Predigtreihe: Wüstenwanderung (I)
Es gibt Erzählungen in der Bibel, die berühren.
Die Wüstenwanderung Israels ist so eine Geschichte.
Der Auszug aus der Sklaverei in Ägypten.
Das Versprechen Gottes, die Befreiten in ein Land zu führen, in dem Milch und Honig fließt.
Der Zug durchs Schilfsmeer.
Die Rettung vor den heranstürmenden Soldaten des Pharaos.
Die anschließende Wanderung durch die Wüste zum Berg Gottes.
Wolkensäule und Feuersäule.
Hunger und Durst in der Einöde und das folgende Geschenk von Manna und Wachteln.
Die zehn Gebote und der Tanz ums Goldene Kalb.
Das Murren des Volkes und ein müder Mose.
Die Kundschafter, die an der Grenze ausgesandt werden.
Und mit Nachrichten zurückkommen, die Angst und Schrecken statt Zuversicht verbreiten.
Und Gott verfügt:
Vierzig Jahre müsst ihr durch die Wüste ziehen.
Bis diese mutlose Generation verstorben ist.
Erst eure Kinder dürfen ins gelobte Land.
Am Ende die Stabübergabe von Mose an Josua, der schließlich den Jordan überschreitet.
Der Tod des Mose, kurz nachdem er vom Berg Nebo zumindest einen Blick in das gelobte Land werfen darf.
Eine Geschichte wie ein Roman.
Es geht hin und her, hoch und runter.
Da steckt so viel Erfahrung drin.
Erlösung und Untergang.
Leid und Entbehrung.
Jubel und Tanz.
Vertrauen und Zweifel.
Erfolg und Scheitern.
Viele Menschen erleben Zeiten wie in einer Wüste.
Abgeschnitten vom normalen, früheren Leben.
Ausgetrocknet, hilflos Sand und Sonne ausgesetzt.
Nichts geht mehr.
Was war, ist unerreichbar und was kommt, ist noch nicht sichtbar.
Menschen, die schon einmal in der Sahara waren, sprechen anders.
Sie schwärmen von Weite und Klarheit.
Vom prachtvollen Sternenzelt.
Von Erfahrungen, die sie an andren Orten nicht machen konnten.
Die Wüste.
Eine aufregende, anregende Landschaft.
Eine gefährliche, tödliche Gegend.
Ausnahmezustand menschlichen Lebens.
So oder so.
Aus der Vielzahl habe ich drei Geschichten für diese Predigtreihe ausgewählt.
Den Tod des Mose.
Die Geschichte von den Kundschaftern.
Und für heute den Tanz ums Goldene Kalb.
(Exodus 32,1-7)
Und anschließend wird weiter erzählt:
Gott will das Volk aus Zorn vernichten.
Mose bittet um Verschonung, Gott gibt nach.
Mose steigt hinab, zerbricht die Tafeln mit den Geboten.
Zerstört das goldene Kalb, steigt noch einmal hinauf und erhält die Tafeln aufs Neue.
Wie höre ich diese Geschichte?
Sage ich:
Das ist eine Geschichte aus vergangener Zeit.
Eine Erfahrung des Volkes Israel, weit weg von mir.
Gottesbilder aus Gold, Leben in der Wüste, ein murrendes Volk, all das klingt wie gutes Kino oder ein spannendes Buch.
Aber ein Film, der gut ist und ein Buch, das spannend ist, die berühren mich.
Sonst schalte ich gelangweilt um oder greife nach einem anderen Buch.
Ich frage mich also:
Wo klingt etwas an, das mir vertraut ist?
Wo sage ich:
Ja, das kenne ich auch?
Ich male mir aus, ich wäre dabei.
Damals, in der Wüste, am Fuß des Bergs.
Welche Bilder tauchen vor mir auf?
Welche Gefühle kommen in mir hoch?
Ich bin gestresst, entnervt, verunsichert.
Mit uns anderen zusammen habe ich Ägypten verlassen.
Bei Nacht und Nebel.
Ich bin mit durch das Schilfsmeer gezogen.
Habe noch die Schreie der ertrinkenden Soldaten im Ohr.
Höre wieder die Trommeln und Trompeten.
Erinnere mich an Jubelgesang und Tanz.
Und dann die Wüste.
Staub.
Steine.
Hitze.
Kälte.
Aber vorne geht einer voraus und hat Kontakt zu Gott.
Und der hat gesagt:
Ich führe euch in ein tolles Land.
Grüne Wiesen, klare Bäche, Essen und Trinken satt.
Nichts von alledem ist hier in der Einöde.
Tag für Tag das gleiche Essen.
Tag für Tag der gleiche Ablauf.
Aber es ging immer weiter.
Mose vorneweg.
Bis hierher an diesen Berg.
Mose ist hinauf, und wir warten hier unten.
Und jetzt kommt er einfach nicht wieder.
Kommt er überhaupt noch mal wieder?
Ist er abgestürzt, liegt tot in einer Felsspalte?
Was sollen wir tun?
Wie geht es weiter?
Angst.
Unsicherheit.
Zweifel.
Sorge.
Hilflosigkeit.
Und warten, einfach nur warten.
Das ist vielleicht das schlimmste, das Warten.
Untätig herumsitzen und Warten.
Warten ist schlimm.
Nichts tun können ist schlimm.
Warten und nichts tun können ist furchtbar schlimm.
Da greifen wir nach jedem Strohhalm, tun – irgendetwas.
Hauptsache, irgendetwas.
Eine läuft ruhelos auf und ab, ist mürrisch und gereizt.
Der andere räumt den Keller auf oder macht blöde Witze.
Und ich schaue auf die Uhr, immer wieder.
Wann endlich … ?
Warten und nicht wissen, wie es weitergeht.
Schrecklich.
Ich sehne den Anruf herbei.
Die Ärztin, die mich hereinbittet.
Den Schlüssel, der sich in der Tür dreht.
Dass Mose vom Berg herunterkommt.
Die Menschen damals in der Wüste hielten es einfach nicht mehr aus.
Sie sehnten Gott herbei, der ihnen wieder vorangeht.
Und Mose.
Sie wollten wieder etwas vor Augen haben, dass Hoffnung und Kraft gibt.
Sie „opfern“ ihren Schmuck.
Gold, schon immer ein Sinnbild für etwas Besonderes.
Das Gold haben sie gerettet aus Ägypten.
Ihr Besitz, ihr Reichtum, an dem sie hängen.
Den geben sie ab.
Denn sie wollen beten.
Aber nicht das Goldene Kalb anbeten.
An Stelle des Gottes, der sie aus Ägypten befreite.
Sondern das Bild soll Mose als Mittler und Wolkensäule und Feuerschein ersetzen:
„Das ist deine Gottheit, die dich aus Ägypten geführt hat!“
Kein Wort vom Abfall von Gott.
Nur etwas leichter wollen sie es sich machen.
Falls Mose nicht wieder kommt und sie alleine weiter müssen.
Und die ganze Anspannung löst sich in einem rauschenden Fest.
In ausgelassenem Treiben.
Wie das nun mal so ist, wenn wir uns in Stimmung bringen.
Kann man es ihnen verdenken?
Ich finde mich gut wieder in den Gefühlen der Frauen und Männer.
Und doch ist Gott erzürnt, sagt der Fortgang der Erzählung.
Was ist so gefährlich in dem Wunsch, der eigenen Hoffnung einen bildhaften Ausdruck zu geben?
Israel sagt doch hier am Fuß des Bergs:
„Das da ist Gott, der dich aus Ägypten führte!“
Sie hielten doch nur das Warten nicht mehr aus, die Ungewissheit.
Was ist so gefährlich am Goldenen Kalb?
Martin Luther sagte einmal:
Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.
Woran du dein Herz hängst – worauf vertraust du?
Auf Geld, Macht, Können, Schönheit?
Das hat Luther gut auf den Punkt gebracht:
Woran du dein Herz hängst, worauf deine Hoffnung setzt –
Das ist dein Gott.
Die Gefahr ist, dass ich Dinge mit Gott verwechsle.
Dinge, die kann ich sehen, anfassen, einsetzen.
Gott kann ich nicht sehen, nur spüren und er kommt auf mich zu.
Das Goldene Kalb ist gefährlich, weil auch ich schnell Dinge mit Gott verwechsle.
Und den Weg.
Das Goldene Kalb sucht Gott auf die Erde zu zwingen.
Als das Warten unerträglich wird.
Und die erzwungene Untätigkeit.
Verständlich, und doch ein Irrweg.
Woran du dein Herz hängst.
Worauf du dein Vertrauen setzt.
Was dir Kraft gibt und Mut macht.
Und Hoffnung.
Geld und Gold?
Macht und Schönheit?
Familie und Freunde?
Erfolg und Verehrung?
Oder Gott.
Unverfügbar, aber nah.
Unsichtbar, aber spürbar.
Nicht in den Griff zu bekommen, aber ergreifend.
Nicht berechenbar, aber eindeutig.
Nicht der „liebe Gott“, aber der liebende Gott.
Die Erzählung vom Goldenen Kalb:
Eine Geschichte von Glaube und Zweifel.
Von Hoffen und Bangen.
Eine sehr menschliche Geschichte.
Amen.