»Jeder von uns wurde ständig gefragt,was er werden sollte. Niemand war schon etwas. Mir engte diese Frage von Anfang an die Kehle ein. Und sie empörte mich: Weshalb zum Teufel sollte ich immerzu etwas werden? War ich nicht schon etwas? (…)
Ich beneidete die Mädchen darum, nicht ständig gefragt zu werden, was sie werden wollten. Während wir Besitztümer der Gesellschaft waren, die den Daumen hob oder senkte, ließ man die Mädchen damals – wir sind in den späten Sechzigern oder frühen Siebzigern – noch halbwegs in Ruhe.
Heute haben Frauen die Wahl, zumindest theoretisch. Sie haben sie sich erkämpft. Sie haben eine Wahl. Wir haben sie nicht. Wir müssen immer noch etwas werden.« (Ralf Bönt, Das entehrte Geschlecht. Ein notwendiges Manifest für den Mann, 95f.)
Zwischen den beiden Teilen des Zitats beschreibt Ralf Bönt was passierte, wenn er als Kind »Kindergärtner« antwortete, wenn die Frage an ihn gestellt wurde, was willst du denn mal werden. Unverständnis, Entsetzen, hochgezogene Augenbrauen. Irgendwann habe er dann »Astronaut« gesagt – und alle waren zufrieden.
Wenn heute ein Junge Erzieher werden will, erntet er immer noch Skepsis. Und Mädchen in Männerberufen werden teilweise begeistert gefeiert. Exoten eben, alle beide…
Aber darum geht es mir nicht. Mich beschäftigt dieses: Etwas werden müssen. Bönt formuliert sein Unbehagen, warum er etwas werden muss und nicht etwas ist.
Im ersten Moment scheint dieser Protest dem Gedanken eines lebenslangen Lernens zu widersprechen. Ich »werde« doch Zeit meines Lebens und das nicht (nur) im Sinne eines ökonomischen Verwertungsgedankens, in dem das lebenslange Lernen propagiert und den Menschen aufgedrückt wird, damit er und sie in den Zwängen des Wirtschafts- und Produktionssystems ihre Aufgabe erfüllen können. Lebenslanges Lernen als lebenslanger Verwertungs- und Ausbeutungsprozess.
Lebenslanges Werden dagegen ist spannend, schön, bereichend – und schrecklich, beängstigend. Veränderung, Erfahrung, Einsicht, Umkehr sind möglich, wenn auch schwierig. Gib mir einen Punkt, an dem ich stehen kann und ich hebe dir die Erde aus den Angeln. Dieser berühmte Satz von Archimedes, ursprünglich als Verdeutlichung des Hebelgesetzes formuliert, wurde in der Philosophie sprichwörtlich für die Frage nach einem Ort der sicheren Erkenntnis – verbunden mit der Einsicht, dass es diesen sicheren Standort nicht gibt und wir daher immer hin und her schwanken. Aber darum geht es mir auch nicht.
Was willst du mal werden, wenn du groß bist? Dahinter leuchtet der Gedanke auf, dass der Haushalt, in dem ich aufwachse, verlassen werden muss. Er ist nicht der Ort, an dem ich – als Mann – das sein kann, was ich bin. Ich muss etwas werden. Ein Lokomotivführer. Ein Polizist. Ein Chef. Das werde ich nicht zuhause, dazu muss ich raus ins Leben. Raus in die Welt. Heimat verlassen. Lonely rider. Das ist ein Mann! Na toll. Am Ende saufen Männer viel mehr und leben viel kürzer, merkt Bönt sarkastisch an (18f.) Was für Aussichten, was oder wer oder wie »werde« ich denn da?!
Frauen fordern die andere Hälfte des Himmels, hieß es mal und heißt es immer noch. Ralf Bönt streitet dann dafür, die Hälfte der Erde für Männer (zurück?) zu gewinnen. Oder umgekehrt: Männer für diese andere Hälfte des Erde zu gewinnen. Das Buch ist ein Weckruf – hallo Männer, wo seid ihr?!
In der Frage »Was willst du mal werden?« wird die Abwertung der Haus- und Familienarbeit sichtbar. Wir sind auf diesem Weg schon weit gekommen. Auch Mädchen lernen heute grundlegende Fertigkeiten im Haushalt nicht mehr (aua, jetzt ist mir doch glatt auch das »auch« in die Tastatur gerutscht…). Hauswirtschaftlicher Unterricht und Werkunterricht sind verschwunden aus unseren Schulen, keine Zeit mehr dafür da, es gibt Wichtigeres zu lernen, schließlich muss ich was werden und die Anforderungen »draußen« werden immer höher… Und das gilt auch für Frauen, denn die müssen inzwischen ja auch etwas werden, ist ja nicht mehr so »wie früher«. Etwas werden. In einer Zeit, in der Ausbildung bei weitem nicht mehr so zählt (= Anerkennung gibt) wie »früher« ist die Verunsicherung total. Und die Männer saufen und sterben früher. Merkwürdiger Triumph für die Frauen. »Sind« sie vielleicht mehr, weil sie weniger »werden« müssen und daher »gesünder« leben…?
Und das Perfide ist ja, dass wir alle uns danach sehnen, uns in unserer Arbeit ausdrücken zu wollen und dafür Anerkennung erhoffen. Frithjof Bergmann hat das auf die Formel gebracht: Es gibt kaum etwas Befriedigenderes als eine Arbeit, die ich wirklich,wirklich will. Und ich ergänze: …und wenn diese meine Arbeit gesehen wird. Das gilt für die unsichtbare Hausarbeit genauso wie für die angesehene berufliche Arbeit. Aber, wenn ich werden muss, was ich vielleicht gar nicht bin oder sein will und dafür dann eine Anerkennung bekomme, die irgendwie an meiner Sehnsucht vorbei geht, weil es eben keine Arbeit ist, die ich wirklich, wirklich will – was bedeutet das für mich und mein Selbstverständnis? Wer bin ich denn dann und wer will ich werden? Und gibt es Freiheit in bzw. von den Zwängen des ökonomischen Verwertungs- und Ausbeutungssystems?
Etwas werden, weil ich etwas bin. Das wär´s doch. Der Himmel auf Erden. Für Frauen und Männer, Männer und Frauen. Wenn es denn so einfach wäre…
Das ist ja interessant! So habe ich das Thema noch nicht betrachtet. Mich hat eigentlich im Jahr 1955 keiner gefragt, was ich werden möchte. Ich sollte den Beruf meines Vaters übernehmen und damit hatte es sich.
Ich glaube, wenn man mich gefragt hätte, ich hätte einen anderen Beruf genannt. Vielleicht Ingenieur oder ähnliches.
Ich glaube, dann wäre es irgendwie ein Verstoß gegen die damalige Familientradtion gewesen?
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