(Den Text gibt es hier auch als PDF als Download, für diejenigen, die längere Texte lieber so lesen.)
1. Einleitung
Frithjof Bergmanns Buch »Neue Arbeit, neue Kultur« ist mittlerweile seit 17 Jahren auf dem Markt. Viele der dort niedergelegten Beobachtungen des »Urvaters von New Work« und der daraus abgeleiteten Thesen und Metaphern sind nach wie vor aktuell. Allerdings gilt es, den in der fortschreitenden Klima-Corona-Krise1 veränderten Kontext mit zu bedenken und die Thesen und Metaphern zu präzisieren bzw. anzupassen. Ich beschränke mich bewusst auf sein Werk von 2004, mit einem kleinen Seitenblick auf das ältere, wenn auch erst 2005 auf Deutsch erschienene Buch: »Die Freiheit leben.« Bergmann hat seine Thesen in Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen weiterentwickelt, allerdings gibt es kaum schriftlich vorliegende Texte. Das »rote Buch« gilt nach wie vor als Ausgangs- und Bezugspunkt, wenn über das »Original« von New Work nachgedacht wird. Ich gehe so vor, dass ich die Thesen bzw. Metaphern kurz vorstelle, mein Versuch der Aktualisierung schließt sich jeweils an. Dabei betrachte ich in den Abschnitten 2.-4. die analytischen Thesen bzw. Metaphern und in den Abschnitten 5.-7. die in die Zukunft weisenden Ideen zu New Work, zu »neuer Arbeit«. All das bleibt kurz und knapp und thetisch, entspricht eher einem Doppelpunkt als einer ausgefeilten wissenschaftlichen Auseinandersetzung.
2. Die Welt ist ein Zug, der dem Abgrund entgegenrast
2.1. Bergmanns Position
Frithjof Bergmann vergleicht die Situation im Kapitalismus in den neunziger Jahren mit den Reisenden in einem Zug, der dem Abgrund entgegenrast. Den Passagieren wird zwar ihre bedrohliche Situation nach und nach bewusst, aber alle Türen und Fenster sind verriegelt. Im Hintergrund der Metapher stehen verschiedene Faktoren, die wie Zahnräder ineinander greifen: Arbeitsplätze gelten als »Omni-Wert« (Hauptsache, Arbeit!) in Verbindung mit dem Arbeitsplätzemonopol der Ökonomie, Automatisierung, Globalisierung und das Gefühl, es gibt keine Systemalternative mehr nach dem Untergang des Sozialismus. Dabei identifiziert Bergmann zwei Kulturen, eine offizielle und eine inoffizielle. Erstere wird durch Klischees wie den Nadelstreifenanzug und der unbedingten Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum symbolisiert, die andere durch Klischees wie freie Liebe und esoterische Spiritualität. Gemeinsam ist Menschen beider Kulturen die Ahnung, es geht nicht so weiter, aber – sie warten. Sie halten still, entweder apathisch und betäubt oder in der unausgesprochenen Hoffnung, dass doch noch einmal etwas anders werden kann.
2.2. Aktualisierung
Die Metapher vom Zug, der mit verschlossenen Türen dem Abgrund entgegenrast, ist nach wie vor aktuell, das Gefühl ist auch heute verbreitet, nichts ausrichten und ändern zu können. Die vier von Bergmann genannten Faktoren müssen allerdings um die immer sichtbarer werdenden Folgen der Klimakrise erweitert werden. Stärker als vor bald zwanzig Jahren wird der Weltgesellschaft immer bewusster, worin die Folgen des ausbeuterischen Kapitalismus bestehen, in Deutschland stehen hier die beiden Dürresommer 2018/19 und die Corona-Krise als Marksteine. Es setzt sich mehr und mehr die Einsicht durch, dass es einer umfassenden sozial-ökonomischen Transformation bedarf. Hilfreich finde ich hier die Theorie, die der Historiker Kwame Anthony Appiah im Blick auf moralische Revolutionen beschrieben hat, weil sie Prozesse differenzierter wahrnehmen und beschreiben lässt als die Vorstellung zweier sich gegenüberstehenden Kulturen. Solche Revolutionen verlaufen in fünf Phasen:
- Phase I: Ignoranz, das Problem wird nicht gesehen
- Phase II: Anerkennung ohne persönlichen Bezug
- Phase III: Anerkennung des persönlichen Bezugs, aber ohne Handeln
- Phase IV: Handeln
- Phase V: Rückblick und Unverständnis, dass das Alte je existieren konnte.
Uwe Schneidewind postuliert in seinem 2018 erschienenen Buch »Die große Transformation«, dass wir in der Transformation heute im Übergang von Phase III zu Phase IV stehen. Die Träger des alten Normensystems verlieren ihre zentrale Stellung im öffentlichen Leben, die Gesellschaft entwickelt neue Regelwerke, die den neuen Verhaltens- und Gefühlsmustern entsprechen.2 Ich gehe mittlerweile einen Schritt weiter und gehe davon aus, dass Corona wie ein Katalysator wirkt, der die notwendige moralische Revolution ungemein beschleunigt. Noch lichtet sich der Nebel im Lockdown logischerweise nicht, aber ich vermute, dass wir uns in der Sonne nach Ende der Pandemie mehrheitlich in Phase IV, in einigen Aspekten auch ansatzweise in Phase V vorfinden und bewegen werden. Als Bergmann sein Konzept entwirft (und das geschieht schon lange vor 2004, als sein Buch erscheint), befanden sich die westlich geprägten Gesellschaften vermutlich weitgehend in den Phasen II und III. Wobei das alles nicht trennscharf ist. Als Gegenreaktion und Abwehrmechanismus befinden sich viele heute noch oder wieder in Phase I (Ignoranz): Die Richtung, in die es gehen soll oder muss, macht so viel Angst, dass es zu den bekannten Phänomenen der Querdenkerbewegung und anderer kommt. Hier bildet sich eine eigene Kultur aus, in der Gesellschaft sind wir somit jenseits des von Bergmann beschriebenen Moments der Alternativlosigkeit. Die »Empörungsmentalität« ist ein Kennzeichen dieser Situation, nicht Apathie prägt die Diskussion in den (sozialen) Medien, sondern das Gefühl, ich habe recht und du nicht, du Dummkopf! Mit Schneidewind bin ich mir einig, dass es darum geht, in dieser unübersichtlichen Situation Muster zu weben, die sich hoffentlich eines Tages als tragfähig erweisen. Das Bild des Musterwebens ermöglicht auch kleine und kleinste Handlungen einzubeziehen, ein wesentlicher Faktor für Motivation.3
3. Armut der Begierde/ Selbstunkenntnis/ Konzept des ungelebten Lebens
3.1. Bergmanns Position
»Wenn man Menschen ganz spontan fragt, was sie wirklich und wahrhaftig möchten, dann halten die allermeisten von uns den Atem an, schauen betroffen drein und zucken die Schultern. Nicht nur Arbeiter, die meisten von uns können diese Frage nicht beantworten. (…) Im Vergleich zu der Kraft äußerer Einflüsse ziehen uns die eignen Wünsche nicht mit starken Tauen, sondern hängen an einem dünnen und schnell reißenden Faden.«4
Dieses Phänomen nennt Bergmann die »Armut der Begierde«. Als Grund gibt er an, dass das menschliche Wesen an sich zuallererst schwach und zerbrechlich ist. Seiner Auffassung nach sind Menschen schnell entmutigt, niedergeschlagen und zahm. Daher sei es leicht, die Menschen einzuschüchtern oder gar zu dressieren, und sehr viele sind scheu und in sich zurückgezogen. Das Phänomen nennt Bergmann auch Selbstunkenntnis, über das Individuum hinaus spricht er vom »Konzept des ungelebten Lebens«, das vielfach Menschen und Gruppen prägt.
3.2. Aktualisierung
Ich bin mir nicht sicher, ob ich der These (heute noch) so zustimmen kann. Selbstverständlich gibt es das Phänomen, aber umgekehrt können sehr viele Menschen recht genau formulieren, was sie ersehnen – und es hat nicht nur mit (Erwerbs-) Arbeit zu tun. Und es gibt global gesehen hier wohl auch erhebliche kulturelle Unterschiede, was als Ziele im Leben angestrebt und daher gewünscht wird. Meine Vermutung lautet: Es handelt sich weniger um eine Armut der Begierde als um Armut, das eigene Begehren in Handlungen umsetzen zu können, also keinen Weg beschreiten zu können, das gute Leben zu erreichen oder ihm näher zu kommen. Anders gesagt: Ich sitze mit meinem mir bewussten Begehren in dem Zug, der dem Abgrund entgegenrast und kann weder aussteigen noch bremsen noch die Richtung ändern. Die Gründe können sehr verschieden sein, das mag mit eigener Unkenntnis und Hilflosigkeit zu tun haben, eigene Träume nicht nur zu formulieren, sondern auch in Schritte umzusetzen oder umsetzen zu können, aber auch mit einem realistischen Blick auf »die Verhältnisse«, die mir klar vor Augen stellen: Der Traum vom Eigenheim, vom Leben in Europa, von der Weltreise, vom eigenen Studium oder der meiner Kinder usw. ist so unendlich weit weg, meine finanziellen Ressourcen oder andere Gründe lassen das so unwahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto erscheinen. Hier gilt es, das »soziale« in der sozial-ökonomischen Transformation viel mehr in den Blick zu nehmen als das bislang geschieht, sowohl in globaler als auch in europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Perspektive. Bildlich gesprochen: »Wir« sitzen alle gemeinsam in dem Zug, der dem Abgrund entgegenrast.
4. Erwerbsarbeit als »milde Krankheit«
4.1. Bergmanns Position
Die Erwerbsarbeit beschreibt Bergmann als eine »milde Krankheit«, von der man hofft, dass sie bald vorübergeht. Daher hält man still, allein aus existentiellen Gründen: Die Erwerbsarbeit »ist keine bedrohliche Krise, nichts Ernstes wie Krebs oder Hepatitis oder ein Lungenemphysem, sondern wie eine leichte Erkältung. Und die ist in zwei Tagen vorbei, genauso wie am Mittwoch die Arbeitswoche in zwei Tagen vorüber ist. Unser Job ist also wie eine Erkältung. (…) Man hat gelernt, dass das Leben nicht immer angenehm ist, und man wird es durchstehen. (…) Unser Job, unsere Arbeit stellt also im Grunde hauptsächlich unsere Geduld auf die Probe. (…) Arbeit als eine milde Krankheit zu erfahren ist ein Symbol – nicht der Krankheit, unter der das Lohnarbeitssystem leidet, sondern vielmehr dessen, was dieses System aus dem gemacht hat, was Arbeit einmal war.«5
4.2. Aktualisierung
Die Metapher der »milden Krankheit« ist sicher für viele Arbeitsplätze nach wie vor zutreffend. Allerdings hat die seit ca. zehn Jahren zu beobachtende Suche nach Sinn in der eigenen Erwerbsarbeit hier bereits viel verändert. Viele wollen nicht mehr entfremdet unter der Woche arbeiten und lediglich das Wochenende herbeisehnen, sondern stellen die Frage, wozu meine Arbeit dient. In Unternehmenskulturen kann diese Verschiebung beobachtet werden, sie ist nicht nur eine mentale Veränderung, sondern Unternehmen reagieren längst auf diese Sinneswandel. Als milde Krankheit wird heute weniger meine Erwerbsarbeit an sich betrachtet, sondern wenn ich meine Arbeit als nicht sinnhaft erachte oder ich mich unter Wert verkaufen muss – dann allerdings kann die Erwerbsarbeit auch eine ernsthafte Krankheit darstellen und buchstäblich krank machen. Sinnhaftigkeit und Wertschätzung gehen Hand in Hand, der verbindende Schlüsselbegriff ist die Resonanz. Hier wird es in der Nach-Corona-Zeit spannend werden, weil die Frage nach Sinn und Wertschätzung enger als bislang verbunden sein wird mit den Herausforderungen der Klima-Krise: Wie wollen und können »wir« nachhaltig und sozial, global und lokal/regional miteinander leben und arbeiten? Bietet sich für »uns« vor allem Europa als Resonanzraum im Kleinen an?
5. Das »Wirklich, wirklich wollen«
5.1. Bergmanns Position
Als »Mantra«6 von New Work im Sinne Bergmanns gilt: Es gibt kaum etwas, das einen Menschen zufriedener macht als eine Arbeit, die er wirklich, wirklich will. Der Begriff taucht im Buch an vielen Stellen auf. Folgendes Zitat gibt den Inhalt des Mantras gut wieder, auch wenn der Begriff hier nicht ausdrücklich vorkommt: »Herz und Kern der Neuen Arbeit ist die Überzeugung, dass es der beste Weg zu einem Leben der Erfüllung und Intensität ist, wenn man eine Arbeit tut, die man ernsthaft und aus tiefstem Herzen tun will.«7 Zugleich betont Bergmann immer wieder, dass es keineswegs einfach ist, herauszufinden, was, man wirklich, wirklich will – ja, das es höchst riskant ist, sich mit dieser Frage zu befassen, weil sie nicht nur »Lust« auf ein anderes Arbeiten weckt, sondern im Stande ist, das eigene Selbst- und Weltbild zu verändern und damit mein Leben auf den Kopf stellen kann oder zumindest die Sehnsucht nach einem anderen Leben wach ruft. Bergmann spricht hier von »calling«, von Berufung in einem umfänglichen Sinn. New Work ist nichts Oberflächliches und hat für ihn nichts mit Esoterik o.ä. zu tun, sondern greift tief in das Verständnis der Persönlichkeit und der damit verbundenen Werte und Grundüberzeugungen ein.
5.2. Aktualisierung
Das Mantra von New Work ist in all seinen genannten Aspekten nach wie vor aktuell und auch die Kritik an allen oberflächlichen Versuchen, »neue Arbeit« zu schaffen oder sie als Methode zu verstehen, ökonomische Prozesse einfach nur effektiver gestalten zu wollen. Ich schlage dennoch vor, den Satz von Bergmann an einer Stelle zu präzisieren: »Es gibt nichts, dass einen Menschen zufriedener macht als eine sinnstiftende Tätigkeit, die er wirklich, wirklich will.«
Denn Bergmann meint hier weit mehr als Erwerbsarbeit, das wird aber im Begriff Arbeit nicht deutlich. Im Blick auf die völlig unübersichtliche und ausgeuferte Debatte um so etwas wie »New Work« ist die Präzisierung »sinnstiftende Tätigkeit« unumgänglich: Sie bindet den Begriff der grundlegenden intrinsischen Motivation sowohl an die Frage des Sinns meiner Arbeit und öffnet zugleich den Blick auf alle »Arbeit« jenseits von Erwerbsarbeit, von Care-Tätigkeiten über Ehrenamt hin zu der Arbeit, die ich »nur für mich« tue. All diese Tätigkeiten gemeinsam geben, in Ergänzung mit Ruhe, Spiel, Liebe usw. den Rahmen für »das gute Leben aller« ab, jeder Beitrag dazu ist prinzipiell gleichwertig. Die angebliche Höherwertigkeit bezahlter Tätigkeiten ist genauso Teil des Problems wie die unterschiedlichen Chancen und Möglichkeiten von Frauen und Männern.
6. Ebenen von »Arbeit«
6.1. Bergmanns Position
Für die Industrieländer schwebt Bergmann eine Drittelung der »Arbeit« vor: 1/3 Erwerbsarbeit, 1/3 »High-Tech-Eigen-Produktion« und 1/3 Arbeit, die wir »wirklich, wirklich wollen«.
6.2. Aktualisierung
Bergmann konnte seinerzeit nicht erahnen, welche umwälzenden Wirkungen die Digitalisierung mit sich bringen wird. Hellsichtig war er der Auffassung, dass der »Fabrikator« (heute 3D-Drucker) das Potenzial besitzt, Menschen und Gemeinschaften aus der Falle des Lohnkapitalismus herauszuführen. Unterschätzt hat Bergmann allerdings nicht nur die Wucht der Digitalisierung, sondern auch die Eigenschaft des Kapitalismus, sich anzupassen. Die ersten 3D-Drucker druckten Plastikschrottteile in Massenproduktion, keineswegs sinnvolle Geräte und Gegenstände für kleine Gruppen – alleine, weil die Drucker schier unbezahlbar waren. Bergmann wurde teils belächelt für seine Faszination am Fabrikator und seinem Faible für technologische Entwicklung. Dabei wird schnell übersehen, dass er die Potenziale erkannt hat, aber die Entwicklung schlicht nicht voraussehen konnte und, aus heutiger Sicht gesprochen, auch die Aspekte der Nachhaltigkeit nicht hinreichend betont hat. Heute ist die Frage, welche »grüne« Technologie wirklich in der Lage ist, Beiträge zur Bewältigung der Herausforderungen zu stellen und diese Frage ist nicht mehr abzukoppeln von der Frage nach künftigen Lebensstilen, hier meldet sich erneut die Sinnhaftigkeit, beide Fragen werden die Nach-Corona-Zeit prägen.
Frigga Haug spricht, ohne Bezug auf Bergmann zu nehmen, von vier Vierteln menschlicher Tätigkeiten, die idealtypisch gleich verteilt sein sollten:
- Zeit für Erwerbsarbeit (»Produktionsarbeit«),
- Zeit für Haus- und Familienarbeit (»Reproduktionsarbeit«),
- Zeit für die Entwicklung der in mir schlummernden Begabungen und
- Zeit für politische Arbeit, Teilnahme am Gemeinwesen
Dem schließe ich mich an, denn die Wiedergewinnung oder -belebung des öffentlichen Raums in der Zivilgesellschaft ist für mich eine Voraussetzung, dass das demokratische System gegen alle Versuche totalitärer Machtübernahme geschützt werden kann. Demokratische Systeme sind bei allen Mängeln eher in der Lage, den Spagat zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Regeln auszuhalten und damit Wege zum guten Leben zu beschreiten.
7. Verständnis von Freiheit
7.1. Bergmanns Position
Damit bin ich wieder ganz nah bei Bergmann und seinem Verständnis von Freiheit: »Eine Handlung ist frei, wenn der Handelnde sich mit den Wesenselementen identifiziert, aus denen sie entspringt; sie ist erzwungen, wenn der Handelnde sich von dem Wesenselement dissoziiert, das die Handlung erzeugt oder veranlasst. Dies bedeutet, dass Identifikation der Freiheit logisch vorausgeht und dass Freiheit nicht ein primärer, sondern ein abgeleiteter Begriff ist. Freiheit ist eine Funktion von Identifikation und steht in einer Abhängigkeitsbeziehung zu dem, womit sich ein Mensch identifiziert.«8
Daraus folgt für ihn: »Nur der Abbau von Hindernissen, die das Selbst verkrüppeln, die die Möglichkeit unterminieren, es zum Ausdruck zu bringen, und die das ›Flüstern der Subjektivität‹ ersticken, fördert die Freiheit.«9
Freiheit ist für Bergmann Identifikation, Handeln in Übereinstimmung mit sich selbst. Solche Freiheit kommt aber erst ins Spiel, wenn die nackte Existenz gesichert ist. Sie gehört zu der großen Menge des »Überflüssigen«, das dem Leben Glanz verleiht. Freiheit ist eine subtile Stimmigkeit, die leicht verloren geht oder schnell wieder aufgegeben wird, wenn der Wind etwas rauer weht.10
7.2. Aktualisierung
An dieser Stelle reicht der Hinweis: Bergmanns Verständnis von Freiheit ist nach wie vor aktuell und geeignet, auch im veränderten Kontext wegweisend zu sein. Die sozial-ökonomische anstehende und bereits begonnene Transformation ist nur sinnvoll gestaltbar, wenn individuelle Freiheitsrechte und gesellschaftliche Regelwerke zur Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens, idealtypisch gesprochen, in der Waage stehen. Weder die machtpolitische Umsetzung von Regelwerken, die Nachhaltigkeit einseitig auf Kosten individueller Freiheit durchsetzen wollen noch die totalitäre Betonung der Freiheitsrechte der Individuen führt ans Ziel. Erstere enden im Überwachungsstaat, der das Verhalten der Einzelnen kontrolliert, belohnt bzw. sanktioniert, letztere in der vielfach beschriebenen totalen Marktgesellschaft, welche Spaltungen in reich und arm weiter zementiert. Unter beiden Vorzeichen ist vielleicht eine ökonomische Transformation möglich, aber keine sozial-ökonomische Transformation, daher ende ich mit dem Rückverweis auf die unter 2.2. zur Demokratieförderung ausgeführten Gedanken.
Literatur:
- Frithjof Bergmann 2004: Neue Arbeit, neue Kultur. Arbor
- Frithjof Bergmann 2005: Die Freiheit leben. Arbor
- Matthias Jung 2020: Unverbundenes verbinden. Dialog und Spiritualität in der sozial-ökonomischen Transformation. Oekom
- Uwe Schneidewind 2018: Die große Transformation. Einführung in die Kunst des gesellschaftlichen Wandels. Fischer
Annmerkungen:
1Zum Begriff vgl. Jung 2020, 150-153
2Schneidewind 2018, 29
3Dazu habe ich mehr geschrieben in: Jung 2020, 114-117
4Bergmann 2004, 136 u. 140
5Bergmann 2004, 96f.
6Auch von Bergmann selbst, so 2004, 118
7Bergmann 2004, 372
8Bergmann 2005, 66
9Bergmann 2005, 365
10Vgl. Bergmann 2005, 166
Das Beitragsbild stammt von Christine Jung, mit der auch die Thesen dieses Textes intensiv diskutiert wurden.
Danke für den wichtigen Beitrag!
Ich ergänze um meinen Beitrag aus dem März 2020:
https://www.ideequadrat.org/new-work-corona/
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Danke für diese ausführliche und (hinter dem „Doppelpunkt“) doch gut vertiefte Auseinandersetzung mit Bergmanns Buch. Ich stimme ihren Ausführungen zu und würde mich freuen hier wieder des öfteren ähnlich anregende Beiträge lesen zu können. Gruß
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