeitig in einer poetisch schwebenden Sprache geschrieben ist.
Es macht Spaß, darin zu lesen.
Mal schnell aus Neugier, wie geht es weiter.
Mal langsam einen Abschnitt, aufhören, warten, nachspüren.

Eine Erstleserin findet hier leicht und schwer zugleich eine Anleitung zum eigenen Denken.
Zum Nachspüren.
Zum Eintauchen in die Tradition.
Und in die eigenen Erfahrungen mit dem großen UMUNSHERUM.

Jetzt bin ich kein Erstleser.

Vor Jahren schon bin ich auf Deine Bücher gestoßen.
Als ich während der Arbeit an meiner Dissertation nach dem weiblichen Blick auf (Erwerbs-)Arbeit suchte.
Vor einigen Jahren habe ich mit meiner Frau zusammen einen Gottesdienst mit Texten aus Deinem Buch über das Glaubensbekenntnis gestaltet.
Das führte zu intensiven Diskussionen in der Gemeinde.
Mein Gefühl sagt mir:
Uns verbindet die Begeisterung an der Sprache als Mittel, etwas auszudrücken.
Wir teilen die Überzeugung, dass im Bedingungslosen Grundeinkommen gerade auch theologisches Potential steckt.
Wir haben gemeinsam die Erfahrung der Denkumenta im letzten Jahr gemacht, die Du am Ende erwähnst:

„Ohne diese Konferenz, an der wir wieder einmal erfahren haben, wie sich Zusammenleben diesseits herkömmlicher Grenzen zwischen Religion, Wissenschaft, Politik, Genuss – und mehr – anfühlt, hätte ich dieses Buch nicht schreiben können, wie ich es geschrieben habe.“ (119)

Ich glaube zu ahnen, was Du meinst.
Weil ich diese Tage auch intensiv in Erinnerung habe.

Also, ich bin Zweit-, Dritt- oder Viertleser.
Ob es daran liegt, dass ich mich von Anfang an ausgerechnet mit dem zentralen Begriff Deines Buches schwer getan habe: Erbarmen?

Ich verstehe gut, was Dich daran fasziniert.
Denn die sprachliche Herleitung aus rachamim ist überzeugend, überraschend und weiterführend, keine Frage.
Dennoch schreibst Du selbst, dass viele Wörter aus dem „Gotteswortschatz der Christinnen und Christen“ sich so breit gemacht haben, dass sie den Zugang zu dem EWIGEN versperren. (44)
Dazu zählst Du Gnade, Rechtfertigung, Herr.
Für mich gehören noch Liebe, Schöpfer, Dienst dazu.
Und eben Barmherzigkeit/Erbarmen.
Barmherzigkeit, Erbarmen klingt zumindest in meinen Ohren:
Jämmerlich, „erbärmlich“, milde von oben herab.

Wir haben alle (auch) unsere je eigene Geschichte mit den Begriffen aus langer Tradition.
Gut, wenn wir darüber ins Nachdenken kommen.
Daher habe ich mich gefragt:
Welchen zentralen Begriff für „Gott“ würde ich wählen?

Lange hab ich hin und her überlegt.
Beim zweiten Lesen sprang er mir ins Auge, denn er steht auch bei Dir drin:

DAS UNBEDINGTE JA. (46)

Das hat mit meiner Geschichte zu tun.
In der Paul Tillich eine wichtige Rolle gespielt hat.
Seine drei Bände „Systematische Theologe“ waren die ersten „echten“ theologischen Wälzer, die ich je gelesen habe.
Noch während des Zivildienstes, vor Beginn meines Studiums.
Seither begleitet mich die Suche nach „guter“, genauer, präziser Sprache.
Die möglichst auch noch schön ist.

Und wir sind dennoch ganz nah beieinander, denn Du schreibst:

„Erbarmen bedeutet, jemanden umfassend zu bejahen, ohne Bedingungen zu stellen.“ (9)

Bei mir ist es die Erfahrung mit Tillich, die mich zum UNBEDINGTEN JA greifen lässt.
Bei Dir vielleicht die Arie aus der Matthäuspassion von Bach, die Dir ERBARMEN ins Herz schreibt. (43)
Theologie in Bezogenheit und Dialog, wunderbar.

Ich habe auf meine Frage eine Antwort gefunden.
Das ist viel mehr, als andere Bücher bei mir hinterlassen.
Manche lese ich gelangweilt, manche ärgern mich.
Bei einigen nicke ich zustimmend und hab sie anschließend schnell wieder vergessen.
Ab und zu lösen Bücher Fragen aus, über die ich nachdenke, mal flüchtig, mal intensiv.
Sie führen dann ins gegenwärtige „Wirrwarr“ (67) und das ist gut so.
Ich brauche das, wir brauchen das.
Um lebendig zu bleiben.
Aber nur selten führt die Lektüre auch dazu, dass ich so lange dran bleibe, bis ich Antworten gefunden habe.

Dir ist ein gutes, anregendes, spannendes Buch gelungen.
Ich habe es gern gelesen.
Gerne drüber nachgedacht.
Gern drüber geschrieben.

 

Ina Praetorius: Erbarmen. Unterwegs mit einem biblischen Wort. Gütersloher Verlagshaus, 14,99 €

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