Zugegeben: Es ist keine einfache Kost. Doch wer sich auf das akribisch recherchiert und eng an den Quellen entlang aufgebaute Werk von Siegfried Bräuer und Günter Vogler einlässt, wird reich belohnt. Das Buch bietet einen tiefen Einblick in die turbulente Zeit, die wir heute Reformation nennen und bringt dabei eine seit 500 Jahren höchst umstrittene Person näher: Thomas Müntzer. Drei Aspekte bleiben mir aus der Lektüre nachhaltig in Erinnerung.
I.
„Als Theologen und Historiker Luther und seine Förderer zur alleinigen Norm für die Beurteilung des Reformationsgeschehens erhoben, wurden abweichende Auffassungen und konkurrierende Bewegungen zumeist als ihre Lehren verworfen und Müntzer als ‚Außenseiter‘ abgestempelt. Doch in den frühen Jahren, als sie die reformatorischen Bewegungen erst allmählich Konturen gewannen, war die Situation noch offen und waren unterschiedliche Optionen möglich.“ (14)
„Im Reich herrschte zu dieser Zeit eine angespannte Situation: Die Befürworter reformatorischer Erneuerungen suchten die bisher erreichten Ergebnisse zu sichern, radikalere Kräfte drängten auf eine energische Weiterführung des reformatorischen Prozesses, und altgläubige Bischöfe und Fürsten formierten sich zum Gegenschlag, um diese Entwicklung zu stoppen.“ (250)
Geschichte ist immer die Geschichte der Sieger. Das ist zwar banal, aber gerät schnell im Tagesgeschäft aus dem Blick. Das gilt auch für die Reformation und wir tun gut daran, uns gerade in diesem Jahr daran ausdrücklich zu erinnern. Bei der Lektüre der Biografie Müntzers habe ich mich mehr als einmal gefragt: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn die Geschichte anders ausgegangen wäre? Wenn Martin Luther keine mächtigen Fürsprecher gehabt hätte? Was wäre geworden, wenn einer der Landesherren durch die leidenschaftlichen Predigten Müntzers sich auf dessen Seite geschlagen hätte und ihn bei seinem Versuch einer Neuordnung der sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse unterstützt hätte? Wie wäre die Geschichte weitergegangen, wenn die Bauernaufstände erfolgreich gewesen wären und sich ein Umsturz der politischen Verhältnisse in Deutschland vollzogen hätte? Natürlich ist es müßig, darüber zu spekulieren. In einer turbulenten Zeit, in der alles drunter und drüber ging, in der die verschiedensten Ideen theologischen Ansätze nebeneinander existierten, hat sich am Ende Martin Luther durchgesetzt und seine Theologie prägt unsere evangelische Kirche bis heute. Müntzer ist dagegen der Verlierer.
II.
Die Rolle von Macht und Politik in dieser Zeit, in diesen religiösen und kirchlichen Umbruch, ist mir an einer Stelle besonders aufgefallen. Bekannt ist schon lange, dass die Erfindung des Buchdrucks wesentlich dazu beigetragen hat, die Gedanken der Reformation rasant zu verbreiten. Die Reformatoren haben erkannt, welche Macht ihnen diese neue Technik gibt und sie genutzt. Neu war für mich, das schon zur Zeit Luthers die Druckereien in den Städten die zu druckenden Bücher und Flugblätter häufig der Obrigkeit (dem Rat, dem Landesherren) vorlegen mussten und diese eine Druckgenehmigung erteilten – oder auch nicht. Die Autoren zeigen sehr gut auf, mit welchen Hindernissen hier Thomas Müntzer zu kämpfen hatte. Bereits gedruckte Texte wurden wieder eingezogen, Buchhändlern „bei Leibesstrafe“ verboten, Traktate zu verkaufen. Seine Ideen waren zu Beginn der Bauernaufstände weit weniger bekannt und verbreitet als die Texte Luthers. Technischer Fortschritt war auch schon zur Zeit der Reformation auch eine Frage der Macht: Wer besitzt, wer erteilt das Recht, Texte zu veröffentlichen und zu verbreiten? Welche Interessen sind damit verbunden? Und welchen Preis hat Martin Luther dafür gezahlt und wir als protestantische Kirche in seiner „Nachfolge“? Und was folgt aus dieser Beobachtung oder Erkenntnis für die Beurteilung aktueller Technik, zB im Bereich der Digitalisierung? Wer hat hier Macht?
III.
„Die Befreiung von sozialen Lasten und die Vertreibung der sie verursachenden Tyrannen waren für Münzer Voraussetzungen, um eine ‚unüberwindliche Reformation‘ in der Gestalt vollziehen zu können, wie er sie aus seinem Glaubensverständnis abgeleitet und verkündet hatte.“ (374)
Müntzer hat im Unterschied zu Luther sehr viel Wert darauf gelegt, dass der Glaube praktisch wird. Glaube ohne Praxis ist kein Glaube. Nun aber stellte Münzer fest, dass ihm nirgends gelungen ist, dies umzusetzen. Seine Predigt war in dieser Hinsicht nicht erfolgreich. Am Ende wird er radikal, weil er für sich die Konsequenz zieht: Die Menschen sind nicht in der Lage zu glauben, bei der Lebensverhältnisse so bedrückend sind, dass sie sich der Evangelium nicht öffnen können. Daraus folgt für ihn:
„Münzer respektierte die Obrigkeiten, wenn sie ihrer Pflicht nachkommen, die Untertanen zu schützen. Doch angesichts der Erfahrung, dass viele Regentin ihre Pflichten verletzten, tyrannisch handeln, Gläubige wegen ihres Glaubens verfolgen und das Evangelium missachten, vertrat er ein Widerstandsrecht.“ (393)
Manches, was ich hier von und über Müntzer gelesen habe, erinnerte mich an die Diskussion um den Widerstand gegen Hitler und die Möglichkeit der christlich legitimierten Beteiligung am Tyrannenmord. Dietrich Bonhoeffer haben diese Fragen immens beschäftigt und er war sich am Ende darüber im Klaren, dass seine Kirche ihm nicht folgt. Die Frage bleibt aber doch virulent: Ist jede Obrigkeit von Gott legitimiert? Und wenn nein, welche Kriterien legen wir an? Angesichts der „Krise“ von Demokratien und dem Wiedererstarken diktatorischer Regime und Tendenzen eine hochaktuelle Fragestellung.
„Müntzers Aufforderung, der Welt eine neue Ordnung zu geben, ist so aktuell wie zu seiner Zeit. Luther sprach den Bauern das Recht und die Macht ab, die Verhältnisse zu verändern. Müntzer hingegen sah die Zeit gekommen, sie grundlegend neu zu gestalten, und das hieß auch, dem auserwählten Volk die Gewalt dazu zu geben.“ (400)
Erst muss die Welt neu werden, erst muss eine neue Ordnung herbeigeführt werden, erst muss die Ausbeutung durch die Fürsten muss beendet werden, damit die Menschen überhaupt in die Lage versetzt werden, sich der Predigt zu öffnen. Was bedeutet dies für Predigt, Gemeindeaufbau und Mission? Muss sich Kirche nicht viel stärker um die Verbesserung von Lebensverhältnissen einsetzen, damit Menschen darauf „vorbereitet“ werden, glauben zu können? Und welche Vision von lebenswerten Umständen haben wir bzw. entwickeln wir aus der Schrift, zB aus den visionären Texten in den Prophetenbüchern, der Bergpredigt oder der Offenbarung des Johannes? Gibt es so etwas wie eine biblisch fundierte Vision des „guten Lebens für alle“? Und versündigen wir uns an uns selbst und an der Gesellschaft, wenn wir diese Fragen ausblenden, dies nicht verkündigen in Wort und Tat? Die Autoren jedenfalls ziehen am Ende dieses Fazit:
„(Müntzers) Blick war auf die Zukunft gerichtet, in dem er die Veränderung der Welt im Blick hatte. Mit der Verurteilung seiner Lehre wurde auch das Verdikt über seine Vision gesprochen. Wenn jedoch religiöse, soziale oder politische Visionen als nicht opportun abgetan werden, versinkt die Gesellschaft in reinen Pragmatismus. Doch die Menschen leben auch von Hoffnungen und Fragen, was zukünftig sein wird.“ (400)
Die nächsten Jahren werden noch voller 500jähriger Jubiläen sein. Ich hoffe, dass dann auch die Person und Theologie von Thomas Müntzer ähnlich kritisch gewürdigt wird, wie das in diesem Jahr mit seinem großen Kontrahenten Martin Luther geschehen ist. Es wäre lohnenswert – für Kirche im Besonderen und unsere Gesellschaft im Allgemeinen, um der Gefahr zu wehren, in reinem Pragmatismus zu versinken, hüben wie drüben.
Siegfried Bräuer/Günter Vogler: Thomas Müntzer: Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie. Gütersloher Verlagshaus 2016, 58 €