Philipp Gessler hat es unternommen in diesem Jahr eine Biografie von Wolfgang Huber zu verfassen, dem ehemaligen Bischof und EKD-Ratsvorsitzenden. Er ist dabei so vorgegangen, dass er insbesondere Interviews mit Huber selbst und mit Menschen geführt hat, die mit ihm mehr oder weniger eng verbunden sind. Das macht die Sache reizvoll, eine ausführliche Bewertung des Lebenswerks Hubers ersetzt das nicht, dazu ist es aber vielleicht noch zu früh, schließlich wirkt er im Ruhestand weiter.
Ich habe das Buch zum Geburtstag geschenkt bekommen und innerhalb kürzester Zeit gelesen. Es war spannend – weil ich dabei meiner eigenen Geschichte begegnet bin, die im Blick auf mein theologisches Denken untrennbar mit dem Namen Hubers verbunden ist. Ich habe das Buch aus meiner Perspektive gelesen und dabei noch einmal diese Jahre an mir vorbei ziehen gelassen. Denn meine »Kirchengeschichte« beginnt in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts in einer Zeit, in der Wolfgang Huber in die Öffentlichkeit dringt, in der Friedensbewegung und als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages.
Ich habe das Glück gehabt, ihm in meinem Studium in seinen ersten Professorenjahren in Marburg zu begegnen. Daher habe ich zuallererst das Kapitel über Marburg aufgeschlagen. Die Theologin Helga Kuhlmann schreibt dort:
»Er war schwungvoll. Er war begeistert von seinen Anliegen. (…) Dieser Stil hat mir mehr imponiert als eine Theologie, die nur Fakten vermittelte. Hubers Theologie hat die bestärkt, die davon überzeugt waren, dass Christsein nicht nur in der Kirche oder nur im Privaten stattfindet. (…) Er hat nicht abgelehnt, dass Theologie auch Frömmigkeit bedeutet, aber er hat deutlich gemacht, dass Frömmigkeit allein nicht ausreicht.« (S. 133)
Diesen Worten kann ich mich voll und ganz anschließen. Meine bis heute andauernde Begeisterung für sozialethische Themenstellungen geht zurück auf die Vorlesungen und Seminare bei Huber. Das Buch »Folgen christlicher Freiheit«, das in der Zeit in Marburg erschien, habe ich damals sofort gekauft, ziemlich zerlesen steht es in meinem Regal. Neben dem Gemeindepfarramt habe ich mich von Anfang an im KDA (Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt) engagiert. Einen vorläufigen Höhepunkt hat diese »Anstiftung zur Sozialethik« in meiner Dissertation (»Entgrenzung und Begrenzung von Arbeit«) gefunden, die 2012 abgeschlossen wurde. Diese beginnt auch mit einem Huber-Zitat, allerdings eher zufällig und nicht als Hommage »geplant«.
Als Huber nach Heidelberg zurück ging, habe ich seinen weiteren Weg aus der Ferne beobachtet. Von daher ist Gesslers Biografie spannend, um diese Stationen und den inhaltlichen Werdegang Hubers aus anderer Sicht dargestellt zu bekommen.
Etwas überraschend, wenn auch nicht ganz neu, war für mich die Erkenntnis, dass Huber schon früh in seiner Zeit bei der FEST in Heidelberg interdisziplinär ausgerichtet war. Ich kann mich zwar daran erinnern, dass er z.B. in der Friedensfrage mahnte, sehr genau hinzuschauen und die Details zu berücksichtigen. »Gesinnungsethik« reicht nicht, bläute er uns ein. Als Plädoyer für interdisziplinäres Arbeiten habe ich das damals dennoch nicht verstanden. Dennoch war auch mir immer wichtig, über den Tellerrand der theologischen Wissenschaft hinaus zu schauen. Dies führte dann später auch zu der Entscheidung, noch einmal an der Fernuni in Hagen Erziehungswissenschaften und Sozialpsychologie zu studieren. Ich frage mich jetzt, ob Huber hier einen Einfluss auf meine Einstellung hatte, der mir bislang verborgen geblieben ist.
Der Durchgang durch die letzten 35, 40 Jahre lässt dann auch eigene Erinnerungen an friedensbewegte Zeiten, an die Kirchentage ein den achtziger Jahre oder an die intensiven Diskussionen in Pfarrkonvent und Gemeinde in den letzten Jahren um das Impulspapier »Kirche der Freiheit« aufkommen. Ich verstehe auch besser den Prozess, den manche als »Nachdunkeln« bezeichnet haben und von dem Huber selber sagt,
»dass man im Laufe der Jahre ein besseres Verständnis für die Bedingungen und Zwänge entwickelt, unter denen Handeln in der Politik und auch in der Kirche steht.« (S. 166)
Vor diesem Hintergrund ist es spannend zu lesen, wie Huber sich zu Themen der Ökumene, zum Streit um den Religionsunterricht in Berlin, zum Islam und anderen, z.T. immer noch aktuellen Themen geäußert hat. Egal, wie ich im Einzelfall selber denke, mir hat immer der Mut und Klarheit imponiert, sich stets zu äußern aus einer theologischen Verantwortung heraus. Dies hat der »Fast-Nicht-Theologe« Gessler (vgl. S. 11), wie ich finde, gut deutlich gemacht.
Zum Schluss eine kleine Begebenheit, in der ich Wolfgang Huber so erlebt habe, wie er auf vielen Seiten dieses Buches von Weggefährten beschrieben wird. Im Jahr 2003 wird er zum Ratsvorsitzenden gewählt, im gleichen Jahr feiert die KDA-Regionalstelle Duisburg-Niederrhein ihr zehnjähriges Bestehen. Prediger im Festgottesdienst war Präses Nikolaus Schneider, den Festvortrag in der Lohnhalle des Bergwerks West in Kamp-Lintfort hält Jürgen Schmude. Ich selber stand damals dem Geschäftsführenden Ausschuss der Regionalstelle vor, es erscheint eine Festschrift. Dieses kleine Heft packe ich nach der Wahl Hubers in einem Umschlag, zusammen mit einem Brief, in dem ich ihm zur Wahl gratuliere und darauf verweise, dass mein Engagement für den KDA auf die »Anstiftung« zur Sozialethik durch ihn zurückgeht. Etliche Wochen später kommt ein Brief aus Hannover von Jens Kreuter, dem Referenten Hubers bei der EKD. Kreuter schrieb mir sinngemäß: Wolfgang Huber hat eine Vielzahl von Glückwünschen zu seiner Wahl erhalten, die er in der Regel mit einem Formbrief beantwortet ließ. Meine Gratulation hätte er aber gezielt herausgezogen und ihn, Jens Kreuter, gebeten eine Antwort zu schreiben – weil er wusste, dass auch Kreuter maßgebliche Anstöße von ihm erhalten habe.