Studienreise Thessaloniki V: Wir haben keine Luft mehr zum Atmen

Thessaloniki 36

Wir fahren mit dem Bus in den Süden der Stadt.
Irgendwo steigen wir aus.
Das Meer ist nicht weit.
Ein verrosteter Schiffsrumpf im Rohbau erinnert daran, dass hier mal Werften angesiedelt waren.
Wir gehen eine kleine Straße lang und stehen schließlich vor vio.me.
Der Betrieb ist vor vier Jahren von seinen Mitarbeitenden besetzt worden.
Nachdem die Eigentümer ihn aufgegeben haben.
Früher wurden hier Fliesen und Kleber produziert.
Heute arbeiten 20 Menschen daran, biologische Reinigungsmittel und Seifen herzustellen.
Auf rein biologischer Basis.
Mit Rohstoffen, die im Land wachsen.
Unter einem Schutzdach werden wir empfangen, Kaffee wird serviert.
Dann wird erzählt.
Und die Geschichte ist unglaublich und lang und kompliziert.
Krimineller Bankrott, nicht ausgezahlte Löhne, Gerichtsverfahren von hinten und vorne.
Im Netz finden sich etliche ausführliche Berichte.
Ich lasse die Erzählung auf mich wirken.
Es geht wieder um Würde.
Wir wollen uns nicht unterkriegen lassen.
Und es geht um Werte.
Jede und jeder erhält den gleichen Lohn, 370 €.
Einige, die es dringend benötigen, bekommen 700 €.
Und übernehmen dafür den nächtlichen Wachdienst, der notwendig ist.
Die Gleichheit wollten nicht alle mitmachen.
Ich hab doch eine höhere Qualifikation, mir steht doch mehr zu.
Sie sind heute fort.
Andere haben resigniert.
Vier Jahre …

Danach ein Rundgang.
Das Forschungslabor ist nicht mehr als eine Waschküche, würden wir in Deutschland sagen.
Mit einfachsten (Hilfs-) Mitteln wird experimentiert.
In einer großen Lagerhalle sitzen zwei Männer und verpacken Seife.
Mit der Hand, Stunde um Stunde.
Wir sehen Paletten mit Seife, die gerade trocknet.
Und Transparente, die überall hängen.
Ich ahne meist nur, was darauf steht:
Solidarität.
Begeisterung kommt auf, als einer von der Ruhrorter Schiffswerft erzählt.
Die vor zwanzig Jahren von den Mitarbeitenden nach der Pleite übernommen wurde.
Und heute erfolgreich arbeitet.
Der gegenwärtige Chef ist Grieche.
Mailadressen und Telefonnummern werden ausgetauscht.
Ein neuer Funke Hoffnung.
Wir suchen in Europa und weltweit solche Erfahrungen, hören wir.

Bevor wir wieder aufbrechen, wollen wir Seife kaufen.
Es dauert.
Man lässt es sich nicht nehmen, deutsche Etiketten zu verwenden.
Doch die müssen erst gesucht werden.
Vierzig Päckchen werden dann verschnürt und mit dem Etikett versehen.
Einige von uns setzen sich und machen mit.
Ein besonderer Moment.

Wir gehen zurück zur Bushaltestelle.
Mich bewegt eine Mischung aus Fassungslosigkeit, Scham und Bewunderung.
Im Bus wird einer von uns in Gespräch verwickelt.
Grieche, in Deutschland aufgewachsen und hat lange dort gearbeitet.
Hier ist er vier Jahre arbeitslos.
Sein Zorn auf die deutsche Regierung ist groß.
Immer wieder wird er laut und lauter, entschuldigt sich dann wieder.
Hängen bleibt bei mir der Satz:
„Meine Mutter fragt mich immer: Warum gehst du nicht zurück nach Deutschland? Aber das kann und will ich nicht mehr.“

Dann kommt es zu einem Treffen mit  Syriza.
Alexandra Chrisopoulos und Nikos Pavlidis.
Sie ist vor allem in Thessaloniki aktiv, er  ist für ganz Nordgriechenland zuständig.
Es ist schwierig für mich, dem Gespräch zu folgen.
Er spricht griechisch, sie übersetzt simultan auf englisch.
Zwischendurch erzählt auch sie von ihrer Arbeit und ihren Eindrücken.
Wirklich Neues ist nicht dabei.
Aber auch hier geht es wieder um Würde.
Wir haben keine Luft zum Atmen.
Wir haben ein Programm, aber wir brauchen fünf Jahre.
Wir haben Probleme, viele auch hausgemacht.
Jetzt ist die Chance da, das alte korrupte Zweiparteiensystem zu knacken.
Gebt uns Zeit.
Und ich höre heraus:
Gebt uns Hoffnung.

Abends Begegnung in und mit der deutschen evangelischen Gemeinde.
Auch der Generalkonsul Ingo von Voss ist da.
Er, die Pfarrerin Ulrike Weber und andere Mitarbeitende erzählen uns ihre Wahrnehmung.
Wieder neue Perspektive und Eindrücke.
Bis nach Mitternacht sitzen wir schließlich in einem Straßencafe unweit des Hotels.‘
Und reflektieren all das, was wir heute gesehen und gehört haben.

Mehr Bilder zu vio.me gibt´s hier: Studienreise Thessaloniki: Bilder von den weiteren Tagen

Ein Gedanke zu “Studienreise Thessaloniki V: Wir haben keine Luft mehr zum Atmen

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