Auf Facebook kommentierte ein Leser meinen vorangegangenen Blogbeitrag:
»Haben wir vielleicht nicht mehr die richtigen Antworten (auf die Fragen), die uns aus der säkularisierten Welt gestellt werden? Oder sind wir mittlerweile durch NKF und andere Finanzdiskussionen eine beliebige Organisation wie alle anderen geworden?«
Letzteres glaube ich nicht. Das NKF (Neues Kirchliches Finanzwesen) wird kommen und irgendwann gehen. Und dieser Struktur- und Umorganisationsprozess verschlingt viel Zeit und Kraft, das ist keine Frage. Aber ich glaube nicht, dass das die Ursache der veränderten Wahrnehmung von Kirche in unserer Gesellschaft ist.
Die erste Frage beschäftigt mich mehr. Welche Fragen werden uns gestellt? Wer ist »Gott«? Welche Rolle kann er oder sie in meinem, unserem Leben spielen? Werden uns noch Fragen gestellt? Aber auch: Welche Fragen stellen wir der Welt? Um auf diese Fragen Antworten zu finden, dazu müssen wir unter die Menschen.
Aber ich will nicht falsch verstanden werden:
Es geht mir nicht um eine »demütige« Haltung. Es geht nicht darum zu schweigen, weil Kirche zu lange zu viele Worte gemacht hat. Vielleicht hat sie, haben wir das das. Aber deswegen nun demütig schweigen, das wäre das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Wir haben etwas zu sagen. Ruhig, gelassen und selbstbewusst.
Es geht mir auch nicht um Schuldzuweisungen. Die gehen oft an der Tatsache vorbei, dass die (individuelle) Schuldzuweisung eine viel zu einfache Welterklärungsformel darstellt, die meilenweit an dem vorbei geht, was Hannah Arendt und andere als das Geflecht von Beziehungen und Bezogenheiten bezeichnet haben.
Es geht mir um einen Standortwechsel, der mit einem Blickwechsel verbunden ist. Und da fallen mir wieder Worte von Dietrich Bonhoeffer ein, die er am Jahreswechsel 1943/44 geschrieben hat:
»Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, daß wir die großen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden sehen gelernt haben. Wenn nur in dieser Zeit nicht Bitterkeit oder Neid das Herz zerfressen hat, daß wir Großes und Kleines, Glück und Unglück, Stärke und Schwäche mit neuen Augen ansehen, daß unser Blick für Größe, Menschlichkeit, Recht und Barmherzigkeit klarer, freier, unbestechlicher geworden ist, ja, daß das persönliche Leiden ein tauglicherer Schlüssel, ein fruchtbareres Prinzip zur betrachtenden und tätigen Erschließung der Welt ist als persönliches Glück.« (Dietrich Bonhoeffer, Der Blick von unten, Widerstand und Ergebung Neuausgabe 1977, S. 27)
Der Blick von unten – darum geht es mir. »Als Pfarrer«, als Theologe, als Kirche stehe ich nicht mehr (?) automatisch »oben«. Niemand schaut mehr zu mir auf, einfach »nur« weil ich Pfarrer bin. Wenn ich gehört werden will, muss ich mich einmischen und überzeugen. Mit meinen Inhalten, vielleicht auch mit der Art und Weise der Kommunikation. »Man« hört mich, uns nicht mehr, nur weil wir Kirche sind. Das ist vorbei. Vielleicht nicht überall, es mag noch Ecken und Winkel, vielleicht auch Bereiche in unserer ausdifferenzierten Gesellschaft geben, wo es noch anders ist. Aber sich dorthin zurückziehen? Das wäre erstens sachlich falsch und ein freiwilliger Rückzug ins Ghetto der Frömmigkeit. Nach unten muss sich unser Blick richten. Oder besser gesagt: Wir müssen die paar Schritte nach unten machen und dann stellen wir fest, wir können, müssen einander auf Augenhöhe begegnen. Und wir erkennen: da stehen nicht nur die sogenannten Armen und Bedürftigen. Die auch – aber auch alle anderen. Ich habe das für mich gelernt, als ich vor bald drei Jahren aus dem neben der Kirche stehenden Pfarrhaus auszogen und in in ein Miethaus mitten im Pfarrbezirk gezogen. Also »unter« die Gemeinde. Mit einem Mal habe ich meine Gemeinde, die Menschen, die Gebäude, die Veranstaltungen mit anderen Augen gesehen. Solche Blickwechsel sollten wir vermehrt als »Kirche« anstreben. Darum geht es mir. Und da lerne ich noch und habe noch viel zu lernen. Ich lerne das auf Facebook und von meinen Konfirmandinnen und Konfirmanden. Ich lerne das von den jungen Menschen, die ihre Kinder taufen lassen wollen oder die kirchlich heiraten möchten. Und das ist so spannend.
Der Blick von unten, unter den Menschen stehend. Ich mische mich, überspitzt formuliert, als Mensch und nicht als Pfarrer zum Beispiel in die sozialen Netzwerke ein. Als Mensch heißt hier: als Mann in meinen Beziehungsgeflechten und dazu gehört ganz selbstverständlich – nicht mehr, aber auch nicht weniger – mein Pfarrberuf, meine christliche Überzeugung, mein Interesse an interdisziplinärer Wissenschaft, an der Begegnung mit Kunst, Kultur und Sport usw. Und ganz selbstverständlich veröffentliche ich meine Predigten, meine Gedankensplitter, meine Fragmente oder auch die längeren Texte im Netz. Und wer sie lesen will, wird sie lesen. Antje Schrupp schreib dazu vor ein paar Tagen in einem Blogbeitrag:
»Ich schreibe meinen Blog, weil ich der Meinung bin, dass das, was ich hier schreibe, geschrieben werden muss, weil ich glaube, dass die Welt das braucht. Ob das auch noch andere so sehen, ist für mich kein Kriterium. Natürlich freue ich mich, wenn das so ist. (…) Das Wichtige am Bloggen ist nicht die quantitative Verbreitung, sondern diese Qualität: Ich muss meine Ideen und Gedanken bloggen, denn nur so können diejenigen, für die das eventuell relevant ist, sie auch finden. (…) Darin liegt nämlich die wirkliche wahre Qualität jeder Sache, die getan wird (…): Dass jemand etwas tut, weil er oder sie findet, dass das getan, gesagt, gemacht werden muss. Jeder schöpferische Prozess ist sozusagen eine Wechselwirkung zwischen dem Subjekt und der Welt, die gegenseitig aufeinander antworten.«
(http://antjeschrupp.com/2012/05/05/dekoration-und-reichweite-oder-auch-was-ist-relevanz/)
Genau darum geht es mir. Schöpferische Wechselwirkung. Fruchtbringender Dialog auf Augenhöhe. Es wird gefunden, was gefunden werden soll. Die Geistkraft Gottes weht, wo sie will (Joh 3,8). Jesus hat auch nur einmal auf dem Berg gepredigt und die großen Städte mit ihren Menschenmassen eher gemieden. Aber in den Dörfern war er umringt von Menschen, die ihm ganz persönlich begegnen wollten. Als Mensch unter Menschen.
Der Blick von unten. Als Mensch unter Menschen, nicht als Pfarrer der Gemeinde und der Welt gegenüber. Da »unten« fühle ich mich auch als Pfarrer, als Vertreter dieser Institution mit ihrer langen Tradition und mit ihren faszinierenden Grundlagentexten sehr wohl. Wir haben was zu sagen. Das gelingt nicht immer, es scheitert auch immer wieder. Aber das leise Vier-Augen-Gespräch macht mir mehr Spaß als oben auf der Bühne in ein Mikrofon vor hundert oder mehr Menschen zu reden. Ich gebe zu: ab und zu macht mir das auch Spaß. Aber interessanter, kommunikativer, kreativer ist das andere Gespräch. Unten eben.