Primark lässt mich nicht los. Meine emotionale Reaktion zwischen Entsetzen und Aufschrei in der letzten Woche hat mir gezeigt, dass hier (für mich) eine Grenze überschritten wird, die an Grundfesten meiner Vorstellung von einem guten Leben aller (als Ziel allen Arbeitens und Wirtschaftens) rüttelt. Und damit an den Vorstellungen vom Wert unseres individuellen Lebens.
Nun ist gestern die Primark-Filiale am Alex in Berlin eröffnet worden und viele Medien haben berichtet, ob nun die Berliner Zeitung, Zeit Online, Spiegel Online oder Stern Online.
Im Beitrag des Stern fand ich dieses Zitat:
Auf dem Alexanderplatz wollen sie mit den Primark-Kunden reden, sie wachrütteln. Doch bei Leuten wie Katja beißen sie damit auf Granit. Mit ihr kann man nicht streiten. Denn Katja ist mit allem einverstanden. „Die haben ja Recht“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. „Klar ist bei Primark nicht alles sauber. Trotzdem sag ich: na und? Guck mal, heute eröffnet ein Stück weiter ein Kik. Wieso demonstrieren die Leute nicht da?“ Man habe heute in Deutschland ganz andere Probleme. Da müsse jeder gucken, wo er bleibt. Für Helen und ihre Mitstreiter sind Katja und all die anderen Mädels in der Primark-Schlange eine moralische Katastrophe: Sie kennen ihre Argumente, sie bestätigen sie – und warten dennoch auf die Eröffnung. Moneten gegen Moral, ein ungleicher Kampf.
Sie wissen es, und können, wollen nicht anders. Die Gier nach Geld lässt nicht nur die Verantwortlichen von Primark unter grauseligen Bedingungen legal (!) produzieren, die Gier nach Geld stellen auch die Kund/-innen über alle Moral. Hauptsache, billig. Geiz ist geil. „Ein ungleicher Kampf.“ Eine Zeitansage.
Wenn ich hier weiter nachdenke, dann finde ich auch solches Empfinden in mir. Die Frage, was etwas kostet, was es mir wert ist, beschäftigt mich doch auch Tag für Tag. Und die Schnäppchen locken, die mir nicht nur (angeblich) Geld sparen, sondern auch das Gefühl vermitteln, besonders schlau gehandelt zu haben. Eben ökonomisch sinnvoll. Sparsam. Für meinen Geldbeutel. Das Gift der umfassenden Ökonomisierung ist überall in unsere Gegenwart eingedrungen, auch in mir, auch in unseren kirchlichen Diskussionen um das „Sparen“ .
Ich trete zurück, versuche Abstand zu gewinnen. Nach einer Weile fällt mir ein, dass ich mich während meiner Dissertation (Entgrenzung und Begrenzung von Arbeit) mit Günter Voß und seiner Doppelthese vom „Arbeitskraftunternehmer“ und dem „arbeitenden Kunden“ beschäftigt habe. Die Bücher von Voß und seinen Mitstreitenden aus den Jahren 2003 und 2005 lesen sich mittlerweile wie aus einer fernen Welt. Es wird bereits beschrieben, was Primark gerade perfektioniert, nämlich „uns“ als arbeitende Kund/-innen ökonomisch abzuschöpfen und auszunutzen. Unsere Subjektivität, so Voß, wird immer mehr in einer Anpassung an Markt und Konsum aufgehen und stellt daher eine neue Form von Selbstentfremdung dar.
Im Blick auf Primark und seine Werbeplattform Primania formuliert: Wie sehr bin ich „ich“, wenn ich mich in den Massenklamotten des Anbieters ablichte und das Selfie hochlade? Die Individualität besteht subjektiv in dem Gefühl aus einer Masse von Möglichkeiten selbst gewählt zu haben. Die Entfremdung besteht darin, dass ich dennoch nur aus einem begrenzten Massenangebot gewählt habe, letztendlich nichts anderes darstelle als Abziehbild einer tausendfach kopierten Schablone. Die vermeintliche Individualität, die ich mit dem Selfie auf Primania hoffe auszudrücken, bezieht sich nicht auf meine Person, mein Aussehen – sondern auf eine Kombination aus den Schubladen einer Massenindustrie, die mir durch ihrer exorbitant billigen Produkte noch vorgaukelt, jeden Tag anders aussehen zu können. Individualität ist somit: Jeden Tag anders aussehen können. Das ermöglicht mir Primark und nutzt meine Gier geschickt aus. „Ich kann mir kein T-Shirt für 30 € leisten, aber jeden Tag eins für 2 €.“
Gut: Wenn die Welle von Selfies abebbt, bricht die Idee von Primark zusammen, Werbung nur über die Selbstausbeutung der Kund/-innen zu machen. Das wird nur niemand in der Konzernzentrale wirklich stören, der Gewinn ist gemacht, das Kapital wandert weiter, die Beschäftigen hier wie in der weiten Welt verlieren eben ihren Job. Pech gehabt, das ist Marktwirtschaft.
Allerdings bleibt Voß hier nicht stehen, sondern er macht mir Mut. Er erkennt in diesen Entwicklungen nicht nur neue Formen von Entfremdung, sondern auch neue Chancen für Widerstand, weil der fortschreitende Prozess der Ökonomisierung durch die Einbeziehung des arbeitenden Kunden zu einer größeren Alltagsnähe führt. Voß vermutet:
Versuchen Betriebe nun auf informellem Wege in neuer Weise Arbeitskraft zu nutzen, und greifen sie dazu auch noch in die bisher noch relativ unzerstörten sozialen Biotope des Privaten ein, dann müssen sie (und die Gesellschaft insgesamt) mit Überraschungen rechnen. Arbeitende Kunden könnten sich als wesentlich störrischere und lästigere Wesen erweisen als die konventionellen Arbeitskräfte, selbst als die (zumindest bisher noch) so marktkonformen Arbeitskraftunternehmer und erst recht als die brav kaufenden Konsumenten alter Art. (Der arbeitender Kunde, S. 223)
Der Kampf um das Private tobt zur Zeit. Hier sind wir doch als Kirche genau richtig. Haben nicht manche Politiker schon immer versucht, uns auf den Privatbereich zu beschränken? Nehmen wir unsere Kompetenz und Erfahrung – die uns zugeschriebene und die vorhandene – wahr und ernst. Ja, wenn es um die Beschreibung und Formulierung der Grenzen von Menschenwürde geht, da haben wir etwas zu sagen. Und wenn man versucht hat, uns in die Grenzbereiche des Lebens zu verweisen, dann gehen wir eben aus dieser Ecke heraus zum Gegenangriff über, wenn die Ökonomisierung unserer Lebenswelt nun auch die letzten Winkel unserer Existenz bedroht.
Momentan geschieht dies vor allem über Bilder und/oder Videos. Sehen und gesehen werden ist immer schon ein tiefes Bedürfnis von uns Menschen. Sollten die eingenähten Schnipsel in den Primark-Kleidungsstücken echt sein, dann entspringt dieses Vorgehen auch dem verzweifelten Wunsch, wahrgenommen zu werden.
Sehen und gesehen werden, ein Grundbedürfnis. Wo beginnt der Schutzraum des Privaten? In unserer Gegenwart scheint es keine Grenzen mehr zu geben. Aber dies stimmt nicht! Spätestens wenn ich auf die dunkle Seite schaue und die menschlichen Tragödien in den Blick nehme, wenn Bilder von Menschen gegen ihren Willen veröffentlicht werden. Ob das nun in der BILD-Zeitung oder auf Facebook geschieht – Menschen haben ein Gespür, was geht und was nicht, spätestens wenn es zu spät ist…
Hier sehe ich Chancen und Pflichten für uns als Christ/-innen und unsere kirchlichen Einrichtungen. Unaufgeregt, aber konsequent mit Bildern von uns und anderen umgehen. Das ist konkreter Widerstand gegen die fortschreitende Ökonomisierung und die Zerstörung der letzten privaten Räume.
Zum Beispiel:
– Keine Fotos oder Videos bei Taufen, Hochzeiten und (zukünftig auch) bei Beerdigungen. Darüber kann diskutiert und gestritten werden, in unseren Gremien und mit den Familien. Und dann tritt vielleicht jemand aus, weil wir untersagt haben, dass die kirchliche Trauung für irgendsoeine RTL-Hochzeitsshow aufgezeichnet werden darf.
– Bei Sommerfesten im Kindergarten und Gemeindefest fröhliche Fotos machen und trotzdem Rechte beachten. Wie es sogar unter Beteiligung vieler Fotograf/-innen gehen kann, habe ich im letzten Jahr mit dem Bildblog zum Ökumenischen Kirchentag in Voerde gezeigt.
– Guter Umgang mit Fotos bei Kindern und Jugendlichen. Ein Beispiel: ich fotografiere „meine“ Konfis so lange für die Plakatwand im Gemeindehaus, bis sie mit ihrem Foto zufrieden sind.
-Zurückhaltung in der Veröffentlichung von Fotos von sich selbst in den sozialen Netzwerken.
– „Gute“ Fotos von Haupt- und Ehrenamtlichen auf unseren virtuellen Präsenzen.
Die Grundhaltung lautet: Achtsamkeit und Respekt vor der Person des/der Anderen. Im Umgang mit Bildern, die wir „machen“ und das lässt sich von hier schnell erweitern zur Wahrnehmung und Wertschätzung der Leistung des/der Anderen in all seinen/ihren Tätigkeiten.
Je mehr ich über diese Zusammenhänge nachdenke, umso mehr Beispiele fallen mir auf und ein, und das macht mir Mut. Die Richtung ist klar und ich bin motiviert, hier weiterzuarbeiten. Mein Unbehagen bleibt, wenn ich an Primania und die Näherinnen in Bangladesh denke. Aber ich sehe konkrete Handlungsfelder, ich bin nicht ohnmächtig (mache mir aber auch nichts vor). Diese Grundhaltungen bewusst machen, durchdenken und einüben. Da gibt es viele Ansatzpunkte auch in meinem, unseren kirchlichen Umfeld. Und Selbst-Bewußtsein strahlt aus, weil ich weiß wo ich stehe und warum. Beteiligung am Widerstand ist möglich. Er hat in unserer Gesellschaft bereits begonnen. Vor Primark am Alex standen Protestleute und in vielen Gemeinden handeln wir „vorbildhaft“ im Umgang mit Fotos und Videos.
Die Ansatzpunkte für „Widerständigkeit“ sind da. Bei Primark nicht einzukaufen ist für mich ein Schritt in die richtige Richtung. Über Bildrechte in meiner Gemeinde nachdenken ist ein zweiter. Wie heißt es im Kinderlied: „Viele kleine Leute, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt verändern.“ Ausdruck christlicher Hoffnung für die einen, lächerlich-weltfremd für die anderen. Wir sind als Christ/-innen hier in einer „guten“ Tradition:
Hört dies, die ihr den Armen zertretet,
um die Bedürftigen des Landes zu beseitigen,
die ihr sagt:
Wann geht der Neumond vorüber,
damit wir Getreide verkaufen,
und der Sabbat, damit wir Kornsäcke öffnen,
damit wie den Messbecher verkleinern und das Silbergewicht vergrößern,
und die Waage fälschen, die schon gefälscht ist,
um die Hilflosen zu kaufen für Kleingeld
und die Verarmten für ein paar Sandalen.
Auch den Getreideabfall verscherbeln wir!
Gott schwört angesichts der Arroganz Jakobs:
„Ich werde alle ihre Taten nicht vergessen.“
(Amos 8,4-7, BigS)
Hier noch ein, wie ich finde, passendes Zitat aus dem Seeslen-Blog:
„Die Produktivität wie der Massenkonsum werden zur gleichen Zeit auf eine merkwürdige Weise „politisch“ (oder doch eher postpolitisch): Der Konsum bereichert die Identität nicht mehr allein, er konstruiert sie. Auf die Frage: Wer bin ich?, ist „BMW-Fahrer“ eine hinreichendere Antwort als Nation, Geschlecht oder Sprache. Man gehört kenntlich der kik-, C&A oder Jack Wolfskin-Klasse jener neuen Unterschicht an, die ihre eigene Abwertung vor lauter Fernsehen und Bierzelt gar nicht bemerkt.“ http://www.seesslen-blog.de/2014/07/18/der-zombie-kapitalismus/
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Ich für meinen Teil betrachte das Ganze nicht so sehr bezogen auf die Kundschaft. Was ich sehe, ist, dass diese prekären Bedingungen in den so genannten Billiglohnländern nun auch hier angekommen sind, in einem westlichen Wohlstandsland. Es ist ja vermutlich fast egal, wie viel man hierzulande für eine Klamotte bezahlt, die in Indien, Pakistan, Rumänien oder China oder oder hergestellt worden ist. Bei den Menschen, die die Ware herstellen, kommt so oder so wenig an.
Aber wenn die Klamotten dann zumindest etwas teurer verkauft werden, können wenigstens die Verkaufskräfte hierzulande halbwegs angemessen entlohnt werden. Kosten die Klamotten jedoch nur wenig mehr als im Einkauf, werden wohl auch die Verkaufskräfte hier das Nachsehen haben. Und weil der Mindestlohn kommt, wird vielleicht nur noch eine Person pro Filiale beschäftigt werden – die runtergefallenen Sachen aufzuheben. Wie bereits bei bspw. IKEA oder real praktiziert, wird dann die Kundin sicherlich in absehbarer Zeit die T-Shirts selbst scannen – so spart sich das Unternehmen weitere Arbeitskräfte.
Was das Thema „Erlösung“ (durch Konsum) angeht, so kommen mir solche Themen (wie auch Hoffnung, Selbstachtung) vermehrt unter in Zusammenhang mit Arbeit der Zukunft, neuerdings (?) als „New Work“ bezeichnet. Hier ein Zitat aus einem Artikel, den Sie vielleicht auch interessant finden: „Solche Abiturzeitungswitze würzen einen Berufsalltag, der sich zwischen ständigem Kindergeburtstag, aufdringlicher Kundenfraternisierung – Ist alles toll? Habt ihr Fragen? Wie geht’s? – und Erweckungsgottesdienst nicht entscheiden kann. Der Rausch, den so etwas freisetzt, kann antiquiertes Zeug wie den gesunden Menschenverstand oder die Selbstachtung durchaus dauerhaft betäuben.“ http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ausbeutung-2-0-die-coole-schinderei-der-zukunft-13027996-p2.html
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Natürlich sind die Arbeitsbedingungen hoch problematisch. Als Mitarbeiter im „Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt“ (KDA) kenne ich diese Diskussion auch schon lange. Daher hat mich bei Primark eben diese Konsumentenseite so schockiert, weil die Ausblendung der Arbeitsbedingungen so hier noch stärker betrieben wird – wenn ich mich mit Selfie in den Primark-Klammotten dort auf Primaria hochlade und es, nein, mich toll finde, dann habe noch weniger Interesse, auf die Arbeitsbedingungen der Produzent/-innen zu schauen.
Den Artikel schaue ich mir noch mal in Ruhe an, der scheint recht lang zu sein. Zu spät am Abend. 😉
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„Auf die Arbeitsbedingungen der Produzent/-innen zu schauen“ – das ist vielleicht sogar irgendwie verständlich – denn es ist ja weit weg. Wenn ich durch die Selbstdarstellung auch die mich selbst betreffenden Arbeitsbedingungen nicht mehr wahrnehme/nicht wahrnehmen kann – dann ist, wie ich finde, die durch-und-durch-Ökonomisierung (wie Sie sie auch beschrieben haben) noch einen Schritt weiter oder bereits perfekt etabliert.
Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn auch andere Unternehmen auf die Idee kommen, Werbung nicht mehr teuer einzukaufen, sondern die Konsument/innen für sich werben zu lassen. Aber ich kann das momentan nicht zu Ende denken. Einerseits ist es zu warm und andererseits ist alles so absurd – wie Sie bereits in Ihrer Fußballpredigt geschrieben haben.
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Ebenfalls gestern erschienen, eben gelesen, beschreibt die Allgegenwart von Selbstentblößung besonders grausam: http://www.zeit.de/2014/26/cybermobbing-pubertaet-erotikvideo (Lauras Entblößung)
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