Was ihr einem meiner Geringsten getan habt – #PorteOuverte, Flüchtlinge und das Weltgericht

porte ouverte

Predigt über das Gleichnis vom Weltgericht (Matthäus 25)

Liebe Gemeinde,
die Predigt hatte ich bereits fertig, als am Freitagabend in Paris die Welt unterging.
Gestern habe ich sie gelesen und mich gefragt:
Kann ich sie halten oder muss ich eine neue schreiben?
Nein, sagte ich mir dann, nur am Ende musst du etwas hinzufügen.

Am Volkstrauertag gedenken wir der Opfer von Kriegen, Flucht und Vertreibung.
So nah wie in diesem Jahr ist uns das Thema lange nicht auf die Pelle gerückt.
Krieg, Flucht, Vertreibung – ja, klar, aber doch weit weg.
Die Erinnerung und das Gedenken fielen uns nicht schwer, direkt betraf es uns nicht.
Und nun ist ein schier endloser Strom von Menschen auf dem Weg zu uns.
Die meisten Opfer von Krieg, keine Frage.
Trotzdem erfüllt ihre Zahl Menschen in unserem Land mit Sorge.
Wie viele noch?
Und wie soll das alles weiter gehen?

Volkstrauertag.
Gedenktag der Opfer von Krieg, Flucht und Vertreibung.
Ich möchte Ihnen kurz drei Geschichten erzählen.
Flüchtlingsschicksale, die mir in meiner früheren Gemeinde am Niederrhein begegnet sind.
Ich bin sicher, ähnliche Geschichten können Sie hier aus Wallenhorst auch erzählen.
Mir machen solche Erzählungen deutlich:
Unser Land ist schon immer in den Strom von Flucht und Vertreibung verwoben.

Die erste Geschichte.
Ich besuche eine Seniorin zu ihrem 80. Geburtstag.
Ihr Sohn ist auch dabei.
Sie erzählt mir wie so viele ihre Geschichte.
Aufgewachsen in Ostpreußen.
Tochter eines Gutsbesitzers.
1945 übers Haff geflohen, an der einen Hand den Sohn.
An der anderen ihre Mutter.
Sie schafft den Weg nicht nach Westen.
Genauso wenig der Ehemann und Vater des Kleinen, er bleibt in Russland.
Die junge Frau kommt im Westen an.
Wird an den Niederrhein gebracht, findet Unterkunft in einem Barackenlager.
Im Krieg haben da russische Zwangsarbeiter gehaust, hausen müssen.
Nun ziehen mehr und mehr Flüchtlinge ein.
Furchtbare Unterkunft, eng, miefig.
Und die Zukunft ist völlig offen.
Wenn sie erzählt, steht die Zeit in den Baracken noch deutlich vor Augen.
Die Angst, die Sorge.
Um sich, den Sohn, das damals noch ungewisse Schicksal des Ehemanns.
Das Misstrauen der Einheimischen machte ihr auch zu schaffen.
Plötzlich mischt sich der Sohn ins Gespräch ein.
„Mama, so hast du das ja noch nie erzählt.
Aber ich will dir sagen, ich habe das ganz anders erlebt.
Ich fand die Zeit in den Baracken toll.
Abenteuer pur, dutzende Jungs zum Spielen.
Dass dich das damals so sehr belastet hat, während ich unbeschwingt spielen ging, wird mir heute erst klar.“

Die zweite Geschichte.
Mein Bestatter ruft an.
Ein Russlanddeutscher ist gestorben.
Vor zehn Jahren ist er mit seiner Großfamilie übergesiedelt, schon in hohem Alter.
„Wenn Sie zum Trauergespräch gehen, achten Sie drauf, dass von den jungen Leuten jemand dabei ist.
Denn die Mutter spricht zwar deutsch, aber den Dialekt, den verstehen Sie nicht.“
Im Wohnzimmer der Witwe nehme ich Platz und sie fängt an zu erzählen.
Ich verstehe jedes Wort.
Aber trotzdem kann ich den Bestatter verstehen:
Die Frau spricht in einem russisch angehauchten rheinhessischen Dialekt.
Als gebürtiger Hesse für mich kein Problem.
Nach und nach kommt die ganze Geschichte auf den Tisch.
Vor zweihundert Jahren sind die Vorfahren tatsächlich aus Rheinhessen nach Russland ausgewandert.
Wirtschaftsflüchtlinge, würden wir heute sagen.
Ihren Dialekt und ihren protestantischen Glauben haben sie über Generationen bewahrt.
Sie erzählen von Vertreibung unter Stalin.
Von der Familienbibel, dem größten Schatz, gehütet und versteckt.
Vom Pfarrer, der alle paar Jahre nur vorbei kommen konnte.
Und dann alle seither geborenen Kinder taufte.
Sonst hielt das Familienoberhaupt die Andacht.
Auf deutsch, genauer auf rheinhessisch.
Und sie erzählen von der Freude, hierher nach Deutschland kommen zu dürfen.

Die dritte Geschichte.
An einem Sonntag vor drei oder vier Jahren taucht er mit einem Mal im Gottesdienst auf.
Ein Flüchtling aus Pakistan.
Christ.
Sprach kein Wort deutsch, nur bruchstückhaft englisch.
Aber er sucht den Anschluss.
Kommt Woche für Woche.
Lernt deutsch, mühsam und langsam.
Bereist den Niederrhein mit seinem Sozialticket.
Hilft auf dem Gemeindegelände.
Tränen fließen, als ich für ihn Heilig Abend in der Vesper eine Fürbitte auf englisch ins Gebet aufnehme.
Eines Tages besuche ich ihn in seinem Flüchtlingsheim.
Er erzählt mir von zuhause.
Von seiner Frau, seinen Kindern.
Die sollen nachkommen, wenn sein Asylantrag endlich bearbeitet ist.
Warum hat er seine Heimat verlassen?
Ich habe als Christ für die Gemeinde gearbeitet, erzählt er.
Eines Tages bekam ich diesen Brief.
Er holt ein Papier aus einem Ordner und gibt ihn mir.
Darauf steht in Englisch:
„Wenn du nicht aufhörst, hier für deinen christlichen Glauben zu wirken, lasse ich dich töten.“

Drei Geschichten.
Ich könnte noch viele erzählen.
Von meiner Mutter, die ihr Elternhaus im Bombenhagel über Frankfurt verlor.
Und mit ihrer Mutter aufs Land fliehen musste.
Von den Dörfern um Marburg herum, wo ich studierte.
Bis heute unterscheiden sich die traditionellen Trachten von Dorf zu Dorf stark.
Der Hintergrund:
Jedes Dorf wurde im 16. Jahrhundert von einer anderen hugenottischen Sippe gegründet.
Die aus Frankreich fliehen mussten.
Ich könnte erzählen von den Nachfahren abertausender polnischer Familien, die im Ruhrgebiet Arbeit fanden und bleiben.
Lange vor den Weltkriegen.
An ihre Namen haben wir uns gewöhnt.
Wirtschaftsflüchtlinge waren sie damals, aus heutiger Sicht.
Wie auch umgekehrt die ungezählten Familien, die einst Deutschland Richtung Amerika verließen.
Oder waren es Einwanderer, Auswanderer?
Manchmal ein schmaler Grat, der Unterschied.
Ich könnte erzählen von evangelischen Christen aus dem Kosovo, die mir begegneten.
Oder aus Eritrea oder dem Irak.
Von dem Ärzteehepaar von Irgendwoher, dass nach seiner Anerkennung Arbeit im Krankenhaus bekam.
Aber unter ausbeuterischen Arbeitsbelastungen.

Wir alle können solche Geschichten erzählen.
Vielleicht aus der Familie, dem Ort, dem Arbeitsplatz.
Weil Flucht und Vertreibung allgegenwärtig sind.
Wir haben uns nur in den letzten Jahrzehnten in Sicherheit gewogen.
Europa, Leben in Frieden.
So lange ich lebe, gab es keine Kriege auf unserem Kontinent.
Krieg gab es für mich nur im Fernsehen.
Bis der Balkan explodierte.
Und nun der mittlere Osten zusammenbricht.
Und sich Menschen verzweifelt auf den Weg machen, um zu überleben.
Weil Krieg herrscht in ihren Ländern, Bomben fallen und Terrorkommandos Menschen abschlachten.
Vielleicht auch mit Waffen, die in Deutschland hergestellt wurden, wer weiß.

Volkstrauertag.
Gedenktag der Opfer von Krieg, Flucht und Vertreibung.
Sie leben unter uns.
Schon immer und nun noch mehr.
Erinnern daran ist gut.
Und ihre Geschichten hören.
Immer wieder.

Doch was tun?
Jesu Antwort ist ganz einfach.
Er erzählt vom Weltgericht.
Von denen, die gesegnet sein werden.
Weil sie Menschen zu essen und zu trinken gaben.
Sie im Gefängnis besuchten oder ihnen Kleidung gaben.
Und nicht nach Hautfarbe oder Religion fragten.
Und schon gar nicht nach Bezahlung.
Das ist ganz einfach.
Und doch nicht einfach.
Weil mit Essen, Trinken, Kleidung geben die Sache nicht zu Ende ist.
Die Herausforderung ist groß.
Vielleicht verändert sich unser Land, Mitteleuropa in den nächsten Jahren und Jahrzehnten.
Das kann anstrengend werden, keine Frage.
Aber ein Blick in die Geschichte zeigt uns, das ist eigentlich der Normalfall.
Was tun?
Erinnern, wach halten auf der einen Seite.
Aber auch konkret handeln.
Aber wie?

Vorgestern Abend in Paris.
An sieben Stellen ermorden Terroristen Menschen.
Angst bricht auf, Tausende sind noch unterwegs, die Metro fährt teils nicht mehr.
Plötzlich tauchen Twitter Einladungen auf.
#Porteouverte, offen Türen.
In vielen Straßen laden Menschen Menschen ein, in ihre Wohnung zu kommen.
Weg von der Straße.
„Was ihr einem von meinem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“

Ich habe überlegt, wie das war.
In Paris.
Ich habe meine Wohnung, höre von den Anschlägen.
Im Radio fordert die Polizei auf, in den Wohnungen zu bleiben.
Ich schaue aus dem Fenster, wie wir das so tun, und sehe umherirrende Menschen.
Und vielleicht hat diese Aktion mit den offenen Türen so begonnen:
Eine oder einer stand am Fenster, sah die Menschen und hat sich gefragt –
Was wäre, wenn jetzt hier in unserer Straße einer mit der Maschinenpistole rumballern würde?
Und ich das sehe?
Kann ich dann morgen noch in den Spiegel schauen?
Und dann ist er oder sie runter gerannt und hat die Tür geöffnet und gesagt:
„Kommt hier herein, hier seid ihr sicher.“
#PorteOuverte, offene Türen.

Liebe Gemeinde,
mit den zu uns strömenden Flüchtlingen ist es nicht anders.
Heute haben immer wieder Menschen in den Medien gesagt:
„Leute, die Menschen sind vor solchem Terror aus Syrien geflohen.“
Aus Angst vor Bomben, Raketen und Gewehren.
Ja, vielleicht kostet uns das einiges in den nächsten Jahren.
Aber die Alternative lautet doch:
Wollen wir sie sehenden Auges sterben lassen?
Und uns einst im Weltgericht fragen lassen – was hast du getan für diese geringsten meiner Brüder und Schwestern?
Offene Türen, offene Grenzen, offene Herzen.
Ich glaube, das ist, wozu Jesus mit dem Gleichnis einladen will.
Amen.

(Anmerkung: Die Biografien sind verfremdet.)

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