Gerechtigkeit und Schönheit – Predigt im Februar/März 2016 über Matthäus 6,33
„Das ist ungerecht!“
Der kleine Junge wirft sich auf den Boden und trampelt wütend mit den Füßen.
Völlig egal, was passiert ist – ich denke, Sie kennen solche Szenen.
Kleine Kinder haben ein untrügliches Gespür für Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit, ein Wort, das elektrisiert, Kinder wie Erwachsene.
Ich selbst will gerecht behandelt werden.
Und ich möchte anderen gerecht werden.
Soziale Gerechtigkeit und Chancengerechtigkeit, wer ist nicht dafür?
Was aber genau ist Gerechtigkeit?
Das in Worte zu fassen ist gar nicht so einfach.
Darüber haben Philosophen dicke Bücher geschrieben.
Was ist gerecht, was ungerecht?
Ist es gerecht, dass meine Schwester Gummibärchen bekommt und ich nicht?
Ist es gerecht, dass die olle Zicke von Lehrerin die Jungs besser benotet?
Ist es gerecht, dass du essen kannst, was du willst und ich schon beim Zuschauen ein Kilo mehr drauf habe?
Ist es gerecht, dass ich an Grippe erkrankt und du nicht?
Mein Gerechtigkeitsempfinden meldet sich oft.
Doch wenn ich anfange darüber nachzudenken, rinnt mir schnell alles wieder durch die Finger.
Denn es gibt ja meistens auch Gegenargumente:
Vielleicht hast du dich gegen Grippe impfen lassen und ich nicht.
Und der kleine Junge vom Anfang, vielleicht hat er schon wieder vergessen, dass er gestern mit den Gummibärchen dran war.
Ich merke an mir selbst:
Da ist ein starkes Gefühl, dass sich bei Ungerechtigkeiten meldet.
Aber häufig verflüchtigt es sich, wenn ich genauer hinschaue.
Meint gerecht, jede und jeder soll das gleiche bekommen?
Und wenn ja, was ist denn das gleiche?
Oder geht es darum, dass jede und jeder das bekommt, was ihm oder ihr zusteht?
Aber was ist das genau, was mir oder dir zusteht?
Wer entscheidet das?
Ich werde immer unsicherer.
Häufig ist das so.
Aber es gibt auch Ausnahmen.
Manchmal ist auch alles ganz klar:
Es ist einfach ungerecht, dass Frauen in gleichen Berufen oft weniger verdienen als Männer.
Punkt.
Gerechtigkeit ist auch ein Wort, dass hundertfach in der Bibel auftaucht.
In der Lesung haben wir schon von Paulus gehört und auch, was Amos seinem Volk entgegenhält.
Vor allem die Propheten in Israel schärfen immer wieder soziale Gerechtigkeit ein, oft mit provozierenden Worten.
Hören wir doch mal ein paar weitere Beispiele:
„Der Weinberg Gottes ist das Haus Israel und die Leute Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch. Er wartete auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit. (Jesaja 5,7)
„Sät Gerechtigkeit und erntet nach dem Maße der Liebe! Pflügt ein Neues, solange es Zeit ist, Gott zu suchen, bis er kommt und Gerechtigkeit über euch regnen lässt!“ (Hosea 10,12)
„So spricht Gott: Die Weise rühme sich nicht ihrer Weisheit, der Starke rühme sich nicht seiner Stärke, die Reichen rühmen sich nicht ihres Reichtums, sondern dessen rühme sich, wer sich rühmt: zu begreifen und mich zu erkennen, dass nämlich ich, Gott, Güte, Recht und Gerechtigkeit auf Erden wirke. Denn an solchen Menschen habe ich Gefallen – so Gottes Spruch. (Jeremia 9,22-23)
„Sucht Gott, all ihr Bitterarmen – ihr setzt die göttlichen Vorschriften auf Erden um! Sucht Gerechtigkeit, sucht Bescheidenheit – vielleicht werdet ihr verborgen am Tag des Zorns Gottes!“ (Zefania 2,3)
Später spricht auch Jesus von Gerechtigkeit, vor allem in der Bergpredigt:
„Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ (Matthäus 5,6)
„Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.“ (Matthäus 5,10)
„Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“ (Matthäus 6,33)
Als ich all diese Stellen gelesen habe – und ich hatte mehr Zeit als Sie –, da bin ich vor allem am letzten Vers hängen geblieben. Denn da ist auf einmal von Gottes Gerechtigkeit die Rede:
Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.
Ich habe mich gefragt:
Weltliche Gerechtigkeit, da kann ich mir etwas drunter vorstellen – aber die Gerechtigkeit Gottes, wie sieht die aus?
Und wie passt die zu unseren menschlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit?
Jesus war der Meinung:
Gott wird in mir, in Jesus, anschaulich und konkret.
Und somit auch seine Gerechtigkeit und die des Reiches Gottes.
Das heißt auf Schritt und Tritt in den Erzählungen der Evangelien:
Liebe, die sich in Barmherzigkeit übersetzt.
Mitgefühl, vor aller Leistungsbeurteilung.
Hoffnung auch da, wo Leid und Tod nichts mehr hoffen lassen.
Dazwischengehen, wo Gräben gezogen und Mauern errichtet werden.
Die Gerechtigkeit Gottes in Jesus –
ein Segen, für die, die unten stehen.
Umgekehrt häufig ein Ärgernis für alle, die sich auf der Sonnenseite des Lebens wähnen.
Und glauben, sie hätten einen Anspruch darauf, sie hätten sich die Sonnenseite verdient.
Harte Kost für Wohlstandsbürger/-innen wie uns.
Mit nichts sind wir in die Welt gekommen, mit nichts werden wir wieder gehen.
Bedürftige, verletzliche, schöne Wesen sind wir, jede und jeder von uns.
Die Hochglanzschminke verdeckt das leider allzuoft.
Oder die schicken Anzüge.
Und natürlich das verdammte Geld.
Niemand kann zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon.
Auch dies verkündet Jesus in der Predigt auf dem Berg, nicht weit von unserer Stelle.
Zwischen Geburt und Tod sollen nach Gottes Willen gelten:
Barmherzigkeit, Mitgefühl, Teilhabe am Leben, für alle.
Das ist im Sinne der Propheten Gerechtigkeit auf Erden.
Dafür traten sie ein.
In scharfen, manchmal beißenden Worten kritisieren sie die sozialen Missstände ihrer jeweiligen Zeit.
Und sie tun es nicht, um mit dem Zeigefinger zu winken:
Oh, ihr bösen Menschen, was seid ihr so schlecht!
Nein, sie wollen erinnern, zur Umkehr rufen, auf die Folgen des eigenen, ungerechten Tuns aufmerksam machen.
Denn es hat Folgen – in der Welt und darüber hinaus.
Der Gedanke des Gerichts findet sich im Alten Testament ebenso wie im Neuen.
Allerdings verwandelt Jesus das Bild vom Weltgericht und richtet den Blick weg von mir selbst:
Die Gerechten, das sind diejenigen, die sich den Armen, Nackten, Kranken, Verfolgten zugewendet haben.
Aber die wissen gar nicht, dass sie zu den Erwählung und Erlösten gehören, sie sind im Gleichnis vom Weltgericht völlig überrascht!
Es geht Jesus nicht darum, dass ich mir eine Gerechtigkeit vor Gott verdiene, sondern dass ich mich dem und der Anderen zuwende.
Das hat Luther wunderbar herausgearbeitet:
Für mein Seelenheil ist gesorgt, komm, wende dich dem/der Nächsten zu!
Und wir so heute?
Die Frage nach dem Gericht Gottes beschäftigt uns doch eher weniger.
Uns scheint vor allem wichtig zu sein, dass ich, ich! in diesem Leben gerecht behandelt werde, dass mir hier Gerechtigkeit widerfährt.
Denken wir an den kleinen Jungen vom Beginn, der auf dem Boden liegt und vor Wut mit den Füßen trampelt.
Oder an die schleichende Frage, ob das denn wirklich alles so „in Ordnung“ ist, dass die Menschen, die gerade zu uns kommen, von uns so gut versorgt werden, ohne Gegenleistung?
Und manch eine, manch einer will Anwalt oder Richterin werden, um Recht zu sprechen und der Gerechtigkeit zum Ziel zu verhelfen.
Gerechtigkeit hat sehr viel mit Moral zu tun, mit richtigem Verhalten.
Es geht um Beziehungen zwischen uns Menschen.
Richtig und gerecht, das ist auch im Alten Testament immer an der Gemeinschaft orientiert.
Das hebräische Wort für Gerechtigkeit kann mit „Gemeinschaftstreue“ übersetzt werden.
Was aber ist nun mit der Gerechtigkeit Gottes und seines Reiches, die wir anstreben sollen?
Geht es da auch um Moral und richtiges Verhalten?
Ich glaube, dass mit der Gerechtigkeit des Reich Gottes, die wir anstreben sollen, in allererster Linie etwas anderes gemeint ist.
Manchmal hilft es bei Worten, mit denen sich so viele Gedanken und Gefühle verbinden, mal mit anderen Begriffen zu spielen.
Mir stand in der letzten Woche bei der Vorbereitung plötzlich ein Gedanke vor Augen.
Und den habe ich dann mal spielerisch durchbuchstabiert.
Ist sicher noch nicht zu Ende gedacht, aber ich teile meinen Gedanken einfach jetzt mit Ihnen:
Hat die Gerechtigkeit Gottes vielleicht etwas mit Schönheit zu tun?
Sie stutzen?
Gerechtigkeit und Schönheit?
Wie soll das gehen?
Vielleicht so:
Gerechtigkeit macht schön.
Mitgefühl zaubert Lächeln auf Gesichter.
Barmherzigkeit macht erstarrte Mienen weich.
Und die Seele leicht.
Zu romantisch?
Nun, Jesus sprach auch schon von den Vögeln unter dem Himmel.
Und von den Lilien, wunderbar gekleidet.
Zu romantisch?
Mir gefällt an dem Gedanken, Gerechtigkeit mit Schönheit zu verbinden:
Schönheit hat erst mal mit Moral wenig zu tun, aber viel mit Menschlichkeit.
Und wenn ich mir vor Augen halte, wie viele Menschen sich selbst nicht schön finden, dann ist hier vielleicht schon ein Ansatz.
Gerechtigkeit, ich bekomme das, was mir zusteht.
Nicht Geld und Gold, aber Zuwendung, Freundlichkeit, Liebe.
Kann ich mir alles nicht kaufen, ist aber so viel wert.
Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit – vielleicht heißt das dann:
Versuche zu allererst, das Schöne in den Augen des Menschen zu sehen, der dir jetzt gegenübersteht.
Wie fühlt sich das an?
Zaubert das ein Lächeln auf Ihr Gesicht?
Und auf seins?
Lässt dieser Gedanke Ihre Seele ein klein wenig hüpfen?
Wenn ja, verflüchtigen sich in solchen Momenten alle Fragen von Moral und weltlicher Gerechtigkeit.
Du bist schön, ich sehe es.
Darin spricht sich Gottes Gerechtigkeit aus.
Das war Jesu Bestreben und sein Anliegen.
Aber auch seine Aufforderung an uns:
Strebt danach, das in den Augen jedes Menschen zu sehen.
Und die Betonung liegt auf jedem Menschen.
Schönheit auch auf dem Gesicht des leidenden, von Krebs zerfressenen Menschen.
Schönheit in den Augen des weinenden Kindes am Grenzzaun zwischen Griechenland und Mazedonien.
Schönheit in den Tränen eines Menschen, der um einen geliebten Anderen trauert.
In dem Moment, in dem uns dann der Augenkontakt miteinander und mit Gott verbindet, da geschieht Reich Gottes unter uns.
Und dann wird euch alles andere zufallen.
Vielleicht könnte man auch sagen:
Alles andere wird sich schon dann finden.
Versprochen.
Sagt Jesus.
Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Schönheit, dann wird sich alles andere finden.
Auch, was dann zu tun ist im Sinne von gerechtem Verhalten in dieser Welt.
Auf das diese Welt und die Menschen und das Leben schöner werden.
Amen.
Vielen Dank für die Verbindung von Gerechtigkeit und Schönheit! Erinnert mich an Rudolf Bohren, Auf dass Gott schön werde – eine Aufforderung, die mich seit dem Studium begleitet.
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