Arbeit war sein ganzes Leben, so stand es früher auf vielen Grabsteinen von Männern.
Aber auch über Frauen wird ähnliches gesagt, wie auf dem Foto abzulesen ist, das ich einst aufgenommen habe.
Arbeit war sein ganzes Leben.
Ein Ehrentitel, ja.
Aber mit Beigeschmack.
Zu oft war die Kehrseite die Vernachlässigung der Ehefrau und Kinder, die den Vater nie sahen. Oder die viel zu früh ruinierte Gesundheit.
Oder eben die „klassische Hausfrau“, die ich bei Gemeindebesuchen auch oft wirbeln gesehen habe. Ihr Reich war die Küche, vor, während und nach der Familienfeier.
Hinsetzen?
Nein.
Arbeit war ihr, sein ganzes Leben.
Wir hören das eher negativ.
Nur arbeiten?
Nie an sich selbst denken?
Nie die Füße hoch legen?
Nie Feierabend oder gar Urlaub?
Nur Aufopferung für die Familie oder den Betrieb und das oft genug mit schmalem Lohn.
In der Realität wird es Menschen gegeben haben, die diesem Bild voll und ganz entsprochen haben. Aber es ist auch überzogen, verdichtet und zugespitzt, dieser Satz:
Arbeit ist das ganze Leben.
Der Satz klingt in vielen Ohren eher negativ.
Oder besser:
Er lässt vor meinem Auge das Bild des lohnabhängigen Arbeiters oder der rastlosen Hausfrau entstehen, der/die sich aus Pflichtbewusstsein aufopfert.
So weit so gut oder schlecht.
Nun lese ich letzte Woche einen kurzen Beitrag von Philipp Kovce: „Trennung von Arbeit und Freizeit – Work-Life-Schizophrenie“.
Darin heißt es:
Erst durch die Arbeitsteilung und die sogenannte entfremdete Arbeit, die im Zuge der Industrialisierung Heerscharen in die Fabriken zog, kam die Teilung zwischen Arbeits- und Freizeit. Heute heißt dieses Phänomen: Work-Life-Balance.
Wer sein Arbeiten mit seinem Leben in der Balance halten will, hält an der überholten Teilung aus dem Industriezeitalter fest. Er spaltet die Arbeit von seinem Leben und sich selbst von der Arbeit ab. Er nimmt sich vor, nicht zu viel zu arbeiten und nicht zu wenig zu leben. Die Sorge um gute Arbeit und gutes Leben führt zu Arbeitsstress und Freizeitstress. (…)
Wer Arbeitszeit heute nicht als Lebenszeit begreift, ist von gestern. Denn selbstverständlich schreibt sich jede Stunde, die wir mit uns selbst und anderen verbringen, in unser Lebensbuch ein. Wer das nicht bemerkt, wird krank. (…)
Wir entwerten die Arbeit, wenn wir sie nicht als Lebenszeit verstehen. Ja, mehr noch: Wir entwerten uns – und das, was wir bei der Arbeit tun. Wer sich auf eine Arbeit einlässt, damit sie ihm später ein schönes Leben ermöglicht, der hat kein solches. Wer sich einem Job unterwirft, um frei zu werden, bleibt unfrei.
Work-Life-Balance macht die Arbeit kleiner, als sie ist – nämlich zum bloßen Frondienst; sie macht das Leben kleiner, als es ist – nämlich zur bloßen Freizeit; und sie macht uns kleiner, als wir sind – nämlich zu mal fleißigen, mal faulen Halbwesen. Arbeitszeit und Freizeit sind Lebenszeit. Sie zu unterscheiden, macht die Arbeit unfrei und die Freizeit unfruchtbar.
Ich will mich jetzt nicht auf die Diskussion einlassen, dass die gegenwärtige Situation der Erwerbsarbeit für viele kein selbstbestimmtes Arbeiten und Leben ermöglicht.
Ich könnte auch meckern (wie jemand in den Kommentaren), dass die Überschrift nicht wirklich zum Text passt, in dem es um eine Kritik der Work-Life-Balance geht.
Geschenkt.
Mein Gedanke geht eher dahin, ob ich, wir nicht manchem Menschen zumindest teilweise Unrecht getan habe/n.
Dann nämlich, wenn ich, wir innerlich den Kopf geschüttelt habe/n über den Satz „Arbeit war sein ganzes Leben“ oder „Müh und Arbeit war ihr Leben“.
Ja, das geschah im Rahmen eines (oft) ausbeuterischen Systems.
Ja, das hatte Folgen für die Familie.
Ja, das hatte bei vielen Konsequenzen für die Gesundheit.
Aber vielleicht waren Männer und Frauen in solchen Arbeitsverhältnissen glücklich in ihren Tätigkeiten.
Vielleicht haben sie selbst nicht so zwischen Arbeit und Freizeit so unterschieden, dass Letzteres das Leben und der Rest nur Mühe und Leid war?
Entfremdung hat viele Gesichter, aber vielleicht ist manch eine/r in einer ausbeuterischen Situation ganz und gar aufgegangen, und noch zum Wohle anderer.
Er/Sie konnte sagen:
Hier bin ich richtig.
Hier fühle ich mich wohl.
Hier bin ich ich.
Ist das nichts?
Und waren Menschen früherer Tage, auf die der Satz mit der Arbeit zutraf vielleicht „lebendiger“ als manch eine/r, die/der heute versucht, krampfhaft Erwerbsarbeit und Freizeit in eine Balance zu bringen?
Weil – wie Philip Kovce schreibt – sie so in beidem nicht wirklich anwesend und lebendig sind?
Vielleicht ein unbequemer Gedanke, der Widerspruch auslöst.
Weil es schwer vorstellbar scheint, dass ein Mensch in einer entfremdeten Arbeitssituation ganz und gar aufgeht.
Politisch korrekt ist das jedenfalls nicht.
Und die Arbeitsbedingungen sind auch keinesfalls wünschenswert.
Aber vielleicht trotzdem „gut“ für den einen, die andere?
Philipp Kovce provoziert.
Er will die üblichen Begriffe durcheinander bringen.
Arbeit und Leben sind keine Gegensätze, da hat er Recht.
Wer Arbeitszeit nicht als Leben begreift, verspielt einen Großteil seines Lebens.
Viele sind dazu gezwungen so zu leben.
Das ist schrecklich.
Wohl dem, der/die darin doch noch sagen kann:
„Müh und Arbeit war mein Leben.“
Wenn ich wieder mal vor einem Grabstein mit der Aufschrift: „Arbeit war sein ganzes Leben“ stehe, werde ich ihn wohl mit neuen Augen ansehen.
Sein Leben war Arbeit – sein Leben war Scheiße. Es mag Menschen geben, die aus Ihrem Hobby, ihrer Veranlagung, ihrem Talent eine Berufung machten, davor habe ich Achtung. Ansonsten ist Arbeit nur ein notwendiges Übel, damit der Schornstein raucht. Und wenn das das einzige im Leben ist, was Bedeutung hatte, hat man am Leben vorbei gelebt, vielleicht sogar gar nicht gelebt, sondern nur funktioniert. Arbeiten, um zu leben – ja. Leben um zu arbeiten – ein ganz entschiedenes Nein!
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