Traditionsabbruch und Pfarrerrolle.
Gedanken nach zwei Jahren Pfarramt (1992)
Vorbemerkung:
Den Text fand ich heute beim Aufräumen meiner Festplatte. Irre, dachte ich, zwanzig Jahre her, da warst du ganz junger Pfarrer. Dann fing ich an zu lesen und wurde immer nachdenklicher. Manches klingt ein wenig angestaubt, anders immer noch aktuell.
Eigentlich reizt es mich, einen Kommentar aus heutiger Sicht dazu zu schreiben. Vielleicht demnächst. Für heute stelle ich das mal so einfach in das Blog. Kommentare erwünscht!
I.
Voerde, Niederrhein, Frühjahr 1991. Mitglieder unseres Presbyteriums und Vertreter des katholischen Gemeinderates treffen sich, um gemeinsam das Jahr der Bibel zu planen. In verschiedenen Gruppen diskutieren wir dieses Thema. Ergebnis: Es besteht weitgehende Unkenntnis über die Bibel, sowohl was den Inhalt als auch die Hintergrundinformationen betrifft. Ich komme mir vor wie ein Exot mit meinem Wissen aus zehn Jahren Studium und Ausbildung.
So wie an diesem Abend geht es mir häufig in meiner Gemeinde. Elementares Wissen über Bibel und christlichen Glauben ist nicht mehr vorhanden. Kaum ein Gemeindeglied ist in der Lage, eine Bibelstelle aufzuschlagen. Konfirmanden fehlt oft jegliches Informationen über Kirche und Glauben. Den allermeisten Gemeindegliedern ist der Ablauf des Gottesdienstes völlig unverständlich. Der Kontakt zur Kirche beschränkt sich im wesentlichen auf Begegnungen bei Kasualien oder Geburtstagsbesuchen. Bekannt sind allenfalls noch das Vater Unser, oft Psalm 23 und manchmal »Lobe den Herren« (EKG 234) oder »So nimm denn meine Hände« (EKG 529).
Auf der anderen Seite liegen die Grundfragen unserer menschlichen Existenz bei vielen Menschen ganz dicht unter der Oberfläche. Manchmal treten sie eruptiv an die Oberfläche. Bei einem Abend mit Konfirmandeneltern sprach ein Vater ganz offen über seine Zweifel an der Existenz Gottes. Es entwickelte sich unter den Eltern ein lebhaftes Gespräch. Doch ebenso offen wurde auch die Unfähigkeit zum Ausdruck gebracht, sich zu einer weitergehenden Beschäftigung mit diesen Fragen aufzuraffen. Interesse am Glauben existiert zwar, doch die traditionellen Arbeitsformen kirchlichen Lebens sind offenbar nicht mehr attraktiv genug, um Menschen zur Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Glauben einzuladen. Wo Menschen sich mit Bibel und Glaube auseinandersetzen, geschieht es oft abseits der Kirche. Kirche wird mit veraltet, verstaubt und dogmatisch überholt gleichgesetzt.
II.
Nun hängen Glaube und Wissen untrennbar zusammen. Glaube ist zwar Geschenk Gottes, aber er fällt nicht vom Himmel. Die Tradition des Unterrichtes hat sich durch die gesamte Kirchengeschichte hindurch gezogen – mit Recht. »Verstehst du eigentlich, was du da liest?« fragt Philippus den äthiopischen Kämmerer und dieser antwortet: »Wie kann ich verstehen, wenn mich niemand anleitet?« (Apg 8,30f). Diese Grundstruktur gehört zum christlichen Glauben. Ohne Informationen über Bibel und Christentum kann niemand die christliche Wahrheit erfassen. Natürlich machen Menschen (z.B. in Extremsituationen) Gotteserfahrungen – aber die Wahrheit des christlichen Glaubens erschließt sich erst durch die Person Jesu Christi. Doch über Jesus existieren in unserer Kirche (und Gesellschaft) nur noch bruchstückhafte Informationen. Biblische Geschichten sind weitgehend unbekannt. Wo eine Erzählung einmal dem Namen nach bekannt ist, kann sie oft nicht richtig wiedergegeben werden. Auf der anderen Seite stehen die Vorurteile über Wundergeschichten, über Schöpfungsberichte usw. neben den Anfragen, wie Gott es zulassen kann…
III.
Traditionsabbruch. Er hat sich vollzogen, nicht nur in den Städten, auch in den ländlichen Gegenden. Es gibt so gut wie nichts mehr, was die Eltern ihren Kindern vom Glauben weitergeben (können). Arbeit in der Volkskirche muß diese Realität in der ganzen Tragweite akzeptieren und sich darauf einstellen. Ich habe es als Pfarrer mit Menschen zu tun, die in der Kirche weiter sein wollen, aber von ihr selbst und der christlichen Botschaft so gut wie nichts mehr wissen. Ausgehen kann ich lediglich noch von den Kontaktmöglichkeiten, die sich mir als Pfarrer eröffnen. Die mögen sehr unterschiedlich sein. Ich habe einmal für meinen Bezirk überlegt, mit wie vielen Gemeindegliedern ich im Jahr zusammenkomme.
Zum sonntäglichen Gottesdienst kommen in der Regel zwischen 40 und 60 Menschen. Ich schätze, daß ca. 150 Personen mindestens einmal im Monat die Kirche besuchen. Ich habe 30 Konfirmanden, deren Eltern ich einmal besuche (zusammen 90 Personen). Ich gehe von 30 Beerdigungen im Jahr aus und habe bei den Trauerbesuchen insgesamt mit etwa 75 Menschen gesprochen. 20 Kinder werden getauft – zusammen mit den Eltern habe ich dabei mit ca. 60 Personen gesprochen. Es finden etwa 10 Trauungen (einschließlich Gold- und Silberhochzeiten) statt, macht noch einmal 20 Personen. Ich mache mindestens 50 Geburtstagsbesuche bei älteren Gemeindegliedern und spreche dort mit sehr vielen Menschen, da in meiner Gemeinde viele ältere Menschen bei ihren Kindern wohnen und Nachbarschaft zum Teil groß geschrieben wird (also ca. 250 Personen). Zur Frauenhilfe kommen etwa 30 Frauen, zum Frauenabendkreis 25, zum Bibelkreis 10 und zum Kindergottesdienst 25. Alles zusammen komme ich auf eine Zahl von 700 Personen, mit denen ich mehr als einen flüchtigen Kontakt habe. Ziehe ich die Mehrfachnennungen ab, dann komme ich vielleicht auf 500 Menschen – bei 2450 Gemeindegliedern habe ich also im Jahr mit 20% Menschen meines Pfarrbezirkes zu tun. Bei dieser auf den ersten Blick hohen Zahl muß man sich aber klar machen, daß es bei vielen Besuchen und Gesprächen nicht um Themen des christlichen Glaubens geht und es einmalige Kontakte sind und den größten Anteil die sehr unterschiedlich verlaufenden Geburtstagsbesuche ausmachen. Engere Mitarbeiter, die regelmäßig (ehrenamtlich) »Aufgaben« in meinem Bezirk übernehmen, gibt es bei mir vielleicht 25 Personen.
Ist die »Volkskirche« noch zu retten? Oder anders gefragt: Ist die Volkskirche angesichts solcher Zahlen noch zu verantworten? In der Diskussion über den Gemeindeaufbau ist in den letzten Jahren viel über Chancen der Volkskirche gesprochen worden. Doch abgesehen einmal davon, daß die meisten solcher Programme viel Zeit und Kraft beanspruchen – ist damit dem Traditionsabbruch wirksam zu begegnen? Fordert der fast vollständige Abbruch jeglichen Wissens über den Glauben nicht andere Formen christlichen Lebens (und Lehrens)?
IV.
Traditionsabbruch. Psychologen haben der Kirche und den Pfarrern den Rang abgelaufen. Den Vertrauensvorschuß, wenn es um die Bewältigung des eigenen Lebens geht, besitzen nicht mehr die Pfarrer, sondern die Therapeuten. Nun gibt es da Theologen wie Eugen Drewermann, die eine Verbindung von Theologie und Psychologie suchen. Auf spannende Weise bringen Drewermann und andere Bibel und Leben miteinander ins Gespräch. Doch Drewermann’s Einsichten kann man sich nicht aneignen, indem man sie einfach wiederholt. Auch hier ist (psychologisches) Wissen nötig und die Anleitung zur psychologisch orientierter Bibellektüre. Wer soll/kann das leisten? Dazu kommt noch, daß in den Augen vieler Zeitgenossen die Bibel als Lebensbuch keinen Kredit mehr besitzt. Märchen, die recht interpretiert werden, haben für viele mehr Lebenshilfe und -orientierung anzubieten als biblische Texte.
Eine andere Beobachtung: Das Wort tritt immer mehr hinter dem Bild zurück. Konfirmanden haben mitunter große Schwierigkeiten einen Text auswendig zu lernen und zu behalten. Auf der anderen Seite sind sie noch nach Monaten in der Lage, ein Bild bis in die Einzelheiten zu beschreiben, welches wir im Unterricht ausführlich betrachtet haben. Was bedeutet das für eine Kirche, die ihrem Selbstverständnis nach vom »Wort« lebt?
V.
Wo führt das hin? Wollen wir die Volkskirche so weiterführen wie bisher, mit Menschen, die über ihre Kirche so gut wie nichts wissen und ihre Lebensorientierung aus anderen Quellen beziehen? Können wir das verantworten? Brauchen wir auch weiterhin Hunderte von Pfarrer(inn)en, die fast zehn Jahre ausgebildet werden und dann (im Verhältnis zu den anderen kirchlichen Mitarbeitern) hoch bezahlt werden – dafür, daß sie die Kirchenmitglieder bei Kasualien betreuen und dafür sorgen, daß die Diakonie funktioniert? Kindergärten, Altenheime, Diakoniestationen und Krabbelgruppen sind gerne gesehen, gelegentlich wird hier von der Kirche ein noch stärkeres Engagement gefordert. All das erfordert einen großen Verwaltungsapparat, der mich als Pfarrer gut auslasten kann. Schließlich muß das kirchliche Finanzpotential verantwortungsvoll eingesetzt und verwaltet werden. Dazu gehört, daß Gebäude errichtet und instand gehalten werden, daß Mitarbeiter gesucht und eingestellt werden usw. Nur: Will christlicher Glaube nicht mehr? Bietet er nicht eine grundlegende Lebensperspektive an, eine Weltsicht, die sich von anderen Religionen und Ideologien unterscheidet? Bin ich als Pfarrer damit zufrieden, innerhalb meiner Gemeinde als eine »Symbolfigur« zu fungieren? Doch: Wie soll ich 2500 Menschen in meinem Pfarrbezirk damit erreichen?
VI.
Traditionsabbruch. Er macht mich zu einem Exoten in der Gesellschaft. Mein theologisches Wissen unterscheidet mich von mehr als 90% meiner Mitmenschen. Lebensorientierung beziehen Menschen heute an anderen Punkten. Im Blick auf die Familie mag Kirche vielleicht noch als Orientierungsinstanz angesehen sein, aber z.B. in Fragen der Arbeitswelt nicht mehr. Und im Blick auf Sexualität schon gar nicht. Mein Eindruck ist: In allen wesentlichen Fragen, die Menschen heute bewegen, hat Kirche und Glauben in den Augen der Menschen kaum noch etwas zu sagen. Kirche ist inzwischen nur noch ein Angebot auf dem »Markt der Möglichkeiten«, aber ihre Stimme ist nicht mehr sehr laut. An vielen Stellen – so scheint es mir oft –, betreibt sie Rückzugsgefechte und ist nicht (mehr?) in der Offensive.
Manchmal habe ich das Gefühl, es gäbe zwischen mir als theologischem Fachmann und den »Anderen« einen »garstigen Graben«, von dem Lessing einmal in anderem Zusammenhang sprach. Wie komme ich darüber – und wie kommen die anderen zu mir? Was kann ich als Pfarrer, was kann die Kirche da tun?
VII.
Manfred Josuttis macht deutlich, daß sich der Pfarrer per definitionem von der Gemeinde unterscheidet, weil er eine Leitungsfunktion in einer religiösen Gemeinschaft ausübt. Für viele Pfarrer entsteht nach Josuttis ein Dilemma dadurch, daß sie gleichzeitig auch immer wieder in den Kreis der übrigen Gemeindegliedern zurückkehren wollen. Die Lösung sieht für viele so aus, daß die Gemeinde so werden soll wie der Pfarrer. Josuttis sieht in dieser Spannung Chancen, wenn der Pfarrer seine Andersartigkeit akzeptiert. Dann können vorhandenen Formen von Volksfrömmigkeit zum »hermeneutischen Schlüssel werden für Aspekte…christlicher Religiosität.«
Die Frage ist nur, ob der Erosionsprozeß nicht inzwischen so weit fortgeschritten ist, daß die meisten Gemeindeglieder nicht mehr in der Lage sind, die „Entschlüsselung“ der »Volksfrömmigkeit« nach zu vollziehen. Ganz abgesehen von dem Problem, wo denn Pfarrer und »Gemeinde« zu solchen hermeneutischen Prozessen zusammen kommen. Vielfach beschränkt sich die Beziehung von Pfarrer und »Gemeinde« heute doch auf punktuelle Kontakte. Je größer der Abstand wird, desto schwieriger werden aber auch die Verstehens- und Lernprozesse. Besteht dann nicht eher die Gefahr der religiösen Überhöhung von Festen und Anlässen? Denn wie Lernprozesse ist auch der Glaube auf Kontinuität angewiesen. In einer Stunde lerne ich keine Fremdsprache, eine Fahrstunde befähigt mich nicht, ein Auto im Straßenverkehr zu steuern – so interessant der Lehrer mir das auch vermitteln mag. Und weiter: Ohne ständige Wiederholung verlerne ich eine Fremdsprache oder Auto fahren auch wieder. Wie lange kann ich von einem Gottesdienst, von einer Predigt oder von einem Gespräch wirklich zehren? Was ist also tun, um Menschen das Evangelium in einer Weise nahezubringen, so daß sie es auf der einen Seite verstehen und annehmen können und auf der anderen Seite dazu motiviert werden, sich regelmäßig wieder damit zu beschäftigen?
VIII.
Während ich über diese Fragen nachdenke, fällt mir ein, was Dietrich Bonhoeffer 1944 schrieb und was ich lange nicht mehr gelesen habe: »Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann…, einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder Gesunden – und das nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern die Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist Methanoia, und so wird man ein Mensch, ein Christ.«
»Nichts aus mir machen wollen« – vielleicht bedeutet dies: Nicht an Problemen herum basteln und öffentliche Aktionen planen und durchführen, die eigentlich niemand will (und oft auch noch eine Stange Geld kosten). Bei vielen Aktionen, die in Gemeinden (mit großem Aufwand) geplant und (mit kleiner Teilnehmerzahl) durchgeführt werden, frage ich mich, ob dies alles wirklich effektiv ist und nicht eher einem Aktionismus entspringt, der die unangenehmen Einsichten über den Stand der Dinge verschleiern und verdrängen soll.
»In der Fülle der Aufgaben, Fragen und Ratlosigkeiten leben« – vielleicht bedeutet dies zuallererst: Die Wünsche der Menschen nach dem »diakonischen« Pfarrer hören und ernst nehmen, d.h. mein Augenmerk auf die Kasualien richten, mir Zeit für die Gespräche zu nehmen, Einladungen zu den Feiern im Anschluß an die Kasualgottesdienste wahrnehmen, Menschen zu besuchen, ihnen zuzuhören – und zu warten.
IX.
Zu warten, bis die Zeit reif ist. Denn im Traditionsabbruch stecken auch Chancen. All das, was lange als »christlich« tradiert wurde, fällt nun weg. Weitergeben wurde ja nicht nur das Wissen um den christlichen Glauben, sondern auch viele schädliche und zerstörende Aspekte (vor allem im Bereich der sogenannten »christlichen Moral«), unter denen viele Menschen gelitten haben. Diese Aspekte fallen durch den Traditionsabbruch auch weg. Sie quälen Menschen nicht mehr, wie das in früheren Jahrzehnten noch der Fall war. Übrig geblieben von diesen Zwängen, die Menschen gequält haben, sind heute vielfach nur noch Vorurteile, die aber kaum jemandem weh tun, weil Kirche als Instanz für Lebensorientierung ihre Autorität verloren hat.
Die Fragen, die Menschen mir als Pfarrer stellen, werden grundsätzlicher, radikaler. Nach meiner Erfahrung sind auch heute noch sehr viele Menschen bereit, mir ihre Probleme, Fragen und Zweifel zu schildern. Sie fordern mich heraus. Nicht in erster Linie als Pfarrer, als den theologischen Fachmann. Sondern als Menschen. Schon als einen Menschen, der sich in seiner »Ausbildung« Jahre lang mit dem Wissen über den Glauben beschäftigt hat. Denn den Fachmann sehen die Kirchenmitglieder auch in mir. Aber meine Antworten können sich nicht auf die Zitierung biblischer Worte oder theologischer Literatur beschränken. Gefragt ist die persönliche Antwort, in die natürlich mein theologisches Wissen einfließt. Aber dies allein reicht nicht. Wenn ich persönlich antworte, wird deutlich, daß auch ich ein vom Traditionsabbruch geprägter Mensch unserer Zeit bin. Auch ich habe wie die meisten meiner Zeitgenossen im Elternhaus so gut wie nichts vom christlichen Glauben vermittelt bekommen. Die Fragen und Zweifel der »distanzierten« Kirchenmitglieder sind mir keineswegs fremd. Wo ich mein theologisches Wissen einfach »zitiere«, spüren meine Gesprächspartner, daß dies keine »echten« Antworten sind. Das führt dazu, daß ich oft keine Antwort habe und nichts zu sagen weiß. Aber dann zeige ich mich als Mensch, der auf der gleichen Stufe steht und nicht als »heilige Person«, die auf jede Frage die rechte Antwort hat.
X.
Natürlich werde ich auch weiterhin oft als »der Pfarrer« gefragt und gefordert sein, der die »Grundversorgung« professionell durchführt. Nach Wolfgang Steck gewährleistet dabei gerade nicht die subjektive Gesinnung des Pfarrers die Effektivität der pfarramtlichen Arbeit. »Es ist vielmehr die im Leben gewonnene und am Leben erprobte praktische Vernunft, die den Arbeitszusammenhang erkennt, in dem professionell gehandelt wird. Und aufgrund praktischer Vernunft werden dann die professionellen Umgangsweisen mit den von Laien erbrachten Arbeitsleistungen entwickelt und entfaltet…Aus gutgemeintem Dilettantismus läßt sich die Notwendigkeit der pastoralen Profession nicht begründen. Ihr Maßstab ist das berufliche Können. Und berufliche Kunstfertigkeit verdankt sich nicht vorwiegend der Harmonie von Gesinnung und Lebenspraxis, sondern eher der Fähigkeit, zwischen sich selbst und seinem Beruf, vor allem aber zwischen der eigenen Lebenspraxis und der anderer unterscheiden zu können.« Die »Arbeitsleistungen der Laien« bestehen nach Steck darin, daß nicht der Pfarrer die Religion ins Spiel bringt. Sondern »jeder ist in seiner natürlichen Lebenswelt Seelsorger und Seelsorgesuchender, Prediger und Hörer, Erziehender und Erzogener. Dies alles sind Formen von Arbeit, soziale Arbeitsprozesse im Gebiet von Religion.«
So sehr ich Steck im Blick auf die Professionalität des Pfarrberufes zustimme, frage ich mich doch, ob er in seinem Verständnis von »Religion« dem Traditionsabbruch genug Rechnung trägt. Natürlich hat er recht, wenn er schreibt: »Beruht Religion auf subjektiver Gesinnung, dann ist im Gebiet der Religion keiner vertretbar« und dafür das Priestertum aller Gläubigen als Grundprinzip anführt. Nun ist »Religion« aber ein äußerst diffuser Begriff geworden, der auch bei vielen Kirchenmitgliedern mit christlicher Religion kaum noch etwas zu tun hat. Hier tut sich genau die Kluft zwischen dem theologischen Fachmann und seiner Gemeinde auf. Ganz abgesehen davon läßt sich m.E. mit Professionalität dem Traditionsabbruch gerade nicht begegnen. Denn die Kunstfertigkeit, mit der ein Pfarrer Gottesdienste hält, Verstorbene beerdigt und Kinder tauft, schafft in der Regel nicht das Vertrauen, daß zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem christlichen Glauben anregt.
XI.
Alles spricht dafür, daß der Traditionsabbruch zunächst einfach zu akzeptieren ist, weil er sich nicht mehr umkehren läßt. Die Kirchenmitglieder habe ich darin ernst zu nehmen und sie da, wo sie es wünschen, professionell zu begleiten. Doch ist nicht mehr möglich? Ich denke doch.
Mit der Zeit werden sich die Menschen finden, die sich von mir, meiner Art, meiner Person angesprochen und interessiert fühlen und die bereit sind, weiter mit mir über den Glauben nachzudenken, sich informieren zu lassen und die Relevanz der christlichen Botschaft für ihr Leben zu bedenken in der Auseinandersetzung mit den Fragen, Zweifeln und Anklagen, die sie wie ich haben. Ort, Zeit und Art solcher Prozesse werden sich finden. Sie sind nicht planbar. Hier gilt es Augen und Ohren offen zu halten und zu warten.
Der Traditionsabbruch stellt mich letztlich vor die Frage, wie ich mich selbst als Pfarrer verstehe. Hier geht es nicht um Alternativen, die sich gegenseitig ausschließen – also entweder professioneller Pfarrer oder fragender und suchender Mensch. Wenn ich sowohl meinen Beruf als auch mich selbst ernst nehmen will, muß ich akzeptieren, daß ich beides bin. Das stellt mich vor die Aufgabe, zu unterscheiden, was wann und wo gefragt, was »dran« ist. Das mag oft eine Gratwanderung sein. Aber ist das nicht »Leben in der Diesseitigkeit«, wie Bonhoeffer es meint?
Literatur
– Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung Neuausgabe, München 1977
– Josuttis, Manfred: Der Pfarrer ist anders, München 1987
– Steck, Wolfgang: Die Privatisierung der Religion und die Professionalisierung des Pfarrberufs, in: Pastoraltheologie 80/1991, Sp. 306-321