Bernd Ulrich beschreibt zunächst anschaulich seinen biografischen Weg, der ihn zu dem Standpunkt geführt hat, den er in diesem Buch vertritt: Nur ein radikaler Politikwechsel kann die Herausforderungen bewältigen, die sich uns mit der von uns verursachten Klimakrise stellen. Das hat mich sehr angesprochen und ich habe mich beim Lesen gefragt: Wie war es eigentlich bei dir? Ulrich und ich sind fast gleich alt, aber anders als er fühle ich mich viel stärker von der Friedensbewegung inspiriert und geprägt. Mir fiel bei der Lektüre auf, wie spät ich trotz meines Berufs als Pastor (Stichwort: Bewahrung der Schöpfung) und der langjährigen Aktivität im Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) auf die Umweltthematik gestoßen bin. Natürlich, die Grünen machten Rabatz, Joschka Fischer fand ich cool als einer, der in Hessen groß wurde und von den Grenzen des Wachstums hatte ich auch gehört. Aber das schien alles weit weg zu sein. Ich fand das gut und richtig – aber andere Fragen wichtiger.
Viele Jahre habe ich am Niederrhein die Diskussion um den Steinkohlebergbau hautnah miterlebt. Wir haben das im KDA intensiv diskutiert, mit Blick auf die Arbeitsplätze der Kumpel und den Strukturwandel in der Region. Unter der Frage, ob ein nationaler Sockel der Energieversorgung sinnvoll ist und wir eventuell gut daran tun, zumindest eine oder zwei Zechen aufzulassen. CO2-Ausstoß, das spielte keine Rolle. Schlimmer noch, erst als das Aus für die Kohle besiegelt war, fragten wir: Wo kann, wo soll künftig die Energie herkommen? Zu meiner Überraschung, besser: zu meinem Entsetzen stellte ich, stellten wir fest: Mit Winergy gab es seinerzeit einen der größten Hersteller von Windkraftmotoren weltweit in meiner Stadt. Das ist ein blinder Fleck, auf den ich nicht stolz bin.
Als mich mit meiner Frau über das Buch von Ulrich sprach, haben wir uns auch gefragt: Wo fing das eigentlich in unserer Biografie an mit Fragen der Umwelt? Wir beide haben uns ja in diesem Jahr das Projekt „Wandelpunkte“ vorgenommen und sind da auf manche auch für uns selbst spannende Beobachtung gestoßen, aber womit begann es? Es waren wohl unsere Mütter, die schon vor vielen Jahren mit ökologischen Waschmitteln im Baukastensystem anfingen zu waschen. Das haben wir übernommen. Überraschende Erkenntnis.
*
Erfrischend finde ich bei aller Klarheit, die Ulrich an den Tag legt, seine Einsicht, dass er beileibe kein Heiliger ist. „Wenn alle so leben würden wie ich, dann gute Nacht“ schreibt er an einer Stelle. Zugleich verweist das auf die Herausforderung, dass nur ein radikaler Umbau unserer Gesellschaft, unseres Lebens, unserer Arbeit, unserer Wirtschaft und unseres Konsums uns gestaltbare Wege in die Zukunft eröffnet. Alle Alternativen führen dagegen in den Abgrund und/oder zu Notstandsgesetzgebung, da bin ich mit Ulrich einer Meinung.
*
Soweit ist das alles nicht neu. Ulrich fragt nun aber als politischer Journalist nach den Gründen, warum in Deutschland die Situation so ist, wie sie ist. Seine These lautet, dass die Orientierung der politischen Parteien und auch des Mainstreams im Journalismus auf „die Mitte“ hier eine zentrale Rolle spielt. Das leuchtet mir ein und ich finde mich da emotional wieder. Wir suchen den Konsens, die Balance, die Ausgewogenheit. Wir glauben daran, dass es Sinn macht, eine breite Mitte der Bevölkerung mitzunehmen. Mehr oder minder radikale Ränder rechts und links werden dabei akzeptiert. Das Problem ist nur: Die Natur hält sich nicht an unsere Orientierung, sondern sie macht, was physikalisch eben auf unser Verhalten folgt. Damit stehen wir, so Ulrichs These, heute vor der Aufgabe, die Orientierung an der Mitte aufzugeben und radikalere Entscheidungen zu treffen – wie sie von vielen gefordert werden, nicht zuletzt aus den Reihen der Wirtschaft, keineswegs nur von #fridaysforfuture und den #scientistsforfuture.
Mir fiel auf: Die SPD spielt kaum noch eine Rolle, das ist schon fast tragisch, Ulrich beschäftigt sich stärker mit der CDU, hier und da auch mit der FDP. Später im Buch stellt er auch die Frage, ob die Grünen den wirklich gut aufgestellt wären, sollten sie ans Ruder kommen. In der Vergangenheit, so seine Beobachtung, haben die Grünen den Fehler gemacht, sich zu wenig um „das Soziale“ gekümmert zu haben. Nun, zumindest verbal hört sich bei den beiden aktuellen Vorsitzenden anders an, aber die Probe aufs Exempel steht ja noch aus.
Am Ende hätte ich mir gewünscht, der schöne Gedanke, das Zeitalter der Ökologie könnte zugleich ein Zeitalter der Schonung werden, dieser Gedanke wäre noch ein wenig stärker ausgeführt worden. Ich wäre neugierig, welche Ideen Ulrich da bewegen.
*
Noch mal zurück zur Mitte-Orientierung und zu mir. Eine Frage stellt sich mir da als Landessozialpfarrer der hannoverschen Landeskirche. Lange Zeit hat sich die evangelische Kirche in meiner Wahrnehmung auch an der politischen Mitte orientiert. Klar, es gab und gibt auch in der FDP und bei den Grünen Frauen und Männer, die sich dort zugleich dezidiert als Protestant*innen verstanden haben und verstehen. Aber ungleich mehr bei der CDU und vor allem bei der SPD. Das hatte sicher auch mit der schieren Größe dieser beiden ehemaligen Volksparteien zu tun, aber nicht nur. Die Nähe vieler gerade zur SPD wurde oft als so stark empfunden, dass der Vorwurf, die evangelische Kirche stände weitgehend „links“ nicht ganz unberechtigt war.
Auf der anderen Seite sind wir stolz auf das, was ich einen unaufgeregten, pragmatischen Protestantismus nenne. Auf der einen Seite gilt es, ganz klar die Leitplanken zu benennen jenseits derer christliche Positionen nicht mehr denkbar sind. Anderseits gibt es dazwischen einen breiten Bereich, in dem abgewogen werden kann. Man kann es so sehen, aber auch so – genauso argumentiert auch Luther in seinen Schriften zu Zinsen und Wucher. Von diesem Pragmatismus her sind wir vermutlich als Protestant*innen anfällig für eine Mitte-Orientierung und trauen uns nicht oder nur selten, uns klar zu positionieren in der „Volkskirche“. Wenn das stimmt, dann stehen wir innerkirchlich vor der gleichen Herausforderung wie die Politik heute. Dann gilt es zu fragen: Gibt es innerhalb der Leitplanken vielleicht weiter weg von der Ausgewogenheit, die niemand weh tut, noch Standpunkte? Oder, und ich fürchte, wir müssen dies ernsthaft erwägen: Ist die Radikalität (und radikal meint nicht apokalyptisch, sondern nüchtern die Fakten betrachtet) bereits eine dieser Leitplanken, von denen Luther meinte, dann gilt es richtig dreinzuschlagen (nur verbal natürlich) und Flagge zu zeigen? Dann allerdings stehen wir innerkirchlich vor Zerreißproben. Das könnte das Ende der Volkskirche bedeuten.
*
Abschließend möchte ich Ihnen, lieber Herr Ulrich, eine Frage stellen. Eine Frage, die mir irgendwann während der Lektüre ihres Buchs plötzlich vor Augen stand.
Sie beschreiben nachvollziehbar, wie politische Journalist*innen dazu erzogen wurden, sich auf bestimmte Themenfelder zu fixieren und zugleich die Mitte-Orientierung mit zu internalisieren. „Vielfach sind Journalist*innen sehr gut darin, den Nahostkonflikt mit großer Kenntnis zu kommentieren, haben aber von den Fakten des Klimawandels kaum Ahnung“, so oder so ähnlich heißt es an einer Stelle. Sie erzählen auch davon, welche Widerstände, welches Erstaunen ihr Ansinnen in der ZEIT-Redaktion ausgelöst hat, Fragen der Klimakrise aus dem Ressort Wissen hinüber zur Politik zu ziehen. Und jetzt meine Frage: Könnte es sein, dass politische Journalist*innen (und andere Zünfte) einen ähnlichen blinden Fleck bei der Wahrnehmung von Kirche haben?
Ich frage das, weil mir an Ihrem Buch wieder einmal auffällt, dass Kirche nur negativ vorkommt („Gut, dass sie nicht mehr über Menschen herrscht!“). Ähnliches gilt für viele andere Texte, Stellungnahmen, Bücher, die ich lese. Ganz selten wird Kirche eine aktive Rolle zugesprochen, zugetraut.
Ich weiß, wir tragen da ein schweres Erbe mit uns herum. Und es ist gut, dass die Zeiten vorbei sind, wo kirchliche Personen automatisch in jeder Talkshow zu fast jedem Thema „gesetzt“ waren. Aber ich habe mich bei der Lektüre Ihres Buchs wieder einmal gefragt, ob das Pendel vielleicht zu stark in die andere Richtung ausgeschlagen ist. Das fände ich schade, denn eine wirklich kritische Berichterstattung würde uns als Kirche sehr helfen und zugleich der Gesellschaft, wenn wir mit unseren Potentialen und Positionen besser medial vorkommen, nicht nur im Bereich Ökologie, wo Kirche tatsächlich an vielen Stellen Vorreiter ist (ohne perfekt oder gar heilig zu sein).
Mich interessiert sehr Ihre Meinung zu dieser These. Vielleicht ist sie ja auch schief, unvollständig oder schlicht falsch?
Pingback: Sechs Bücher, die mich 2019 beeindruckt haben – bilder und gedanken
Lieber Herr Jung, vielen Dank für diese Reflexion. Ein paar noch etwas unsortierte Stichworte von einem evangelischen Christen und leidenschaftlichen, auch hauptberuflichen Ökologen und Klimaschützer:
– Wir brauchen eine Theologie der Verbundenheit mit allem Lebendigen. Wenn die Kirche die Worte dafür findet, dass wir Menschen als Teil alles Lebendigen geschaffen wurden und nur in Verbundenheit überleghen werden, dann wäre das ein fundamentaler Beitrag, unsere Gesellschaft auf einen besseren Weg zu bringen. Dazu vielleicht ein paar Gedanken hier https://theologiedeslebens.blog/2019/10/20/wie-kann-sich-mit-dem-bild-einer-welt-voller-lebendiger-beziehungen-das-gottesbild-verandern/
– Hinsichtlich der Ziele – einer Nullemissionswirtschaft, der Regeneration unserer Ökosysteme – sollte die Kirche klar Stellung beziehen. Aber hinsichtlich der spezifischen Maßnahmen und Mittel – wie kommen wir da hin – muss die Kirche eher eine Vermittler-Rolle spielen, moderieren, im Gespräch bleiben. Denn die Umbrüche in der Landwirtschaft, in der Industrie, im Verkehr sind groß, die Widerstände auch, und es braucht Akteure die hier das gesellschaftliche Gespräch moderieren.
– Schliesslich steht im Raum eine riesige Rolle für die Kirchen in der geistlichen Begleitung der Menschen angesichts der immer stärker sichtbar werdenden Zerstörung unserer Welt. Angesichts der um sich greifenden Erkenntnis, dass es für vieles schon zu spät ist, dass wir von vielem Abschied nehmen müssen. Es geht um Trauerbegleitung, denn es löst Ängste und Trauer aus, das wahrzunehmen was gerade passiert. Dazu vielleicht https://www.churchtimes.co.uk/articles/2019/15-march/comment/opinion/climate-chaos-and-collective-grief
– In diesem Sinne geht es nicht um die „Rettung der Welt“, sondern um die Ökologische Sorge für den Planeten als eine Form der Hospizpflege:
https://youhaveanaccent.wordpress.com/2019/07/17/climate-change-faith-hope-and-urgency/
“My husband and I have been cleaning up the alley behind our house, removing rubbish and creating space to plant flowers. In the face of mass extinction and repeated fly tipping it has been hard to feel that this makes any difference at all. Recently, as he was reflecting on whether there was any point to this in light of imminent climate breakdown, he described what he was doing was a kind of hospice care. Dying things still belong to God. Every time we treat our fellow creatures – and the rest of the living world – with kindness, even in the face of death, every time we relieve the suffering of even a small part of creation – we give dignity to the dying. Every time we fight for divestment, bear public witness, put our bodies in the way of this awful, hateful, pursuit of wealth at the expense of life – we dignify the earth, and we dignify ourselves. Perhaps God is calling His people, now, at this period in history, to a ministry of hospice care as part of our witness to the world.”
Abschliessend: Unsere bisherige Theologie ist auf das, was in den nächsten Jahrzehnten auf uns zukommt in keiner Weise vorbereitet. Wir können angesichts des galoppierenden Ökozids nicht mehr naiv Ostern feiern. Wir können auch den Bund Gottes mit Noah nicht mehr naiv verkünden. Eine Re-Lektüre und Neuinterpretation von Schrift und Tradition im Lichte der Erkenntnis, dass wir dabei sind unsere lebenserhaltenden Systeme irreparabel zu beschädigen ist noch zu leisten.
LikeLike
Lieber Herr Haas,
vielen Dank für den ausführlichen Kommentar!
Ich stimme Ihnen in allen Punkten zu. Theologie der Verbundenheit, Mittler-Rolle der Kirche (was aber einschließt, dass wir im Blick auf die kirchlichen Gebäude, kirchliche Mobilität usw. auch unsere Hausaufgaben machen – und das heißt dann schon Entscheidungen treffen und Positionen beziehen, die uns etwas „kosten“), die unvorbereitete Theologie (sagt mein Umweltchef, auch kein Theologe, ebenfalls schon lange), die geistliche Begleitung im Sinne von Trauer und Umgang mit Veränderung.
Etwas ungewohnt klingt in meinen Ohren der Hospiz-Pflege. Das ist hart und radikal und damit auch provozierend, allerdings regt sich emotional erst mal Widerstand bei dem Gedanken, wir leisten hier Sterbehilfe. Das ist aber zunächst eine spontane Erst-Reaktion. Mir liegt eher der Gedanke der Wüstenwanderung näher, auf dem Weg in eine andere Zukunft braucht es einen Zeit der „Entbehrung“, Zurückhaltung oder auch Schonung (da spricht mich Ulrichs Gedanke an.)
Ihre Hinweise erreichen mich in einer Zeit, in der ich angefangen habe, ein Buch zu schreiben, dass bis zum nächsten Sommer fertig werden soll und muss (da mir meine Landeskirche höchstwahrscheinlich dazu eine dreimonatige Auszeit 2020 gewährt). Das psst sehr gut und ich werde die Links entsprechend abspeichern.
Viele Grüße
Matthias Jung
LikeLike