Vortrag auf der Tagung für Vizepräsidenten und Vorstandsmitglieder der Arbeitnehmerseite der nord- und nordostdeutschen Handwerkskammern am 24. August 2018 in Frankfurt/Oder
1. Mein persönlicher Zugang zum Thema
Ich stamme aus einer Unternehmerfamilie. 1855 gründete einer meiner Vorfahren, der Schreiner Kaspar Jung IV eine Firma mit drei Geschäftsbereichen: Schreiner, Herstellung von Eisenbahnschwellen und Handel mit Holz, Gips, Brennholz. 1924 wurde die Schreinerei aufgegeben. Nach dem Krieg expandierte die Firma im Holzhandel und wir hatten in Mittelhessen mehrere Standorte, waren sozusagen Martkführer. Ich erinnere mich noch an manchen Schreiner, der in meiner Kindheit in die große nach Holz riechende Halle kam, um sich seine Bohlen und Bretter, Furniere und Kanthölzer zusammen zu stellen. Dann kamen die Baumärkte auf und der Holzhandel verlor nach und nach seine Bedeutung. Heute ist von den Standorten nur noch ein Teil übrig, in Wetzlar, meiner Heimatstadt, ist schon lange keine Niederlassung mehr, auch weil mein Bruder und ich kein Interesse am Holzhandel zeigten. Meine Profession kennen Sie, mein Bruder hat immerhin Holzwirtschaft studiert und ist bis heute im Spezialfensterbau tätig, also im Handwerk.
Seit 1991 bin ich im Kirchlichen Dienst in Arbeitswelt aktiv. Als junger Pfarrer am Niederrhein bekam ich seinerzeit die Chance, dieses neue Arbeitsfeld in der Region Duisburg-Niederrhein mit aufzubauen. Anders als in der hannoverschen Landeskirche wurde dort aber nicht zwischen KDA und Kirche und Handwerk getrennt. Handwerk war daher immer auch mal mit im Blickfeld, aber natürlich nicht so intensiv wie es zB Claus Dreier und künftig Hille de Maeyer wahrnehmen konnten und können. Aber ich habe auch Handwerksgottesdienste mit organisiert.
Eine besondere Beziehung habe ich dabei zu Frankfurt/Oder, daher schließt sich mit dieser Tagung für mich ein Kreis. In der ehemaligen Partnergemeinde Müllrose meiner Kirchengemeinde war Pastor Simang tätig, der hier Kontakte zum Handwerk pflegte und regelmäßig Handwerkgottesdienste organisierte. 2003 haben wir mit einer Gruppe von Kirchenleuten und Gewerkschaftler/innen eine Studienfahrt nach Frankfurt/Oder gemacht, einige Betriebe und Einrichtungen besucht und Gespräche mit Vertreter/innen aus Politik und Handwerk geführt. Daher freut es mich besonders, dass ich in der Vakanz jetzt hier bei dieser Tagung dabei sein kann.
„Werte handwerklicher Arbeit in einer digitalisierten Welt“ – das ist der Titel, der mir vorgegeben wurde. Ich versuche aus meiner Sicht einige Schneisen zu schlagen. Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich an der ein oder anderen Stelle vielleicht das Handwerk zu oberflächlich oder ungenau wahrnehme. Aber vielleicht ist das Sie als Insider ja auch ganz interessant, mal einen leicht fremden Blick aufs Handwerk zu bekommen.
2. Handarbeit und Handwerk
Menschen sind Handarbeiterinnen und Handarbeiter. Wir arbeiten mit unseren Händen, von Anfang an. Und alles beginnt mit dem Spiel des Kindes. Als Säuglinge be-greifen wir die Welt, als Kleinkinder wühlen wir im Sand, später bauen wir Burgen und setzen aus Legosteinen Häuser zusammen. Wir lernen Pinsel und Schraubendreher bedienen, Messer und Gabel zu nutzen. Wir lernen den Umgang mit Stoffen und Werkzeugen. Hand-Werk ist etwas sehr ursprüngliches und wesentliches. Ich habe es immer bedauert, dass der Werkunterricht aus den Schulen (weitgehend) verschwunden ist.
Wie menschlich dies ist, zeigt sich in dem Boom der Heimwerker, die versuchen, selbst Handwerk auszuüben und es vielfach auch ohne Ausbildung zu guten Erfolgen bringen. Wir alle können mit unseren Händen etwas herstellen. Logisch daher, dass seit Jahrhunderten über das Handwerk nachgedacht wird. Schon der griechische Philosoph Platon „führt die handwerklichen Fähigkeiten auf poiein, den Wortstamm zu ‚machen‘ oder ‚herstellen‘ zurück, aus dem auch das Wort Poesie hervorgegangen ist. (…) Handwerkliche Tätigkeit ist stets auf Qualität ausgerichtet. Platon bezeichnete sie als arete, das jedem Tun innewohnenden Maß an Vollkommenheit. Das Streben nach Qualität drängt den Handwerker, besser zu werden, statt sich mit dem erreichten Stand begnügen.“ (Richard Sennet, Handwerk 37)
Und irgendwo da liegt der Übergang von Handarbeiterin und Handarbeiter zur Handwerkerin und zum Handwerker. Manche sagen, es braucht 10.000 Stunden, um in einem Handwerk Meisterschaft zu erreichen (Sennet 231). Richard Sennet verbindet diesen Übergang mit den Stichworten Spiel und Üben: „Das Spiel bildet den Beginn des Lebens, und Üben ist eine Sache der Wiederholung und Modulation.“ (Sennet 361)
Wie definiert sich jetzt der Handwerker, die Handwerkerin? Ich habe etwas nachgelesen und ich muss sagen, es gibt keine eindeutige Definition.
Der Duden sagt: Handwerk ist eine „berufsmäßig ausgeübte Tätigkeit, die in einem durch Tradition geprägten Ausbildungsgang erlernt wird und die in einer manuellen, mit Handwerkszeug ausgeführten produzierenden oder reparierenden Arbeit besteht.“
Bei Gablers Wirtschaftslexikon lese ich: „Die handwerkliche Tätigkeit, die von der industriellen Massenproduktion abzugrenzen ist, ist eine selbstständige Erwerbstätigkeit auf dem Gebiet der Be- und Verarbeitung von Stoffen sowie im Reparatur- und Dienstleistungsbereich.“
Was mir in diesen Definitionen fehlt: In ganz vielen Bereichen des Handwerks geht es um Grundbedürfnisse von Menschen. Viele Handwerke haben mit Bauen und Wohnen zu tun: Tiefbau und Hochbau, GaLabBau, Elektro, Sanitär, Tischler, Maler und Lackierer. Andere mit der Herstellung von Lebensmittel (Bäcker, Fleischer). Wieder andere beschäftigen sich mit Reinigung und Recycling. Wie wichtig ein Handwerk ist zeigt sich in dem Moment, wo wir auf eine/n Handwerker/in angewiesen sind, auf einen Menschen, der sein Handwerk versteht. Das fängt beim Schlüsseldienst an und geht über den Dachdeckerbetrieb nach einem Sturm und hört bei der verstopften Toilette noch lange nicht auf…
Natürlich kommen und gehen Handwerke wie auch andere Berufe. Sie haben Teil an dem sich in den letzten zwei Jahrhunderten schnell entwickelnden technischen Fortschritt. Dampfmaschine, Webstuhl, Industrieproduktion haben das Handwerk verändert. Ich erinnere mich noch an die Dramen, die sich abspielten, als vor vierzig Jahren der Beruf des Setzers im Druckerhandwerk allmählich durch andere Verfahren ersetzt wurden. Ein Beruf verschwand. Ein anderes Beispiel: Ein ehemaliges Gemeindeglied war technischer Zeichner. Er erzählte mir von einem „Wettkampf“, den sie kurz vor seinem Ruhestand im Büro durchgeführt hatten. Eines Tages kam einer und wollte ein Computerprogramm verkaufen. Sie sagten, ok, wir schauen mal, wer schneller ist: Wir mit unserer Erfahrung und unseren Werkzeugen – oder du mit deinem Programm. Der Schock saß tief. Meinem Gemeindeglied tat es nicht so weh, da er kurz danach in Rente ging, aber die Kolleg/innen…
Bevor ich zur Digitalisierung und damit zur Gegenwart komme, noch zwei Beobachtungen, auf die ich bei meinen Recherchen gestoßen bin und auf die ich später noch einmal zurückkommen werden.
a) Das Handwerk ist schon lange ein sehr ausdifferenzierter Bereich. Die Handwerkerin, der Handwerker erlernt unglaublich vielfältige Fertigkeiten, in der Regel von einem Meister oder einer Meisterin. Das hat etwas von Vormachen und Nachahmung zu tun. Dabei gibt es häufig bestimmte Ausprägungen, die Handschrift eines Meisters, die sich auf seine Lehrlinge und Gesellen überträgt. Diese meisterhafte Beherrschung eines Handwerks kann so weit gehen, dass der Meister sie nicht mehr vermitteln kann. Richard Sennet beschreibt die Geschichte von Stradivari, dessen Kunstfertigkeit im Geigenbau nicht kopiert werden konnte, nicht durch einen seinen Schüler und auch nicht durch modernste Technik:
„Als Antonio Stradivari starb, übergab er das Geschäft an seine Söhne, die niemals heirateten und ihr Leben als erbberechtigte Knechte im Haus ihres Vaters verbrachten. Sie vermochten noch mehrere Jahre Nutzen aus dem Namen Stradivari zu schlagen, doch dann ging das Unternehmen zu Grunde. Er hatte sie nicht gelehrt und sie nicht lehren können, Genies zu sein. (…) Seit nahezu dreihundert Jahren versuchen Geigenbauer, diese Quoten wiederzubeleben, um die Geheimnisse von Stradivari zu lüften, die mit dessen Tod starben. (…) Heute konzentriert sich der Analyse des Werkes dieser Meister auf drei Wege: exakte Nachbauten der Instrumente, die chemische Analyse des Firnis und Rekonstruktion auf der Basis des Klanges. Doch (…) vermag ein guter Musiker sogleich zwischen Original und Kopie zu unterscheiden.“ (108)
Offenbar überträgt sich im Handwerk etwas von der Person auf die Handhabung des Werkszeugs und des Materials. So zugespitzt wie bei Stradivari sicher nur selten, aber in der Tendenz immer. Herz und Hand spielen zusammen, das macht den Wert aus.
b) Reparieren ist ein wesentlicher Teilbereich des Handwerks. Der Versuch, etwas wieder zum Laufen zu bringen, teilweise mit Umwegen und Hilfsmitteln. Legendär auf die Leinwand gebracht in Filmen wie Das Boot oder Flug des Phoenix. Handwerker ersinnen dort Lösungen um des Überlebens willen. Aber auch im Kleinen können Handwerker/innen Schuhe flicken oder mein Fahrrad. Und die Dankbarkeit ist innen gewiss. Der Wert des Handwerks ist kaum zu überschätzen in unserer Welt. Richard Sennet schreibt dazu:
„Das Reparieren ist ein vernachlässigter, kaum verstandener, aber äußerst wichtiger Aspekt technisch-handwerklichen Könnens. (…) Wir verstehen oft erst beim Reparieren, wie Dinge funktionieren. Der einfachste Weg, etwas zu reparieren, besteht darin, es auseinanderzunehmen, das defekte Teil zu reparieren und das Ganze wieder in der ursprünglichen zusammen zu bauen. Man könnte hier von statischem Reparieren sprechen. Ein Beispiel wäre der Satz durch Sicherung in einem Toaster. Dynamisches Reparieren verändern dagegen das präparierte Teil in Form und Funktion.“ (266f.)
Ich komme darauf im letzten Teil noch einmal zurück.
3. Digitalisierung und Handwerk
Wie ist die Lage des Handwerks in der Gegenwart? Ich zitiere aus einem fast beliebigen Artikel, Sie finden solche und ähnliche Beschreibungen an vielen Orten:
„Das Handwerk ist in Deutschland eine Macht: In rund 887.000 Betrieben arbeiten knapp fünf Millionen Menschen, zudem fast 500.000 Auszubildende. Somit sind 12,8 Prozent aller Erwerbstätigen und rund 31 Prozent aller Auszubildenden in Deutschland im Handwerk tätig. Dennoch sind die Probleme groß. Es mangelt an Fachkräften und ein Drittel der Auszubildenden entscheidet sich letztlich für einen anderen Berufsweg, nicht zuletzt, weil die Industrie mit im Durchschnitt 1.000 Euro höheren Gehältern lockt – von den Verheißungen der Tech-Startups ganz zu schweigen.“ (https://t3n.de/news/digitalisierung-handwerk-992776/ )
Wie alle anderen Branchen muss sich auch das Handwerk mit dem Mega-Trend Digitalisierung auseinandersetzen. Eigentlich beginnt diese Entwicklung schon vor längerer Zeit, aber das Tempo und die Möglichkeiten nehmen in den letzten Jahren sehr zu. Wir konnten früher noch am VW-Käfer oder am Bulli selber herumschrauben. Vor einigen Jahren musste ich mit unserem Auto wegen einer Störung in die Werkstatt. Da machte aber der Meister nicht die Motorhaube auf, sondern er analysierte mit einem Laptop die Daten, die der Motor aufgezeichnet hatte und wusste danach genau, wo er Hand anlegen musste, immerhin…
Heute schreitet die Digitalisierung rasend schnell weiter voran. In den Studien, die es auch im Bereich des Handwerks gibt, wird darauf hingewiesen, dass sich durch die Digitalisierung an vielen Stellen Chancen bei Planung, Marketing und Abrechnung eröffnen. So heißt es in einer Studie:
„Die Digitalisierung der Wirtschaft hat längst das Handwerk erreicht. Aktuell verfügen 95 Prozent der Handwerksbetriebe über eine eigene Website, 58 Prozent setzen Software-Lösungen für die Steuerung ihrer betrieblichen Abläufe ein und ein Viertel (25 Prozent) nutzt moderne digitale Technologien, zum Beispiel 3D-Drucker zur Herstellung von Ersatzteilen oder Tracking-Systeme für Maschinen und Werkstoffe.“
(https://www.zdh.de/fachbereiche/wirtschaft-energie-umwelt/digitalisierung-im-handwerk/pressemitteilungen/neue-studie-von-bitkom-und-zdh-zur-digitalisierung-des-handwerks/ )
Diesen Trend haben wir auch an anderer Stelle. Ich habe in den letzten Wochen Gespräche mit Verantwortlichen aus der Diakonie geführt, weil wir uns im KDA fragen, ob es Sinn macht, dass wir uns mit dem Themen Pflegerobotik, künstliche Intelligenz in der Pflege und im Bereich Inklusion und medizinische Assistenzsysteme beschäftigen. Die Antwort lautet: Wir sind an vielen Stellen dabei, mit Hilfe der Digitalisierung Prozesse zu optimieren und Ressourcen effizienter zu nutzen und auch mit unseren Kund/innen und deren Familien andere, bessere oder zusätzliche Kommunikationskanäle zu entwickeln. Aber direkt in der Arbeit an und mit den Menschen spielen diese Technologien keine Rolle. Noch nicht, wird hinzugefügt und in diesem „noch nicht“ liegt sowohl eine Vermutung als auch eine Befürchtung. Trifft diese Beobachtung: Digitalisierung zur Optimierung von Prozessen, aber nicht in der direkten Arbeit nicht vielleicht auch auch das Handwerk zu?
Sie können das besser beurteilen als ich. Und es wird auch von Branche zu Branche sehr unterschiedlich sein. Und der Status der Automatisierung ist unterschiedlich weit fortgeschritten, im Bäckergewerbe oder im Möbelbau sicher weiter als anderswo. Und ja, ein Brötchen aus der Massenproduktion schmeckt nicht sowie eins aus der Backstube, in der jede Nacht der Teig von Hand neu angerührt wird. Aber der Preis… Oder: IKEA-Möbel haben sich durchgesetzt, allein schon wegen des Preises, vielleicht auch, weil ich da noch selber Hand anlegen muss und kann, also das Gefühl vermittelt bekomme, ich baue „meinen“ Tisch oder „mein“ Regal selber auf. Aber das ist nur eine Illusion, letztlich sind es Möbel von der Stange…
Wahr ist aber auch: Viele Menschen sind nicht mehr bereit und/oder finanziell auch gar nicht (mehr) in der Lage, ein Möbelstück oder auch Schuhe oder einen Anzug maßgeschneidert herstellen zu lassen. Und die nächste Generation der Massenproduktion steht mit dem 3D-Druck bereits vor der Tür. Schusswaffenanleitung aus dem Internet für den 3D-Druck, das wurde in diesem Sommer in den USA verboten. Zeigt aber, das es möglich ist.
Kommt das Handwerk also schon unter Druck durch die fortschreitende Digitalisierung? Eine These lautet ja: „Was sich digitalisieren lässt, das wird digitalisiert.“ Nun könnte man dagegen sagen: Naja, der echte Wert des Handwerks liegt in der echten Handarbeit, nicht in der digital vermittelten. Dahinter steht aber eine andere Frage: Ist nicht die analoge Welt schöner, ursprünglicher, menschlicher als die digitale Welt? Ist nicht die analoge Welt echt und natürlich oder naturgemäß, die digitale dagegen unecht und künstlich?
Ich mag diese Unterscheidung analog = natürlich, digital = künstlich nicht, sie wertet das eine zu schnell gegen die andere ab. Denn das, was das Handwerk mit Fertigkeiten und Werkzeugen aus Stoffen erstellt, verändert das Natürliche ja auch schon. Die Verwandlung ist Teil des handwerklichen Prozesses, wenn man so will, ist auch ein Tisch oder ein Schuh künstlich. Man spricht nicht zu Unrecht von der Handwerkskunst. Es gibt kein Zurück zur Natur, das ist sinnlose Nostalgie. Zeigen Sie mir einen natürlichen Ort in unserem Land, an dem der Mensch noch nicht verändern eingegriffen hat. Und vieles, was im Raum der digitalen Welt geschaffen wird, ist durch handwerkliche Tätigkeiten geschaffen. Wir führen die Maus mit der Hand, den Zeichenstift, bedienen die Tastatur mit der Hand. Ja, eine Vermittlung. Durch ein Werkzeug.
Von daher glaube ich, dass die Werte handwerklicher Arbeit in einer digitalisierten Welt darin liegen, hier keine Gegensätze aufzubauen, sondern zu schauen, wie Herz und Hand mit den digitalen Werkzeugen gemeinsam Bedürfnisse von Menschen befriedigen können. Herausforderungen gibt es genug. Manches kann dabei vielleicht der Computer oder das Smartphone besser als die menschliche Hand, aber wirkliche Innovation können die digitalen Werkzeuge nicht. Und sie können auch nicht um die Ecke denken. Alles Dinge, die wir dringend brauchen, wenn wir zB Lösungen finden wollen für die Herausforderungen der Zukunft.
Tim Leberecht, der ein Buch geschrieben hat über Romantik und Ökonomie, spricht in einem Artikel von der großen digitalen Enttäuschung, die sich vielerorts breit macht, weil die Arbeitsbedingungen sich durch den permanenten Zwang zur Selbstoptimierung und Effizenzsteigerung immer mehr entmenschlicht. Leberecht schreibt weiter:
„Vielen von uns reicht es einfach nicht mehr, ein produktives und erfolgreiches Leben zu führen; wir wollen vor allem auch ein schönes Leben führen, ein sinnerfülltes und auch sinnliches Leben – auch am Arbeitsplatz, nicht nur zu Hause. Gleichzeitig ahnen immer mehr Unternehmen, dass das, was sie in den letzten Jahrzehnt erfolgreich gemacht hat – Prozessoptimierung und Effizienzsteigerung – in Zukunft nicht mehr genügen wird, um erfolgreich zu bleiben. Genau da kommt jetzt die Romantik ins Spiel – und das Handwerk. Die Romantik – und ich meine damit die Ideen aus der Geistesbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, nicht das Candlelight-Dinner – betonte zwei Dimensionen unseres Menschseins, die uns einzigartig, das heißt, nicht automatisierbar machen: Einfühlungsvermögen und innerer Antrieb. Das Handwerk verkörpert beide Qualitäten und verbindet Leidenschaft mit Sinnhaftigkeit, sowie idealerweise mit dem Gefühl, die Berufung zum Beruf gemacht zu haben. Es besitzt Grundqualitäten, die auch für andere Berufe immer wichtiger werden, in denen Menschen noch eine Rolle spielen sollen: die Einzigartigkeit des Geschaffenen sowie eine intime, unmittelbare Beziehung zwischen Mensch und gefertigtem Objekt. Wenn wir diese neue Romantik im Herzen der Wirtschaft platzieren, dann profitieren wir auch wirtschaftlich: Menschengerechte Arbeit macht glücklicher, und glückliche, von innen heraus motivierte Mitarbeiter sind produktiver und innovativer. Zudem zahlen sich auch emotional gebundene Kunden für ein Unternehmen aus: Menschen wollen den Kontakt mit anderen Menschen, und wenn andere nur maximieren und optimieren, dann ragen jene Marken heraus, die genau dies ermöglichen. Und schließlich geht es um Innovation: Die können Maschinen noch nicht, sondern nur Menschen.“ (https://t3n.de/news/digitalisierung-handwerk-992776/)
Und Innovationen werden wir brauchen in der Zukunft. Damit komme ich zum nächsten Abschnitt:
4. Herausforderungen, Perspektiven und Potentiale
Wenn ich Vorträge über die Zukunft der Arbeit halte, dann nenne ich drei große Herausforderungen, vor denen wir in Deutschland stehen:
Demographischer Wandel, Digitalisierung und Klimawandel. Alle drei haben jeweils wieder komplexe Verbindungen untereinander, was die Frage die konkrete Antwort auf die Frage nach der Arbeit der Zukunft so schwierig macht. Die Digitalisierung hat das Potential, Arbeitsplätze zu vernichten – kann so aber den Fachkräftemangel durch den demographischen Wandel eventuell lindern. Der Klimawandel wird in den nächsten Jahrzehnten immer mehr Menschen in die nördliche Hemisphäre treiben und auch in Europa wird es vermutlich im Süden so heiß werden, dass Menschen flüchten werden. Die rasant steigenden Möglichkeiten der Digitalisierung eröffnen neue Berufs- und Betätigungsfelder, die in einer global vernetzten Welt gemeinsam nach Lösungen um Blick auf die Ausgestaltung von Lebensräumen und -möglichkeiten von Menschen suchen. Alles hängt miteinander inzwischen verflochten zusammen, und die unsinnigen nationalistischen Bestrebungen weltweit sind nur der verzweifelte Versuch, die Wahrheit auszublenden und die „gute alte Welt“ zu erhalten, die es aber noch nie gab und zu der es daher auch kein Zurück gibt. Meine Thesen lauten daher:
- Der Klimawandel ist die größte Herausforderung, die vor uns liegt und die wir wir entweder konstruktiv gestalten, oder aber schmerzlich erleiden werden.
- Wenn wir uns zusammen tun, haben wir genug Möglichkeiten und Potentiale, die Herausforderungen zu bestehen. Dabei wird es wie immer Gewinner und Verlierer geben, keine Frage. Vor allem die reichen Industrienationen haben genug Geld und Ressourcen, Lösungen zu erdenken und umzusetzen.
- Und drittens: Für einzelne Branchen sehe ich hier, auch wenn es angesichts des Maßes an Zerstörung, die wir schon angerichtet haben, zynisch klingt, „goldene Zeiten“ anbrechen, wenn sich diese Branchen geschickt, kreativ, innovativ und mutig den Herausforderungen stellen. Dazu zähle ich zB die Arbeitsplätze bei Kirche und Diakonie – und vor allem auch das Handwerk.
Wenn wir auf den sich gerade beschleunigenden Klimawandel reagieren wollen, dann ist das Handwerk in vielen Bereichen massiv gefragt – im Wohnungsbau, im Garten- und Landschaftsbau, in Fragen der Mobilität und der Energie. Ohne Handwerk wird das alles nicht gehen. Und insbesondere ist hier eine besondere Fähigkeit des Handwerks gefragt, die schon immer zum Grundbestand handwerklicher Tätigkeiten gehörte: das Reparieren.
Ich erinnere noch mal an das Zitat von Richard Sennet zum Reparieren. Er sagt: „Das Reparieren ist ein vernachlässigter, kaum verstandener, aber äußerst wichtiger Aspekt technisch-handwerklichen Könnens. (…) Wir verstehen oft erst beim Reparieren, wie Dinge funktionieren. Der einfachste Weg, etwas zu reparieren, besteht darin, es auseinanderzunehmen, das defekte Teil zu reparieren und das Ganze wieder in der ursprünglichen Form zusammen zu bauen.“ (266)
Schon das wäre in der Gegenwart ein wichtiger Lernprozess: zu verstehen, wie Dinge funktionieren. Dabei können uns die ungeheuren digitalen Werkzeuge mit ihren Möglichkeiten unendliche Spielräume eröffnen, weil wir zB im Modell reale Abläufe simulieren können, statt Prototypen aus Rohstoffen zu bauen. Noch spannender ist aber das dynamische Reparieren: „Es verändert das reparierte Teil in Form und Funktion“ (267). Und von solchem dynamischen Reparieren brauchen wir eine ganze Menge, weil Reparieren Rohstoffe und Ressourcen schont. Und genau das kann die Digitalisierung eben nicht, mit Herz und Hand innovativ Ideen zu entwickeln, um die Ecke zu denken, das Absurde auszuprobieren. Die digitalen Werkzeuge können uns dabei helfen und sie werden immer leistungsfähiger, aber die Fähigkeit, zu verstehen wie Dinge funktionieren und von dort aus auch neue Dinge zu erdenken, das kann der Computer nicht.
Ich sehe also fürs Handwerk große Potentiale und auch wieder eine Nähe zur biblischen Botschaft. Bebauen und bewahren heißt es am Anfang der Bibel, und hier können Kirche und Handwerk mit Herz Hand in Hand gehen.
Wenn Herz und Hand zusammen wirken, dann geschieht immer wieder etwas sehr spannendes, kreatives, innovatives. Hartmut Rosa beschreibt diesen Prozess so:
„In der Tat kennt jeder, der einmal eine bestimmte Technik der Stoffbearbeitung, eine handwerkliche Fähigkeit erlernt oder, besser, erworben, hat, das spezifische Gefühl, das sich einstellt, wenn die Materie dem Arbeitenden entgegenzukommen oder zu antworten scheint, wenn sich zwischen Material, Werkzeug und Hand eine Beziehung einstellt. (…) So wie sich die Hand und der Kopf (…) des Subjekts durch den Erwerb und die Ausübung einer Fähigkeit verändern, verwandelt sich auch der bearbeitete Stoff. (… Dabei impliziert) die Idee des antwortenden Materials immer auch die Möglichkeit von Widerstand, von Unvorhergesehenem und von Überraschungen: Der Teig, das Motorrad, aber auch der Text, den ich zu schreibe versuche, sie alle sprechen mit eigener Stimme; sie erweisen sich mitunter als widerspenstiges Material, lassen sich niemals vollkommen beherrschen, berechnen und vorhersehen. Tun sie es doch, hört die Beziehung auf, eine Resonanzbeziehung zu sein: Sie wird dann zu einer reinen Routine.“ (Hartmut Rosa, Resonanz 395,f.)
Wir brauchen diese Grunderfahrung des Handwerkens, mit Herz und Hand Neues zu schaffen, weil wir nur so die Herausforderungen bestehen. Und sie sind riesengroß. Wir brauchen das Handwerk, Lösungen zu suchen, zu finden, zu implementieren – oder wir brauchen das Handwerk, um die Schäden zu reparieren, die durch die Folgen des Klimawandels auf uns zurollen.
Die Herausforderungen sind riesengroß:
Wir brauchen eine neue Ökonomie, die in Kreisläufen denkt statt allein auf quantitatives Wachstum aus zu sein. Eine Ökonomie, die sich angesichts der Bedrohungen vermehrt um unsere Grundbedürfnisse in Gütern, Dienstleistungen und Infrastruktur kümmert statt sinnentleerten Konsum befeuern.
Und diese Grundbedürfnisse werden in in den nächsten Jahren Schritt um Schritt stärker in unseren Fokus geraten. In der Landwirtschaft. Im Baugewerbe. In der Energieversorgung. Im Bereich der Mobilität. Und in etlichen dieser Bereiche ist das Handwerk aktiv. Hier können wir in vielen Punkten noch sehr sinnvolles Wachstum gebrauchen und es können noch viele sinnvolle Unternehmensideen in den nächsten Jahren auch in Ihren Branchen entstehen. Wir brauchen hier qualitatives Wachstum, dass sich an den Linien orientiert:
- Reparieren statt wegschmeißen.
- Recyclen statt neue Rohstoffe verwenden, Müll mehr und mehr als wertvollen Rohstoff erkennen.
Der Wert des Handwerks in einer digitalisierten Welt liegt für mich darin, dass Sie mit Ihren spezifischen Fähigkeiten genau die Werkzeuge in der Hand haben, an den riesigen Herausforderungen mit zu arbeiten, die wir uns mit dem Klimawandel und Co selbst eingebrockt haben. Dazu gehört sicher auch der selbstkritische Blick, wie in der Vergangenheit mit Ressourcen umgegangen wurde. Aber die Fähigkeit, Neues aus Altem zu schaffen, das ist genau die Fähigkeit, die eine Welt braucht, die künftig auf Kreisläufe denn auf Wachstum setzt. Und diese Fähigkeit ist eine Kernkompetenz des Handwerks.
5. Zum Schluss
Die nächste Generation der Digitalisierung steht schon in den Startlöchern. Statt Smartphones und Tabletts, auf denen wir herum tippen, werden wir vermutlich in wenigen Jahren die digitale Welt mit unserer Sprache steuern. Und dazu kommen immer bessere virtuelle Räume. Diese klobigen Brillen werden bald kleiner, die ersten Handys nannte man auch Knochen. Und dann? Schon heute gibt es Reparaturanleitungen über Brillen gesteuert oder die Wartung von Maschinen geschieht über solche Werkzeuge. Wie auch immer, auch dieser Schritt wird unser aller Leben weiter verändern. Ich bin mir aber sicher, dass wir je tiefer wir in die virtuellen Räume vorstoßen, immer weiter und neu und anders auch den analogen Raum wieder neu und anders zu schätzen wissen. Nicht in dem Gegensatz: das Alte ist immer schon besser als das Neue, oder auch auch umgekehrt, alles Neue ist immer besser und wertvoller als das Alte. Nein, wir tun gut daran, sehr entspannt und pragmatisch im Blick zuhalten, was die einzelnen Werkzeuge in unseren Händen leisten können. Für uns und ein gutes Leben. Denn darum geht es doch.
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herzlichen Dank, davon teile ich sehr vieles.
LG, Hille, Strickerin, Häklerin, Bastlerin, Pfarrerin, Reparierin …
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