Hundert Tage ohne Gemeindepfarramt

  1. Februar 2015.
    Heute vor hundert Tagen habe ich meine neue Stelle in Osnabrück angetreten.
    Seither bin ich kein Gemeindepfarrer mehr.
    Nach fünfundzwanzig Jahren.
    Wie ist es mir damit ergangen?

Der Bestatter klingelt nicht mehr.
Das war mit das Erste, was mir auffiel.
Der Tod kommt im meist schon gut gefüllten Pfarramtskalender eigentlich immer zur Unzeit.
Das Trauergespräch, die Vorbereitung, Gottesdienst und Beisetzung müssen irgendwie untergebracht werden.
Manchmal gelingt das gut, manchmal nicht.
Ab der vierten Beerdigung in der Woche wird es kritisch.
Unterschwellig habe ich all die Jahre auf den Anruf des Bestatters gewartet.
Wenn ich nicht grade im Urlaub oder auf Fortbildung war.
Dabei empfand ich die Begleitung Trauernder zumeist nicht als Last.
Die Nähe zu Menschen in einer persönlichen, intimen Situation hat mich immer mit Ehrfurcht erfüllt.
Und ich war für viele Begegnungen dankbar.
Ich lernte nicht nur viel über den Tod und das Sterben, sondern auch über das Leben.
Und doch finde ich es entlastend, dass der Bestatter nicht mehr anklingelt.

Entlastung ist das Wort, das mir auch an anderer Stelle früh durch den Kopf ging.
Ich fühlte mich erleichtert, weil ich nicht mehr jeden Sonntag predigen „musste“.
Oder durfte, das Predigen hat mir ja mit am meisten Freude gemacht.
Aber ich spürte auch die Last der Verantwortung.
Sonntag für Sonntag etwas „Vernünftiges“ sagen zu müssen.
Nicht zu schwätzen oder zu langweilen.
Versteht Ihr, was ich meine?
Nein?
Gut, ich versuche es noch mal anders.
Das Gefühl der Entlastung ging einher mit einer Hochschätzung für diesen Beruf.
Was ist das für eine Chance –
aber auch für eine Verantwortung:
Jede Woche zu und mit Menschen zu sprechen.
Über Dinge, die sie tief im Herzen bewegen.
Wer hat sonst in unserer Welt regelmäßig diese Gelegenheit?
Aber es ist auch eine Last.
Das wurde mir erst klar, als ich aus dem gewohnten Rhythmus heraustrat.
Sonntags „frei“ hatte.
Und in den Gottesdienst gehen konnte, wann und wohin ich wollte.
Das gefällt mir gut.
Beides.

Fünfundzwanzig Jahre kannte mich jede/r.
Jede/r Geschäftsfrau/mann, jede/r Politiker/in, (fast) jede/r Ärzt/in.
Und die Gemeindeglieder sowieso.
Einkaufen gehen war eine Chance auf Seelsorge.
Ebenso der Sonntagsspaziergang auf dem Deich.
Nicht jedes mal.
Aber oft.
Und plötzlich kannte mich keine/r mehr.
Niemand konnte mit meinem Gesicht etwas anfangen.
Niemand weiß, dass ich Pfarrer bin.
Gut, das ändert sich allmählich wieder.
Aber jetzt kommt dieser Knick dazu:
Ach, Sie haben gar keine Gemeinde?
Die lange Zeit selbstverständliche Nähe zu Menschen ist nicht mehr da.
Im Gespräch finden viele toll, was ich jetzt mache.
Aber:
Ich bin kein Gemeindepfarrer mehr.
Das ist mir klar und den anderen.
Und bei allen spannenden Begegnungen:
Es ist anders, distanzierter.
Als Gemeindepfarrer haben Menschen mir ein weitergehendes Vertrauen entgegengebracht.

Weihnachten ohne Gottesdienste.
Das war der Hammer.
Ich saß in der Katharinenkirche in Osnabrück und dachte, wow …
… so sieht das Heilig Abend aus der Bank heraus aus.
Ein wenig erinnerte es mich an Weihnachten im Dom zu Wetzlar.
In meiner Kindheit und Jugend.
Du sitzt da und lauschst einer Pfarrerin, einem Pfarrer.
Die versuchen, dir etwas über Weihnachten zu erzählen.
Und ich sitze da und höre zu.
Mehr oder weniger intensiv.
Schaue nach rechts und links, wo meine Familie sitzt.
Denke über das Essen nach und was wir morgen so machen.
Ich denke:
So wird es bei vielen Familien sein.
Aber nicht bei Pfarrfamilien.
Da ist Weihnachten anders getaktet.

Jetzt sind schon wieder ein paar Wochen vergangen.
Ich komme in meiner neuen Tätigkeit immer mehr an.
Der Vergleich zum Gemeindepfarramt,
anfangs ein permanenter Begleiter,
ist mittlerweile verblasst.
Manchmal fällt er mir wieder ein.

So frage ich mich zum Beispiel:
Der Kirchenjahresrhythmus – wie sieht das aus von außen?
Advent, Weihnachten, jetzt Epiphanias –
ja, gut.
Ich habe es im Kopf.
Weniger aber als früher.
Wo der Kirchenjahreskalender alles vorgab.
Oder diktierte?
Ich habe mich mit Advent, Weihnachten und so weiter beschäftigt, weil es dran war, üblich, gewohnt.
Interessant ist aber, dass ich mit meiner eigenen Person hier offenbar viel weniger verbinde.
Advent habe ich letztes Jahr kirchlich nur am Sonntag wahrgenommen, im Gottesdienst.
Der Rest war – Alltag ohne permanente innere wie äußere Beschäftigung mit der Kirchenjahreszeit.
Und Epiphanias?
Spielt keine Rolle in meinem gegenwärtigen Alltag.
Da stellt sich (mir) natürlich auch die Frage nach meinem eigenen geistlichen (ER-) Leben.
Aber ich frage (mich) auch:
Geht es anderen auch so?
Den Gemeindegliedern?
Ganz „normalen“ Christinnen und Christen?
Und wenn ja:
Was machen wir da eigentlich in unseren Gemeinden?
Und für wen machen wir das?
Wie hängen Tradition und Gegenwart zusammen, in welchem Verhältnis stehen sie?
Ich spüre an mir, dass der Kirchenjahresreigen ohne Gemeinde verblasst.
Er verschwindet nicht.
Aber er hat nicht mehr die Bedeutung, den mir der Rhythmus als Gemeindepfarrer vorgab.
Das finde ich erschreckend und spannend zugleich.
Erschreckend, weil wie gesagt, was machen wir gewohnheitsmäßig da Jahr um Jahr?
Spannend, weil ich mir plötzlich ganz anders die Frage stelle,
besser: sie sich mir stellt,
wie alltagsrelevant Advent, Weihnachten, Passion und Ostern sind.

Hundert Tage ohne Gemeinde.
Ich vermisse nichts.
(Klar, den einen oder die andere schon.
Doch das hat mehr mit dem Umzug zu tun,
weniger mit dem Wechsel der Stelle.)
Und ich glaube, ich bin hier schon ganz richtig.
In meinen Versuchen, dass Evangelium als KDA-Pfarrer unter die Menschen zu bringen.
Das ist ganz anders als vorher.
Aber diese drei Monate haben mir – mehr denn je – vor Augen gestellt,
dass das Gemeindepfarramt eine ganz wunderbare Aufgabe und Herausforderung ist.
Die fünfundzwanzig Jahre will ich nicht missen.

Germeindehaus Rönskenhof
Gemeindehaus Rönskenhof, meine alte Wirkungsstätte. Handy-Aufnahme im Oktober 2014

 

 

Ein Gedanke zu “Hundert Tage ohne Gemeindepfarramt

  1. es klingt so, wie wenn jeder Pfarrer oder Pfarrerin mal diese Erfahrung machen sollte. Gut nachzuvollziehen, was ein Amt aus einem und mit einem macht.
    Ich habe eine Freundin, deren Mann auch gerade eine Sonderpfarrstelle hat. Da klingt vieles ähnlich.
    Liebe Grüße, Tine

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