Am 22. April 2020 sagt Jens Spahn in einer Befragung im Bundestag Worte, die vielfach zitiert wurden: »Wir werden miteinander noch viel verzeihen müssen, angesichts der Komplexität und Unwägbarkeiten, vor die uns Corona stellt.« Das war im ersten Lockdown. Knapp vier Wochen später, am 27. Mai schreibt der Journalist Marcus Jauer in der ZEIT: »In dieser Zeit rufen alle nach Vertrauen, aber niemand will vertrauen.«
Beide Sätze stehen mir vor Augen, als ich im Frühjahr und Sommer mein Buch »Unverbundenes verbinden« schreibe. Corona hat den bereits 2019 begonnenen Schreibprozess gehörig durcheinandergewirbelt, sowohl im Blick auf das Schreiben an und für sich, vor allem aber auch inhaltlich. Wenige Tage vor Abgabe des Manuskripts notiere ich:
»Im Verlauf des Juli herrscht eine seltsame Stimmung im Land. Vieles liegt auf dem Tisch, eine Menge scheint möglich, aber was in drei Monaten sein wird, kann niemand sagen. Wir hoffen auf den Sommer, auf Luft und Sonne, damit wir draußen sein können, dort, wo das kleine Virus offenbar nicht so gute Chancen hat. Und wir fürchten schon den Herbst und den Winter, denn die Virologen (gibt es da eigentlich auch Frauen?) sind vorsichtig skeptisch und ängstlich.
Ich horche in mich hinein und spüre, diese Unklarheit und Unsicherheit macht etwas mit mir. Ich erlebe es an mir und anderen, es wird gerade viel erzählt. Es gibt ein großes Bedürfnis, über die eigenen Ängste, Unsicherheiten, Beobachtungen, Hoffnungen, die kleinen positiven Erfahrungen zu sprechen. Rollen verändern sich, manch eine, manch einer fragt sich: Macht diese meine Arbeit gerade und in Zukunft eigentlich noch Sinn? Und was ist, wenn ich die Frage mit Nein beantworte, beantworten muss?« (116)
Mittlerweile sind wir ein halbes Jahr und einen zweiten Lockdown weiter, und vermutlich hat Karl Lauterbach Recht, wenn er davon ausgeht, dass die nächsten zwei, drei Monate die härtesten Corona-Monate werden. Und das trifft auf ein erschöpftes Land. Auf Twitter lese ich am 2. Januar:
»Ich: ›Ich fühle mich irgendwie so dauer-erschöpft – meinst du, ich hatte (ohne es zu bemerken) Corona und das sind die Spätfolgen?‹ Ehemann: ›Nein, du hattest 2020 und das sind die Spätfolgen.‹ On point.«
Was wird sein, wenn es uns im Verlauf des Jahres (hoffentlich) gelingt, uns mit Corona zu arrangieren? Die Sehnsucht ist groß und wächst von Tag zu Tag, dass das Leben dann wieder normal wird, so »wie früher«. Und die Ahnung, die Befürchtung liegt darunter verborgen, dass das nicht so sein wird. Das Leben wird neu zu erfinden sein, was auch immer das im Einzelnen heißt. Die Umwälzungen sind massiv und betreffen nahezu all unsere Lebensbereiche, so dass die Aufgabe, vor der wir dann stehen werden, uns den Atem rauben wird. Es ist das eine, gezwungenermaßen alte Gewohnheiten aufzugeben und Alltäglichkeiten unter massiven Einschränkungen neu organisieren – ich könnte auch sagen: aushalten – zu müssen. Etwas anderes ist es, mich/sich später in einer neuen Freiheit zurecht zu finden. Denn das Alte mischt sich ein, wird sich einmischen. Verzeihen und Vertrauen, genau das wird notwendig sein. Niemand kann heute sagen, wie sich die vielbeschworene »neue Normalität« entwickeln wird, weil die Zeit innerhalb der durch Einschränkungen vieler Art gekennzeichnete Gegenwart dafür denkbar ungeeignet ist. Home-Office, Verzicht auf (Dienst-) Reisen, private und berufliche Zoom-Konferenzen – nichts von alledem machen wir derzeit freiwillig, sondern weil uns die Umstände dazu zwingen und manchmal lassen wir uns auch ganz gerne zwingen. Aber heute schon sagen zu können, was davon später beibehalten wird, das wäre Kaffeesatzleserei vom Allerfeinsten, weil unser komplexes Leben gerade komplex durcheinandergewirbelt wird. Ein wenig einfacher scheint mir, Grundhaltungen zu benennen, die wir heute und später nötig haben und dazu zählen eben für mich verzeihen und vertrauen.
Verzeihen. Was muss ich anderen verzeihen, was andere mir? Und vor allem auch: Was muss ich mir selber verzeihen? Verzeihen heißt, das eine:r zunächst sagt: Es tut mir leid. Ich habe in einer Situation Entscheidungen getroffen, die im Nachgang mir und oder anderen nicht gut getan haben. Und dann ist die Reaktion entscheidend. Akzeptiere ich dieses Eingeständnis, dass ein:e andere:r einen Fehler gemacht hat, der Auswirkungen auf mich hatte oder hat oder nicht? Dabei hilft es wenig, das kasuistisch oder individuell bis in den allerkleinsten Winkel auszubreiten und einzufordern. Entscheidungen Einzelner, die eine Corona-Infektion und den Tod eines nahen Angehörigen zur Folge haben, zu verzeihen, das ist unendlich schwer. Und Jens Spahn wollte auch, glaube ich, nicht sagen, dass er Vergebung anderer erwartet oder gar einfordert. Er weist darauf hin, dass es für den gesellschaftlichen Zusammenhalt von grundlegender Bedeutung ist, wie unter den Menschen miteinander umgegangen wird, zumal in einer unbekannten und unübersichtlichen Zeit. Es ist seit dem März 2020 viel von Solidarität die Rede, Solidarität wird angemahnt, eingefordert, erwartet. Es gibt auch eine Solidarität mit denen, die Entscheidungen treffen oder zu treffen haben, weil sie nun mal, bewusst oder zufällig, in diesen Tagen in unserer ausdifferenzierten Gesellschaft an den Schreibtischen sitzen, an denen Entscheidungen getroffen werden müssen, die sich vor einem Jahr noch niemand hätte vorstellen können. Für unsere durch die Haltung der Empörung geprägte mediale Welt ein gefundenes Fressen, nie war es einfacher, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Und vielleicht war es nie schwieriger, Entscheidungen treffen zu müssen, weil die Parameter vor allem durch eins geprägt waren und sind: Unsicherheit.
Unsicherheit ist das Gegenteil von dem, was Menschen in westlich geprägten Wohlstandsgesellschaften haben wollen. Die ganze alte Normalität ist geprägt von dem Ziel, Sicherheit zu schaffen, im privaten und persönlichen wie im staatlichen Feld. Als hätten wir vergessen, dass nur eins in diesem Leben wirklich sicher ist, der Tod. Genau deshalb wird dieser nach wie vor weithin ausgeblendet. Dieses Jahr der Pandemie ist durch Unsicherheit geprägt, das ist der Tenor des Artikels von Marcus Jauer. Alle fordern Vertrauen, aber niemand will vertrauen. Vertrauen scheint für die alte Normalität nur innerhalb der sicheren Räume zu existieren, die wir uns geschaffen haben, um die Angst auszugrenzen oder wenigstens zu beruhigen. Versicherungen, Medizin, Lebensplanung all das läuft darauf hinaus, dass mein Leben in sicheren Bahnen verlaufen kann. Grundsätzlich ist nichts falsch daran, wenn ich die grundlegende Unsicherheit und die unabweisbare Faktizität des Todes als Vorzeichen vor der Klammer erkenne und mir im Bewusstsein halte. In der Pandemie wird das Vorzeichen unübersehbar, zugleich kommt alles durcheinander, was innerhalb der Klammer geschieht und die Angst wächst ins schier Unendliche, was Marcus Jauer zu der These verleitet, ohne so etwas wie Gott geht das nicht wirklich mit dem Vertrauen. Ich ergänze: Ohne so jemanden wie Gott geht es auch nicht mit dem Verzeihen. Denn paradoxerweise geht Verzeihen nur aus einer Grundhaltung, die durch Sicherheit geprägt ist, Verzeihen geht wie Vertrauen nur auf Augenhöhe, wenn beide zugleich in der Lage sind, sich in die Augen zu schauen. Verdammt schwer, nicht erst, aber vor allem in diesen Zeiten, haben wir es doch gelernt und verinnerlicht, auf der Hut zu sein, uns abzusichern, dem oder der anderen erst einmal nicht zu vertrauen. »Gesunder Menschenverstand« nennt das der Volksmund, das Gegenteil ist für ihn »naives Vertrauen«.
Nun ist das mit dem Gottesglauben so eine Sache. Ich bin für eine Institution tätig, die Gottvertrauen seit Jahrhunderten predigt, deren Botschaft allerdings viele misstrauen, aus den verschiedensten, vielfach sehr nachvollziehbaren Gründen. Das »Problem« ist nur: Wie kommen wir zu dem von Jauer und implizit auch von Spahn als notwendig angesehen Glauben an eine »jenseitige« Instanz, die so etwas wie existentielle Sicherheit garantiert? Vielleicht sind es Menschen wie Andrej Sacharow, die Vertrauen in solch einen Gott wecken können, weil sie »unverdächtig« sind.
Der russische Atomphysiker und bekennende Atheist schreibt im Alter: »Ich kann mir das Universum und das menschliche Leben nicht vorstellen ohne einen sinngebenden Anfang, ohne eine Quelle geistiger Wärme, die außerhalb der Materie und ihrer Gesetze liegt.« Offenbar, so Elisabeth von Thadden in der Zeit vom 29.12.2020, hinterließ der Glaube, den seine Mutter und Großmutter ihm als Kind nahebringen wollten, bei Sacharow Spuren und alle naturwissenschaftliche Reflexion führte ihn am Ende dazu, doch eine Sinn und Sicherheit garantierende Macht zu postulieren.
Für heutige Zeitgenoss:innen macht es Sinn und ist ein Ausweg aus dem beschriebenen Dilemma, sich mit der Frage zu beschäftigen, was denn wäre, wenn…
… es diesen Gott, von dem unter anderem Jesus erzählt, »wirklich« gibt und er diese grundlegende Garantie abgibt: »Du gehst nicht verloren, denn du bist bedingungslos bejaht.«
Mit diesem Gedankenexperiment lässt sich die Frage von Verzeihen und Vertrauen durchbuchstabieren. Auf der Grundlage von Vertrauen kann ich verzeihen – zuallererst und zuvorderst mir selber. Dazu ist es erforderlich genau hinschauen zu können, auch das geht nur aus der Haltung eines freundlichen, »gnädigen« Vertrauens mir selber gegenüber. Die Erfahrung in der Pandemie, so wie es in dem Thread auf Twitter von Johanna sichtbar wird, ist doch, dass wir selbst unzählige Entscheidungen auf unsicherer Basis zu treffen hatten und zu treffen haben, was uns müde werden lässt, weil es anstrengend ist, mir die permanente Unsicherheit vor Augen stellt und auch die Ahnung, das Wissen, dass ich in dieser Zeit (und nicht nur dann) Fehler mache, die ich später bereuen werde. Fehler im Blick auf andere und auch mich selbst. Aus einer Haltung eines Vertrauens heraus kann ich mir meine Fehler verzeihen und die anderer, was nicht gleichbedeutend ist, Fehler zu negieren, zu verschweigen, sie zu verharmlosen. undn unter den Teppich zu kehren. Einfach ist Vertrauen und Verzeihen nicht, aber die Alternativen lassen mich schaudern.
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In meinem bereits genannten Buch: Unverbundenes verbinden – Dialog und Spiritualität in der sozial-ökonomischen Transformation habe ich mich intensiv mit dem Artikel von Marcus Jauer auseinandergesetzt (S. 154-157), dort spielt auch das Gedankenexperiment: Was wäre, wenn? eine zentrale Rolle (S. 117-126).