Momo 4.0

Die Zeit ist da.
Aber anfassen kann man sie nicht.
Und festhalten auch nicht.
Vielleicht ist sie so was wie ein Duft?
Aber sie ist auch etwas, das immerzu vorbeigeht.
Also muss sie auch irgendwo herkommen.
Vielleicht ist sie so was wie der Wind?
Oder nein!
Jetzt weiß ich´s!
Vielleicht ist sie eine Art Musik, die man bloß nicht hört, weil sie immer da ist.
(Michael Ende, Momo S. 164)

Um die Jahreswende las ich vier Tage nur Bücher und fuhr mit dem Rad durch die Gegend.
„Nur“.
Tief ist diese Logik in uns eingesickert.
Allgegenwärtigkeit von Zahlen, Tickern, Uhren.

Es war an der Zeit.
Der Laptop meiner Frau ächzte schon lange.
Alle Versuche ihn wieder auf Trab zu bringen verliefen ergebnislos.
Das simple Öffnen einer Internetseite dauerte – gefühlt – Stunden.
Zeitverlust ohne Ende.

Eine neues Gerät kaufen kostet aber ebenso Zeit.
Das Angebot ist schier unendlich.
Und das Geld soll ja „gut“ investiert werden.

Mich erinnerte all das an Momo.
Das legendäre Buch von Michael Ende.
Dort werden die Menschen dazu angehalten, Zeit zu sparen.
Und stellen später fest, dass damit ihr Leben verloren ist.
Sie haben es den grauen Eminenzen geopfert.

Zeit ist Geld.
Geld ist Zeit.
Wenn wir Zeit sparen – wofür?

Und das macht Spaß?
Darauf kommt es nicht an.
Worauf kommt es denn dann an?
Darauf, dass es nützlich ist für die Zukunft.
(S. 223)

Momo wurde 1973 geschrieben.
Sparen ist nützlich für die Zukunft.
Für eine goldene Zukunft, versprochen.
Heute sind wir weiter.
Mittlerweile wird in der Ökonomie über Wirtschaft 4.0 diskutiert.

4.0.
Das klingt nach Fortschritt, modern.
Und die Ökonomie hat auch Teil daran.
Nicht nur Web 2.0 oder Firefox 37.2 oder iPhone 5.
Wirtschaft 4.0.
Auf der Höhe der Zeit.
Es geht voran.
Immer höher und weiter.

Die Digitalisierung hält endgültig Einzug auch in die Ökonomie.
Und das kapitalistische System wird dafür sorgen, dass dadurch der Zeitdiebstahl weiter voran schreitet.
Oder zumindest in Gang bleibt.
Er greift nach uns und den Möglichkeiten, miteinander zu kommunizieren.
Uns zu verbinden und zu vernetzen.

Das System nimmt immer groteskere Züge an.
Doch wir merken es nicht.
Oder nur selten.
Die Zukunft interessiert kein Mensch mehr.
Was zählt, ist das hier und heute.
Auskosten, indem ich konsumiere.

Nützlich ist nur noch, was für den Moment zählt.
Die Zukunft ist verloren.
Perfide ist das.
Momo 4.0.
Aber es kommt noch dicker.

Das Einzige worauf es im Leben ankommt, ist, dass man es zu etwas bringt, das man was wird, das man was hat.
Wer es weiter bringt, wer mehr wird, und mehr hat als die anderen, dem fällt alles übrige von selber zu:
Freundschaft, Liebe, Ehre und so weiter.
(S. 97)

Der Kapitalismus gaukelt mir vor, dass ich meine mir eigene Individualität permanent weiter entwickeln muss.
Es ist wichtig, dass ich meine eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten kenne.
Oder kennen lerne.
Und dann ausbaue, zur Blüte bringen.
Immer weiter und weiter.
Lebenslanges Lernen hieß das mal.
Und hat manchmal richtig Spaß gemacht.
Heute ist es eher ein jappsendes Hinterherhecheln.

Immer neue, immer noch größere, immer noch präzisere Anforderungen werden gestellt.
Um voran zu kommen, muss ich Geld, Kraft und Zeit investieren.
Um später etwas davon zu haben.
Um die Karriere zu befördern.
Um morgen noch genauso viel konsumieren zu können wie heute.
Weniger wäre ja Verlust von Lebensqualität.
Und das geht nicht.
Es ist verboten, so zu denken.
Die Wachstumsideologie haben wir schön verinnerlicht.

Am besten nehme ich Kredit auf.
Investiere in mich.
Oder ins neue iPhone.
Warum bis morgen warten?
Dann ist es alt und von gestern.
Um die Schulden abzuzahlen, verbleibe ich lange im Teufelskreis.
Und opfere Zeit, natürlich.

Doch was ist in der Zwischenzeit?
Wo findet Leben statt, wenn ich permanent ins eigene „Ich“ investieren muss?
Um morgen noch dabei zu sein?
Oder um morgen endlich dabei zu sein?
Oder hecheln muss, um meine Schulden zu begleichen?
Immer den Blick nach vorn gerichtet:
Dann, ja dann beginnt das Leben.
Und heute?
Geh shoppen, das lenkt ab.

Zeit ist Geld.
Spare ich Geld, spare ich Zeit.
Zahle ich meinen Kredit ab, zahle ich mit meiner Zeit ab.
Habe keine Zeit mehr für Kinder, Familie, Freunde.
Beppo Straßenkehrer lässt grüßen.
Leiht sich Zeit und hat danach keine mehr.
Ein perverses Spiel.
Momo 4.0.

Nur so lange wir unerkannt sind, können wir unserem Geschäft nachgehen…
ein mühseliges Geschäft, den Menschen ihre Lebenszeit, stunden-, minuten und sekundenweise abzuzapfen …
denn alle Zeit die sie einsparen, ist für sie verloren ..,
wir reißen sie an uns …
und wir brauchen mehr …
immer mehr …
denn auch wir werden mehr …
immer mehr …
(S. 99)

Es herrscht in dieser Zeit, in diesem System ein Zwang zur Selbsterlösung:
Nur ich kann etwas für mich tun,
aber ich muss es auch tun.
Konsum ist Erlösung, ist Belohnung, ist Vergebung
– und sei es in dieser Form:
Ich muss mir jetzt etwas gönnen, etwas Gutes tun –
wenn es schon mit dem neuen Job nichts wird
oder mit dem nächsten Schritt auf der Karriereleiter.

Selbsterlösung ist grausam.
Sich nicht selbst erlösen können,
weil ich nicht teilnehmen kann am großen Spiel,
das ist noch grausamer.
Weil jede Hoffnung fehlt.

Im Advent stand auf einer Weihnachtskarte:
Gott mag keine perfekte Menschen.
Schöner Gedanke.
Gott mag keine perfekte Menschen.
Aber der Kapitalismus .
Und er fordert und fördert sie.

Strahlend schöne Frauen und Männer in der Werbung.
Gertenschlank, blitzweiße Zähne, die Kinder wohlerzogen.
So bist du nicht! lautet die Botschaft.
Aber kauf mich und du bist einen Schritt weiter.
Auf dem Weg zum Heil.

Niemand schien zu merken, dass er indem er Zeit sparte, in Wirklichkeit etwas ganz anderes sparte.
Keiner wollte wahrhaben, dass sein Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und kälter wurde.
Aber Zeit ist Leben.
Und das Leben wohnt im Herzen.
Und je mehr die Menschen daran sparten, desto weniger hatten sie.
(S. 75)

Umdeuten tut not.
Dekonstruieren der Wirklichkeit, kompliziert gesagt.
Leben ist nicht Konsum.
Nicht sparen für später.
Leben ist Begegnung.
Dann steht die Zeit still.

Die grauen Männer haben das erkannt.
Als sie Momo isolieren.
Ihre Freunde verführen und gefangen nehmen.
So dass sie keine Zeit mehr haben für Momo.
Die kleine Gemeinschaft der Freundinnen und Freunde ist gefährlich.
Da wird gedacht und gelacht.
Zeit verschenkt, verprasst.
Aber eigentlich steht sie still.

Die Arbeiter konnten ruhig und mit Liebe zur Sache arbeiten,
denn es kam nicht mehr darauf an, möglichst viel in kurzer Zeit fertigzubringen.
Jeder konnte sie zu allem so viel Zeit nehmen, wie er brauchte und haben wollte,
denn von nun an war ja wieder genug da.
(S. 278)

Glaubenssätze bestimmen uns.
Woran glaube ich?

Entweder:
Zeit ist Geld.
Beides ist knapp.
Ich darf keine Zeit verlieren.
Ich habe keine Zeit.
Ich muss Zeit sparen.
Ich muss die Zeit optimal ausnutzen.

Oder:
Zeit vergeht.
Und doch ist genug Zeit da.
Ich kann Zeit verprassen.
Ich kann Zeit verschenken.
Ich kann die Zeit sogar still stehen lassen.
Dann vergesse ich Zeit und Raum.
Ich vergesse mich in Musik, die mich forttreibt.
In Worten, die mich und und andere berühren.
An einen Baum gelehnt und dem trägen Wasser des Fluss zusehen.
In Farben und Formen.
In schöpferischen Akten.
In der Liebe.
Im Moment.
Und bin bei mir und anderen.

Die Zeit steht still.

Die Zukunft öffnet sich.

 

P.S.
Der Text ist parallel mit einem zweiten Beitrag entstanden, in dem es um das Buch Kapital Macht Politik von Harald Trabold geht. Er findet sich hier.

P.P.S.
Was ich bisher nicht wusste:
Michael Ende hat selbst schon einen Zusammenhang zwischen Zeit und Geld gesehen.
In einem Brief schrieb er:

„Übrigens sind Sie bis jetzt der erste, der bemerkt hat, daß die Idee des alternden Geldes im Hintergrund meines Buches Momo steht. Gerade mit diesem Gedanken von Steiner und Gesell habe ich mich in den letzten Jahren intensiver beschäftigt, da ich zu der Ansicht gelangt bin, daß unsere ganze Kulturfrage nicht gelöst werden kann, ohne daß zugleich oder vorher sogar die Geldfrage gelöst wird.“ (Gefunden auf Wikipedia, Artikel Momo: https://de.wikipedia.org/wiki/Momo_(Roman))

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