Unsere Generation steht vor zwei Herkulesaufgaben: Wir müssen die Welt mit 7,5 Milliarden Menschen gerechter machen und gleichzeitig die Umwelt vor dem Kollaps bewahren. Gerechtigkeit und Ökologie – beide Ziele sind zentral und müssen gleichrangig miteinander verschränkt werden. (8)
So lautet die These von Steffen Lange und Tilman Santarius, die sie in ihrem Buch :“Smarte grüne Welt“ entfalten und zwar unter der Perspektive, ob und wie sich die digitalen Entwicklungen auf diese Herausforderungen positiv auswirken (können).
Im ersten Teil beschreiben sie Triebkräfte der Digitalisierung sowie Chancen und Risiken, die dadurch entstehen. Sie untersuchen dazu fünf Bereiche: die materielle Basis der digitalen Geräte, die Herstellung und den Transport von Energie, den Konsum, den Verkehr und das produzierende Gewerbe. Sie vermissen eine grundlegende politische Richtung im Blick auf die Gestaltung des digitalen Wandels, konkret machen sie das zB an zahlreichen Reboundeffekten fest. Verbunden wird dies mit der Frage, wie sich all dies auf unsere (Erwerbs-) Arbeit auswirkt. Thetisch heißt es:
Es spricht nichts dagegen, Maschinen einen Teil der Arbeit übernehmen zu lassen. Noch spannender jedoch ist die Frage, wie sie genutzt werden können, um Arbeit menschengerecht und sinnstiftend zu gestalten. (97)
Dabei beschreiben sie die bekannten Fakten: Arbeitsplätze werden verloren gehen, andere neu entstehen, aber die Gruppe derer, die heute bereits unten steht, wird nicht kleiner werden. Im Gegenteil, Einkommensungleichheit nimmt mehr und mehr zu. Allerdings sehen Lange und Santarius auch:
Die Polarisierung der Einkommen und die Prekarisierung einkommensschwacher Bevölkerungsteile sind zentrale Gründe, warum sich die Wachstumsraten in Zukunft vermutlich gar nicht einstellen werden. Man könnte sagen, die Digitalisierung sägt den Ast ab, auf dem sie sitzt.“ (128)
Nach diesem ersten, analytischen Teil formulieren die Autoren ihre zentrale These:
Bislang werden digital- und netzpolitische Diskussionen noch kaum mit dem Ziel einer sozialökologischen Transformation der Gesellschaft verbunden. (143)
Hierzu möchten sie einen Beitrag leisten und beschreiben drei „Wirkmechanismen“, denen anschließend drei Leitprinzipien gegenübergestellt werden. Die Wirkmechanismen lauten:
- Die Digitalisierung eröffnet in verschiedensten Anwendungsfeldern unzählige Effizienz- und Optionensteigerungen
- Digitalisierung besteht aus einer Fülle von Informationen
- Die Digitalisierung trägt in sozialer Hinsicht zu einer Umverteilung und Polarisierung der Gesellschaft bei
Die zugeordneten Leitprinzipien lauten:
- Prinzip der digitalen Suffizienz
- Prinzip des konsequenten Datenschutzes
- Prinzip der Gemeinwohlorientierung
Im Überblick:[Mit freundlicher Genehmigung der Autoren]
Diese drei Leitprinzipien werden im letzten Drittel des Buches an etlichen konkreten Überlegungen und Vorschlägen entfaltet. Ich nenne nur einige Stichworte: Selektive Werbeverbote einrichten, Algorithmusgesetz schaffen, Monopole bekämpfen, Care-Ökonomie stärken, Re-Regionalisierung der Wirtschaft fördern.
Ein Stichwort möchte ich genauer beschreiben: Die Autoren fordern, die Debatten um die Digitalisierung zu prägen, sich also nicht nur zu beteiligen.
Es fehlen schlagkräftige zivilgesellschaftliche Akteur*innen, die auf die ökologischen Dimensionen der Digitalisierung fokussieren. Die Frage, wie die digitale Weltgesellschaft in Zukunft aussehen wird (…) darf nicht allein den Konzernen aus dem Silicon Valley, den Risikokapitalgeber*innen und den Startups überlassen werden. (…) Umwelt- und Entwicklungsverbände, Kirchen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände, soziale Bewegungen und Thinktanks der angewandten Wissenschaft können (…) den Diskurs auf zweifache Weise prägen. Zum einen als kritische Begleiter*innen (…). Zum anderen als AgendaSetter: Sie können den bisher einseitig auf Wachstumsversprechen für die deutsche Industrie geführten Diskussionen als die genannten sozialen und ökologischen Themen entgegenstellen. (194)
Bemerkenswert (weil selten) ist für mich, dass in diesem Zusammenhang die Kirchen explizit genannt und damit auch aufgefordert werden, sich viel stärker in die Debatten einzumischen und mit anderen zu verbinden. Denn:
Wenn unterschiedliche ‚Szenen‘ und ‚Subkulturen‘ aufeinandertreffen, um an einem Strang zu ziehen, wird oft ein besonders innovatives und kreatives Potential entfesselt, dass neben dem technischen Fortschritt auch einen emanzipatorischen Fortschritt der Gesellschaft auslösen kann. (198)
Dem kann ich mich nur anschließen.
Fazit: Ich habe das Buch in einem Zug gelesen. Das hatte drei Gründe: Erstens war für mich in den Themen vieles bekannt (das machte mir den Zugang leicht), zweitens ist es außerordentlich flüssig geschrieben und zum dritten steckt die positive Dringlichkeit gepaart mit vielen handlungsorientierten Vorschlägen an. Und macht Mut, sich mit anderen zusammen weiter auf den Weg zu machen, für eine sozial gerechte und ökologisch verträgliche Zukunft zu streiten. die abwägende Analyse gibt dazu viele Argumente und Hinweise.
Steffen Lange/Tilman Santarius: Smarte grüne Welt?: Digitalisierung zwischen Überwachung, Konsum und Nachhaltigkeit. oekom, Taschenbuch 15,00 €/e-Book 11,99 €