Sechsundzwanzig Sinnbedeutungen und das Reich Gottes

Vor zwei Jahren sprach ich mit einer Frau, die in Süddeutschland seit langem ein Institut für sinnorientierte Beratung betreibt. Bis etwa 2008, so erzählte sie, wurde sie kritisch beäugt, von manchen auch bedauert, weil sie in ihrem Unternehmenstitel das Wort „Sinn“ erwähnt. Hier und da musste sie auch unterschreiben, dass sie in Beratungen von Mitarbeiter:innen nicht Esoterik verkauft. Nach der Finanzkrise habe das aufgehört.

Sinn, oder Purpose, wie das so schön auf Englisch heißt, ist mittlerweile in der Arbeitswelt angekommen. Unternehmen bieten sinnhafte Arbeit, Produkte und Dienstleistungen an. Mitarbeitende suchen zunehmend Sinn in ihrer Erwerbsarbeit. Das ist vielen wichtiger als ein hohes Gehalt oder einen sicheren Arbeitsplatz, glaubt man der ein oder anderen Umfrage.

Vieles davon ist in der Corona-Pandemie in die Krise gekommen. Und der Krieg in der Ukraine verschärft dieses Krisengefühl gerade noch einmal, sehr massiv.

Sinnkrise lautet vielerorts das neue Schlagwort.

Im Herbst letzten Jahres tauchte der Begriff nach und nach in meinem Sichtfeld auf. Ich fing an, mit anderen darüber zu sprechen. Die Spitzenaussage machte mir gegenüber ein Geschäftsführer eines diakonischen Unternehmens:

„Herr Jung, ich habe hier immer mehr Mitarbeitende sitzen, die mir sagen: Corona hat in mir so viel verändert, ich bin in einer Sinnkrise. Ich muss noch mal was ganz anderes machen.“ Und, fuhr mein Gegenüber fort: „Das sind alles Frauen und Männer, bei denen ich mir ganz sicher war, die arbeiten hochmotiviert und sinnerfüllt und sind genau da, wo sie hingehören.“

Sinnkrise.

Als guter Theologe schaue ich, wenn ich nicht weiter weiß, in die Bibel. Da kommt das Wort Sinn schon vor. Aber nicht so in dem Sinn, wie heute in der Arbeitswelt. „Er hat etwas im Sinn“, „seid eines Sinnes“, solche Sätze finde ich dort. Hilft mir nicht so wirklich weiter.

Was mache ich als guter Theologe, wenn mir die Bibel nicht weiterhilft? Ich google das Wort. Und siehe da, sehr schnell stoße ich auf Professorin Tatjana Schnell von der Uni Innsbruck. Sie forscht schon lange zu Sinnfragen oder zu Lebensbedeutungen, wie sie das nennt. Und Tatjana Schnell identifiziert sage und schreibe sechsundzwanzig verschiedene Bedeutungen des Wortes Sinn. Ich nenne mal nur einige:

Soziales Engagement, Naturverbundenheit, Gesundheit, Macht, Leistung, Freiheit, Wissen, Kreativität, Tradition, Bodenständigkeit, Spiritualität, Generativität oder, wie ich sagen würde: Enkeltauglichkeit.

Als ich die Liste las, war mir vom Gefühl sofort klar, warum das so schwierig ist mit dem Wort Sinn. Denn ich muss mich eigentlich jedes Mal fragen: Welche der vielen Bedeutungen meint mein Gegenüber gerade? Oder ich? Das ist anstrengend.

Vielleicht hilft es daher eher weiter, und zwar nicht nur in Zeiten, wo an jeder Straßenecke und auf vielen Stirnen „Sinnkrise“ geschrieben steht, sich die Liste von Tatjana Schnell mal vorzunehmen. Sie durchzugehen und mich zu fragen: Welche der sechsundzwanzig Lebensbedeutungen gehen in Resonanz mit dir? Bei mir sind es heute Enkeltauglichkeit, Freiheit und Naturverbundenheit. Und wenn ich zurückdenke: Vor Corona wäre ich bei Freiheit vermutlich nicht in Resonanz gegangen. Da verändert sich etwas.

Und dann schaue ich als Christ noch mal in die Bibel. Was spricht mich eigentlich an, was springt mir entgegen, wenn ich in dieser Zeit nach Sinn frage, nach Orientierung, nach Zielen? Welche Texte drängen sich mir auf, kommen mir in den Sinn? Bei mir sind das gerade Geschichten, die Jesus vom Reich Gottes erzählt. Das Reich Gottes, das immer auf uns zukommt. Unter uns anbricht, unfertig, aber real existiert. Das macht mir Hoffnung. Und gibt mir Mut, nach vorn zu schauen. Das Reich Gottes kommt mir und uns entgegen.

„Mit dem Reich Gottes verhält es sich so, wie wenn ein Mensch Samen auf das Land wirft und schläft und steht auf, Nacht und Tag, und der Same geht auf und wächst – und er weiß nicht wie.“

„Womit wollen wir das Reich Gottes vergleichen? Es ist wie mit einem Senfkorn: Wenn das gesät wird aufs Land, so ist es das kleinste unter allen Samenkörnern auf Erden. Wenn es aber aufgeht, so wird es größer als alle Kräuter und treibt Zweige, dass die Vögel unter dem Himmel unter seinen Schatten wohnen können.“ (Markusevangelium, Kapitel 4)

Diese Worte tragen mich fort. Sie berühren meine Seele und mein Herz, machen etwas mit mir. Sie geben mir nicht Sinn, das nicht. Aber sie öffnen einen Raum, geben einen Rahmen ab, in dem ich leben kann, arbeiten kann, wirken kann, lieben kann. Oder eben: Sinn finden kann.

(Gedanken zu Beginn der Mitgliederversammlung des Verbands Kirche-Wirtschaft-Arbeitswelt in der EKD)

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