Samstagnachmittag, Nachdenken über Zuständigkeiten von Pfarrersleuten, Social Media und die Beharrlichkeit einer Frau im Neuen Testament

In Deutschland ist die Zuständigkeit klar geregelt – es gibt keinen Ort, nicht den kleinsten, der nicht zu einer Kirchengemeinde gehört. Manche sind riesengroß und ziehen sich über endlos scheinende Kilometer, umfassen zehn oder mehr Dörfer. Andere in Ballungsräumen umfassen nur wenige Straßenzüge und wenn ich manchen Hochhauskomplex in Großstädten sehe, dann rechne ich schon mal hoch, wie groß so ein Komplex sein müsste, damit der seinen oder ihren eigene(n) Hauspfarrer(in) hat. Kein evangelisches Menschenkind fällt durchs Netz, kein Ort ist zu klein oder zu weitab, alles geregelt.
Umgekehrt heißt das: jede Pfarrerin, jeder Pfarrerin in einer Gemeinde hat seine/ihre »Parochie« (so heißt das im Kirchenchinesisch) und ist für die Menschen als Seelsorgerin, als Seelsorger zuständig. So heißt es denn auch auf ekd.de: »Parochie (griech.: paroika = Aufenthalt in der Fremde) bezeichnete ursprünglich die christliche Gemeinde, die in der Welt lebt. Heute wird darunter ein abgegrenzter Pfarrbezirk innerhalb einer Kirchengemeinde verstanden. Entsprechend wurde der Pfarrer auch Parochus genannt.« Damit weiß auch die Pfarrperson, für wenn sie zuständig ist und für wenn nicht. Das hat etwas Klares und Entlastendes. Grenzen sind gut und wichtig.
So weit so gut.

Was ist aber, wenn es nicht so gut ist?
Wenn ich mit meinem Pfarrer nicht klar komme? Warum auch immer, Gründe gibt es immer welche, er hat bei der Beerdigung meiner Oma den Namen verwechselt, sie hat mich nicht im Krankenhaus besucht, er ist so ein linker Vogel oder ein ganz Frommer, sie macht sich für die »Schwulen-Ehe« stark oder was auch immer. Zum Gottesdienst kann ich natürlich gehen wohin ich will, aber bei der Beerdigung oder der Taufe wird es schon schwieriger.
Bin ich damit auf Gedeih und Verderb an ihn oder sie gebunden? Zuständig ist zuständig. Nun sieht das Kirchenrecht für solche Fälle auch Lösungswege vor, aber darum geht es mir nicht. Ich frage mich eher, was es eigentlich für das Selbstverständnis von »uns« Pfarrerinnen und Pfarrern bedeutet, für einen fest begrenzten Raum verantwortlich zu sein, kirchenjuristisch gesprochen, »in Dienst gestellt zu sein«. Und das in einer Zeit, in der an allen Ecken und Enden über Entgrenzung nachgedacht wird. Insbesondere und vor allem auch durch die neuen digitalen Vernetzungsmöglichkeiten, die gänzlich neue Vergesellschaftungen ermöglichen. Ich will jetzt auch nicht über dieUnterschiede und die Nachteile usw. nachdenken, die das alles mit sich bringt, das weiß ich alles oder zumindest einiges. Ich will auch nicht darüber nachdenken, ob sich das Parochie-Prinzip allmählich überlebt. Das tut es nicht, ganz abgesehen davon, dass es so tief in der Struktur der heutigen evangelischen Kirche in Deutschland verankert ist, das eine »Reformation« kaum denkbar wäre. Und es ist auch nicht wünschenswert. Es hat ja sein Gutes, wenn ich weiß wer für mich und für wen ich zuständig bin.
Aber…

Ja, aber…
Wie komme ich jetzt überhaupt auf dieses Thema?
Der Anlass ist einfach – es sind die Beiträge in dem noch recht neuen Blog meines rheinischen Kollegen Ralf-Peter Reimann (http://theonetde.wordpress.com/). Sie erinnerten mich an die Erfahrungen mit meiner eigenen Website seit 1998 (aufgeschrieben in aller Kürze hier: http://www.matthias-jung.de/Historie.html). Reimann war in diesen frühen Tagen des Netzes schon einmal Internetbeautfragter der rheinischen Landeskirche und ist es nun wieder. »Damals« (!?) hatten wir schon einen regen Austausch über Chancen und Möglichkeiten des neuen Mediums für die Kirche, den Dialog haben wir grade wieder aufgenommen.
In seinem Blog schreitet er die Grenzen zwischen Kirche und Social Media ab und beim Lesen erinnerte ich mich an Anfragen per Mail: »Können Sie mir helfen, mit meinem Pfarrer kann ich da nicht drüber reden, der hat mich mal zutiefst verletzt.« »Ich würde mich gerne taufen lassen, aber der Pfarrer in meinem Ort besteht auf einem umfangreichen Unterrichtsprogramm.« »Meine Mutter ist heute gestorben, die Pfarrerin hier vor Ort ist furchtbar, ich hab im Netz eine Predigt von Ihnen gefunden, sie hat mich getröstet.« Solche – fiktiv formulierte, aber in der Sache zutreffenden – Mails habe ich vor allem in der Frühzeit des Netzes auf meine Seite hin oft bekommen und sie haben mir die Sprache verschlagen. Da sind Menschen, die mich nicht kennen, überhaupt nicht und sie sind doch bereit, mir ihr Herz zu öffnen, auszuschütten. Ich habe immer gerne geantwortet – wohl wissend, dass ich damit auch – im Sinne der Parochie gesprochen – in den Zuständigkeitsbereich eines oder einer anderen eingebrochen bin.
Und wahrscheinlich gibt es viele andere Kollegen, die ähnlich Erfahrungen gemacht haben. Doch was bedeutet das denn für mein Selbstverständnis als evangelischer Gemeindepfarrer? Wie gehe ich damit um, in anderen Bereichen zu »wildern«, wie geht es mir umgekehrt damit, dass andere Pfarrer/innen in meinem Zuständigkeitsbereich aktiv werden…?
Dahinter verbirgt sich die weitergehende Frage für mein Selbstverständnis: bin ich Pfarrer oder Pfarrerin solange ich in meiner Parochie herumlaufe? Und im Urlaub? In der Freizeit? »Bin« ich Pfarrer nur dann, wenn ich »im Dienst« bin?

Ich bin gerne Pfarrer, trotz all der Mühen, die das mit sich bringt, in einer sich permanent wandelnden Großinstitution zu arbeiten. Aber ich bin auch gerne erkennbar als Pfarrer in den sozialen Netzwerken, bin neugierig auch auf Menschen und ihre Erfahrungen, Fragen von außerhalb. Offenbar »ist« der Pfarrberuf vielfach immer noch mit einem Vertrauensvorschuss ausgestattet, das erlebe ich grade in solchen Momenten immer wieder, wenn mich ein wildfremder Mensch anspricht. Das ist zwar seltener geworden, es gibt ja inzwischen auch Chat-Seelsorge usw. Aber ich freue mich doch, wenn ich höre, dass ein Gedanke, eine Mail, eine Predigt weiterhilft, vielleicht auch die unguten Erfahrungen mit einem Kollegen, einer Kollegin wenn schon nicht korrigiert, aber vielleicht doch in einem anderen Licht erscheinen lässt. Denn ich gehe auch davon aus, dass es Menschen gibt, die mit mir schlechte Erfahrungen gemacht haben und denen es gut tut, wenn sie einer anderen Pfarrperson in ihrem Leben begegnen, die das vielleicht heilen kann.

In einem Interview mit Otto Scharmer las ich dieser Tage: »Das Neue kommt nicht aus den bestehenden Strukturen, sondern immer aus der Peripherie.« (Heute fängt die Zukunft an, Interview in: Wir – Menschen im Wandel 04/2012, S. 14). Spannender Gedanke…
Mir fiel dazu aus dem Neuen Testament die Geschichte von der kanaanäischen Frau ein, die zu Jesus kommt und ihn um Heilung ihres Kindes anfleht. Jesus will nicht und sagt zu ihr, gut parochial gedacht: »Ich bin nur zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel gesandt.« Sie aber lässt nicht locker: »Ich höre auf dich, hilf mir.« Er fühlt sich nicht zuständig: »Es ist nicht gut, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden hinzuwerfen.« Und sie fleht in ihrem entgrenzenden Vertrauen, ihrer verzweifelten Hoffnung: »Ja, doch ich gehöre dir und die Hunde fressen von den Krümeln, die vom Tisch der Menschen fallen, denen sie gehören.« Das rührt Jesu Herz und er sagt zu ihr: »Frau, dein Vertrauen ist groß. Es geschehe dir, wie du willst.« (Matthäus 15,24-28)

Für mich ist das die Geschichte, die jede Parochie daran erinnert, dass sie ihren Sinn verliert, wenn sie sich exklusiv und ausgrenzend verhält. Gott sei Dank endet die Zuständigkeit nicht an den Grenzen der Parochie. Formaljuristisch schon, aber das sind nur Hilfskonstruktionen, die Begegnung nicht verhindern dürfen – und letztlich auch nicht können, das zeigt diese biblische Geschichte. Auch die heutige Parochie braucht den Anstoß von außen, das belebende Element. Aber ich auch als einer, der für eine Gemeinde »zuständig« ist! Und da wird es dann in Zeiten von Facebook und Co. spannend, wenn sich Gemeinden, aber auch ihre Pfarrerinnen und Pfarrer auf Social Media einlassen. Da werden Grenzen durchlässig. Das ist spannend und ärgerlich, kreativ und bedrohend. Aber in Ordnung. Und wir müssen da ran, uns als Pfarrersleute damit auseinandersetzen, aus-ein-ander, buchstäblich. Denn Gott sei Dank steht diese Geschichte in der Bibel. Auch Jesus war nicht davor gefeit, in Grenzen zu denken. Das ist tröstlich. Aber die Beharrlichkeit dieser Frau rührte ihn an, brachte ihn zum Umdenken, zur Ein-Sicht. Und macht mich nachdenklich.

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