Anlass und Absicht
Vor einiger Zeit hörte ich einen Vortrag von Alexander Dietz über Sozialanwaltschaft. Dieser in der Diakonie schon lange beheimatete Begriff ist für mich ganz neu. Ich recherchiere etwas und stoße auf einen Sammelband, den Alexander Dietz mit Stefan Gillich zusammen herausgegeben hat. Er trägt den Titel: Barmherzigkeit drängt auf Gerechtigkeit (erschienen in der EVA Leipzig).
Die hier versammelten Aufsätze umkreisen Sozialanwaltschaft theoretisch und praktisch. Ich beginne zu ahnen, dass dieser Begriff geeignet ist, wie durch ein Brennglas Fragestellungen zu bündeln, zu präzisieren und in die Weite zu führen. In diesem Beitrag versuche ich Einsichten aus der Lektüre festzuhalten. Ich sortiere diese unter verschiedenen Überschriften mit Reflexionen oder Kommentare, am Ende nehme ich noch einen Gedanken aus dem Vortrag auf von Alexander Dietz auf.
Sozialanwaltschaft aus Herausforderung für die verfasste Kirche
Es ist die Lage der Schwächsten, an der sich entscheidet, ob von Gerechtigkeit die Rede ist. (36 – ich verzichte darauf, die einzelnen Autor/-innen anzugeben und nenne nur die Seitenzahlen aus dem Band)
Sozialanwaltschaft knüpft an die Tradition des Blicks von unten (Bonhoeffer) oder an die „Option für die Armen“ an. Das ist nichts Neues, nur der Begriff ist ein anderer. In der Gegenwart kommt nun allerdings eine neue Perspektive hinzu. Alexander Dietz schreibt dazu:
Die ökonomische Abhängigkeit von einem Staat, der die Verbände nicht mehr als Partner auf Augenhöhe, sondern als austauschbare Dienstleister betrachtet, stellt die Verbände in eine Situation und umgänglicher strategischer Entscheidungen. (…) Sollen sich die Verbände als Anwälte organisatorisch stärker von ihren Einrichtungen als Dienstleister trennen? Welche strategischen Partnerschaften mit weniger abhängigen Akteuren sind möglich? Für die kirchlichen Wohlfahrtsverbände bietet sich an dieser Stelle eine stärkere Vernetzung mit den Kirchen an. Kirchenkreis-Referenten, Dekane oder Pfarrer können möglicherweise dort sozialpolitische Forderungen öffentlich vertreten, wo örtlichen Verbandsfunktionären die Hände gebunden sind. (123f.)
Hier bin ich zunächst ganz konkret als Pfarrer mit einer Funktionspfarrstelle im Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) angesprochen. Sozialanwaltschaft ist Teil meiner Tätigkeit dort. Wenn ich das weiter denke, ergeben sich aber viele weitere Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Und Anknüpfungspunkte, zum Beispiel an die Gemeinwesendiakonie, die in den letzten Jahren versucht, Kirche und Diakonie in ihrer Vielfalt stärker in die Kommunikation und Kooperation mit der Zivilgesellschaft zu führen.
Sozialanwaltschaft und Lobbyismus
Eins der echten „Aha“-Erlebnisse beim Lesen war die Erkenntnis, dass Lobbyismus ein sinnvoller und notwendiger Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft ist.
Es ist zu betonen, dass ein demokratisches System Lobbyismus braucht, um zu funktionieren. Es geht darum, Politiker (und andere Adressaten) für wichtige Themen zu sensibilisieren und mit Informationen zu versorgen, auf die sie angesichts der Komplexität vieler Themen und ihres begrenzten Mitarbeiterstabs angewiesen sind. Lobbyisten tragen dazu bei, dass politische Interessenvertreter kontrolliert werden, dass Meinungen von Bevölkerungsgruppen mit ähnlichen Interessen gebündelt werden und dass auf Missstände hingewiesen wird. Sozialverträgliche Lobbyarbeit berät Politik mit dem Ziel, dass ausgegrenzten Menschen Teilhabe ermöglicht wird. (125)
Lobbyarbeit ist also Kommunikation zwischen Gesellschaft und Politik. Wenn diese offen, transparent, unbestechlich und mit klarer Rollenverteilung erfolgt, profitieren Politik und Gesellschaft. (133)
Das hat mir sehr eingeleuchtet und ich fand die verschiedenen Aufsätze zu dieser Thematik im Rahmen von Sozialanwaltschaft sehr erhellend. Sozialanwaltschaft ist Lobbyismus. Ich schlucke allerdings immer noch, wenn ich das laut ausspreche, die Prägungen sitzen tief.
Sozialanwaltschaft und Macht
Ein positives Verständnis von Lobbyarbeit ist insofern von allergrößter Bedeutung, weil es in der Sozialanwaltschaft immer darum geht, Veränderungen zum Besseren zu erreichen. Das geht nicht ohne den Willen zur Macht. Machtbewusstsein ist in kirchlichen, diakonischen und anderen Raum häufig negativ besetzt. Wer Macht ausüben möchte, gilt als verdächtig. Allerdings, und das wird im Sammelband an einem Zitat von Martin Luther King deutlich, lässt sich diese negative Bestimmung auflösen, wenn Macht in bestimmter Weise auf Liebe bezogen wird:
Um Macht und Einfluss zu generieren, braucht es Einigkeit und Stärke. (…) Hören wir hier zu Martin Luther King: „Macht, richtig verstanden, ist die Fähigkeit, etwas zu erreichen. Es ist die Stärke, die man braucht, um soziale, wirtschaftliche und politische Veränderungen herbeizuführen. In diesem Sinne ist macht nicht nur erwünscht, sondern auch notwendig, um die Forderungen von Liebe und Gerechtigkeit zu erfüllen. Eines der größten Probleme der Geschichte ist es, dass die Begriffe Liebe und Macht als polare Gegensätze gegenübergestellt werden. Liebe wird mit dem Verzicht auf Macht und macht mit der Verneinung von Liebe identifiziert. (…) Was wir brauchen, ist die Erkenntnis, dass Macht ohne Liebe rücksichtslos und schimpflich ist und dass Liebe ohne Macht sentimental und blutleer ist. Macht im besten Sinne ist Liebe, die alles ändert, was sich der Liebe entgegenstellt.“ (53)
Sozialanwaltschaft als Haltung
Sozianwaltschaft ist eine Haltung. Eine Haltung der Parteilichkeit, die sich in anwaltliche Handlungen übersetzt:
Die Parteilichkeit mit den Betroffenen ist eine der Grundvoraussetzungen für die Idee des anwaltschaftlichen Handelns. Der Anwalt ergreift Partei für seinen Klienten und vertritt sie gegen die Vertreter einer anderen Partei. Zwischen diesen Parteien herrscht ein Konflikt. Es gibt unterschiedliche Interessen, und es gibt Regeln und Verfahren, wie diese Konflikte zu bewältigen sind. (49)
Parteilich ist eine Person, die an jemandes Seite steht, vorurteilsfrei und wertfrei den Zustand akzeptiert, wertschätzt und die (benachteiligte) Personen unterstützt, ihre Interessen zu vertreten – wo notwendig und gemeinsam. Ein Anwalt hat eine Vertretungsfunktion. Er ist Fachmann für die Durchsetzung von Interessen und vertritt – sprachmächtig und strategisch versiert – seinen Klienten. Er hat den besseren Überblick, steuert das Verfahren und ist in der Lage, sich angemessen zu artikulieren. Es ist, für einen befristeten Zeitraum, ein Über- und Unterordnungsverhältnis. (22)
Entscheidend für mich ist das Bewusstsein, dass der Anwalt, die Anwältin (der Sammelband verzichtet auf gendergerechte Sprache) sich seiner Rolle und Position im Geschehen bewusst ist – und der Tatsache, dass diese Rolle nicht an seine Person dauerhaft gebunden ist, sondern befristet. Ich habe eine bestimmte Sprachfähigkeit, Über- und Einblick und strategisches Geschick, mich in einem bestimmten Kontext – hier im weitesten Sinn im öffentlichen und politischen Raum angemessen bewegen zu können, um etwas zu bewegen. In anderen Kontexten bin ich vielleicht der- oder diejenige, der/die Anwaltschaft anderer bedarf. So verstanden, eröffnet der Begriff der Sozialanwaltschaft die Möglichkeit, eigenes Denken, Reden und Handeln im politischen und öffentlichen Raum immer wieder zu überprüfen und in verschiedenen Reflexionsschleifen zu präzisieren bzw. abzugrenzen.
Sozialanwaltschaft und mediale Formate
In einem Nebensatz hat Alexander Dietz in seinem Vortrag eine Frage gestellt, an der ich hängen geblieben bin:
Wer hat denn heute (noch) die Zeit, sich hinzusetzen und einen Leserbrief zu schreiben?
Es ging ihm in diesem Moment um die Frage, wie die Wahrnehmung von Sozialanwaltschaft in Arbeitsplatzbeschreibungen und Dienstanweisungen verankert werden kann. Ich dachte allerdings, ach, schau an, ein Leserbrief gehört vielleicht auch dazu… Was bedeutet das, wenn ich es weiter denke?
Sozialanwaltschaft ist dann in viel mehr Formaten denkbar und möglich und verteilt sich so auch auf mehr Schultern. Dies geschieht ja auch längst unter uns. Christ/-innen bloggen, twittern, veröffentlichen Fotos auf Instagram, schreiben Leserbriefe, diskutieren auf Facebook, verteilen Flugblätter in Fußgängerzonen usw. Wir erheben unsere Stimme in einer Vielfalt von Netzwerken – aber dies bekommt vielleicht noch einmal einen neuen Schwung, wenn ich all diese Aktivitäten und Formate unter die Überschrift: „Wahrnehmung von Sozialanwaltschaft“ einordne.
Es motiviert vielleicht den einen oder die andere noch einmal anders und neu, die eigenen Netzwerkaktivitäten unter einem verbindenden Begriff zu verstehen. Zugleich befreit dieser Gedanke, im Schwarm aktiv zu sein mich auch dorthin, die „Kunst des Nebenbei“ zu pflegen, die außerordentlich erleichternd ist, weil sie mich vom Druck befreit, „auch das noch“ machen zu müssen.
Das entlastet dann auch diejenigen, die sich qua ihrer Ämter und Zuständigkeiten in den politischen Netzwerken bewegen und dort Lobbyarbeit leisten. Sie können auch auf andere zugehen und sie um Unterstützung in der sozialanwaltschaftlichen Arbeit bitten, durch einen Leserbrief, eine Aktion, eine Facebook-Aktion usw. Auch dies geschieht längst unter uns, es könnte aber noch mehr werden.
Gute Begriffe sind für mich in solchen Zusammenhängen immer geeignet, wie in einem Brennglas die Dinge zunächst auf den Punkt zu bringen und dann von dort ausgehend zu öffnen. Sozialanwaltschaft ist für mich solch ein Begriff, den es lohnt, aus dem Raum der Diakonie in den Bereich der (verfassten) Kirche zu führen.
Bei go.ogle „Sozialanwaltschaft“ eingegeben. Da kommt nur Juristisches. Ich versuche die Verbindung „Diakonie“ und „Sozialanwaltschaft“. Besser als nichts, aber ergiebig ist auch anders.
Ich werfe mal einen – meiner Meinung nach – guten Begriff in die Runde, mit dem wir seit vielen Jahren unterwegs sind: „Option mit den Armen“.
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