In diesen Tagen erinnerte ich mich an eine Begebenheit:
Irgendwann,
als das anfing mit den pausenlosen Umstrukturierungen,
auch in der evangelischen Kirche,
sagte mal ein altgedientes Mitglied meines Presbyteriums zu mir:
Jetzt machen wir noch diesen Prozess fertig –
und dann wird alles wieder so wie früher!
Wie in einem Brennglas sah ich seinerzeit
die Sehnsucht in seinen Augen
und ahnte zugleich:
Es wird nie wieder so sein wie früher.
Sondern wir müssen lernen was das heißt:
Permanent unsere Welt und Wirklichkeit reorganisieren,
um es mit Nick Kratzer zu sagen.
In diesen Tagen stand mir vor Augen:
Unsere Welt –
meine mir vertraute Welt –
sie zerfällt.
Symbolisch sichtbar im Zug der Menschen,
die sich nach Europa aufgemacht haben.
Seit Jahrzehnten vermutet,
angekündigt,
gefürchtet.
Aber irgendwie dachten wir
ach,
ja,
später –
vielleicht.
Oder doch nie?
Wer weiß das schon.
Nun ist es so weit.
Sie sind unterwegs.
Viele schon da.
Und die Welt verändert sich.
Auch meine.
Es wird nie mehr so sein wie früher.
Alle Berechnungen, Prognosen, Szenarien –
wir können sie über den Haufen werfen.
Vielleicht ist Merkels Satz aus dem September ein schwarzer Schwan.
Ein unvorhersehbares, machtvolles, die Welt veränderndes Ereignis,
von denen Nassim Nicholas Taleb schreibt.
Die Grenzen sind offen.
Es ist vorbei.
Wir können noch Mauern hochziehen und Zäune bauen.
Oder auch Schießbefehle geben.
Es ändert nichts.
Die Grenzen sind offen –
in den Köpfen.
Unumkehrbar.
In diesen Tagen erkannte ich:
Diese offenen Grenzen sind für mich und meine Generation bedrohlich.
Aufgewachsen im Wirtschaftswunderland.
Groß geworden in friedensbewegten Zeiten.
Beruhigt durch die Maueröffnungen.
Desillusioniert durch den alles verschlingenden Marktradikalismus.
Und zugleich:
Immer gut gelebt.
Trotz allem.
Und jetzt vorbei,
es wird nie mehr wie früher.
Wir leben immer noch gut.
Aber die Ahnung schleicht sich ein:
Es geht zu Ende.
Etwas Neues kommt.
Und es beginnt bereits.
Unter uns.
Mal mit,
mal gegen uns.
In diesen Tagen dachte ich:
Das hat alles viel mit Pfingsten zu tun.
Pfingsten, nicht der Geburtstag der Kirche.
Sondern der Beginn von etwas ganz Neuem.
Verängstigten Menschen steht vor Augen:
Das Alte ist vorbei.
Kreuz und Auferstehung wirbeln alles durcheinander.
Erst mal nur die Gefühlslage.
Und dann mit einem Mal:
Keine Sprachverwirrung mehr.
Klare Worte,
der Schleier wie weggeblasen.
Das Land liegt offen da
und Petrus ergreift als Erster das Wort.
Ergriffen von einem neuen Geist.
Mit einem Mal wissen sie, was zu sagen ist.
Und sie sagen es.
Furchtlos und voller Zittern.
Ergriffen und ergreifend.
Und die Menschen verstehen sie, alle.
Sie sprechen eine Sprache, eine.
Für den Moment ist alles gut.
Und alles wird anders.
Hunderte teilen am Abend des Pfingsttages die neue Erkenntnis:
Die Welt ist eine andere geworden.
Nichts wird mehr so sein wie früher.
Es gibt kein Zurück mehr.
Es geht nur noch vorwärts.
Pfingsten, ein schwarzer Schwan.
Und was kam?
Kein Land, in dem Milch und Honig fließen.
Kein Paradies auf Erden.
Gefängnis.
Verfolgung.
Folter.
Tod.
Keine schönen Aussichten,
oder?
Doch der Weg zurück ist versperrt.
Eine Erkenntnis kann ich nicht rückgängig machen.
Ich kann sie verdrängen.
Ignorieren.
Mit Gewalt zur Seite schieben.
Aber nicht aufhalten.
Paulus hat die neue Sicht einige Zeit später sprachgewaltig in Worte gefasst:
Hier ist nicht Jude noch Grieche,
hier ist nicht Sklave noch Freier,
hier ist nicht Mann noch Frau;
denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.
(Brief an die Gemeinden in Galatien, 3,28)
Das ist wunderbar.
Pfingsten verbindet.
Menschen aus allen Völkern.
Sie sprechen die gleiche Sprache
und sprechen sie.
Komme, was wolle.
Mutig und ermutigt machen sie sich auf den Weg.
Petrus und Paulus, die Lichtgestalten.
Und viele andere mehr.
Juden und Nichtjuden.
Frauen und Männer.
In diesen Tagen greift eine Erkenntnis immer mehr Raum:
Mauern und Zäune helfen nicht.
Es ist vorbei.
Es wird nichts mehr so sein wie früher.
Nie mehr.
Unsere vertraute Welt zerfällt.
Was kommt, weiß niemand.
Aber es kommt,
unaufhaltbar.
Es wird uns viel kosten.
Und wir können viel gewinnen.
Das Beitragsbild stammt mit freundlicher Erlaubnis von Vassilis Mathioudakis.
Großartig! Das trifft es genau. Aber leider zerreißt diese Wirklichkeit auch Familien. Das Festhalten am Alten, mit dogmatischer Brutalität, die Herabwürdigung von anderen Menschen, die nicht so sind, wie „wir“, ist machtvoll. Die Hasser finden sich ganz normal und verlangen, dass man ihre „demokratische Meinung“ doch einfach auch mal so stehen lassen kann. Würde ich da einstimmen, müsste ich meine muslimischen Freundinnen verraten. Christsein heute heißt: Sich entscheiden. So radikal war es noch nie in meinem Leben.
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