Auf der Denkumenta im August berichtete eine Teilnehmerin von einem Wendepunkt in ihrem Leben, am dem für sie das Patriarchat zu Ende gegangen war – als sie aufgehört habe, an das Patriarchat zu glauben.
Für mich als Theologen eigentlich leicht nachvollziehbar. Und doch hat mich die Eindringlichkeit, die Überzeugungskraft dieser Aussage beeindruckt. Es war nicht nur einfach eine Erkenntnis, sondern eine lebensbewegende Erfahrung. In dieser Frau wurde für mich anschaulich: Manche Glaubenssätze bestimmen Leben, denn sie beinhalten ein ganzes Weltbild.
Manche, nicht alle.
»Ich glaube, dass morgen gutes Wetter sein wird«, dieser Glaubenssatz mag auch mein Verhalten, Denken, Empfinden beeinflussen. Aber seine Reichweite bleibt begrenzt und ein Irrtum hat nur vorübergehende Folgen. Vielleicht werde ich klatschnass, wenn ich mich auf´s Rad ohne Regenkleidung gesetzt habe. Vielleicht habe ich morgen auch einen Schnupfen, aber das war es dann auch.
Es gibt andere Glaubenssätze, die Aussagen über meine Auffassung von »der Welt« machen. Sie prägen meine grundlegende Sicht auf Mensch, Kultur und Natur. Da sie grundlegender Art sind, liegen sie oft im Unbewussten, beeinflussen aber um so mehr mein Denken, Empfinden und Handeln. Ich habe grade noch von einem Menschen gehört, der in der Schule als Versager abgestempelt war und mit Anfang vierzig in seinem Betrieb bei einer Reihentest erfuhr, dass er hochbegabt ist. Ein Glaubenssatz, der ein Leben bestimmte, negativ. Ein anderer, der eine ganze andre Sicht auf das eigene Leben vermittelte.
Theologisch gesehen ist Luthers Formulierung aus dem Katechismus ein Satz solcher Art: »Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat samt allen Kreaturen.« Solchen Glauben kann ich nicht machen, er ist ein Geschenk, immer.
Gut theologisch formuliert. Bei solchem Glauben handelt es sich weniger um ein göttliches Einwirken von »außen« als eine geistgewirkte Erkenntnis über das, was die Welt, meine Welt im innersten zusammen hält. Vergleichbar mit Momenten, in denen mir ein Licht aufgeht, die Decke weggezogen wird, mit einem Mal die Welt völlig verändert aussieht. Solche Erfahrungen kann ich nicht »machen«, aber ich kann sie machen, sie geschehen. Der traditionelle theologische Begriff dafür lautet Offenbarung. Sie sind ein Erschließungsgeschehen, sie erschließen mir meine Welt neu. Glaube erschließt Welt (dazu mehr in: Jung, Entgrenzung und Begrenzung von Arbeit, S. 106f.). »Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat…« ist dann eine Aussage über eine Erfahrung mit dem Unverfügbaren, das sich mir so erschlossen, »gezeigt« hat, dass ich meine Welt mit anderen Augen sehe – unter der Perspektive, dass es eine Macht gibt, der wir den Namen »Gott« gegeben haben und die mich, uns durchdringt, umfasst, erhält…
Ein solches Verständnis göttlicher Offenbarung, vom Wirken der Geistkraft Gottes macht dieses Erleben mit anderem Glauben, anderen Erschließungsgeschehen anschlussfähig. Ich kann meinen Glauben, der in der christlichen Botschaft verankert ist, ins Gespräch bringen mit anderem Glauben und den Welten, die sich Menschen so erschlossen haben, dass sie davon bestimmt werden und sich bestimmen lassen.
Denn selbstverständlich gibt es Glaubenssätze, die Welten eröffnen oder bestimmen, ohne dass sie religiös geprägt sind. Glauben offenbart und erschließt Welt, wie auch immer. Wenn die Teilnehmerin auf der Denkumenta also davon sprach, dass sie aufgehört habe, ans Patriarchat zu glauben und es in diesem Moment für sie zu Ende war, verweist dies auf diesen Zusammenhang. Es war für sie eine Offenbarung, ihre Welt erschloss sich neu. Inwieweit/ob sie diese Erkenntnis für sich in einem religiösen Horizont einordnet, weiß ich nicht. Das ist aber nicht entscheidend, denn jede Frau, jeder Mann ist von Glaubenssätzen geprägt, die sie gelernt haben, wie und wo auch immer und die unserer Leben bestimmen, weil sie ein bestimmtes Bild von der Welt beinhalten.
Aber es geht noch weiter.
Das durch den veränderten Glauben zu Ende gegangene Patriarchat und das damit beginnende andere, neue Leben macht deutlich, dass es Strukturen in unserer »Welt« gibt, die Macht über mich beanspruchen. Sie zielen darauf, mein Denken zu durchdringen, mein Handeln zu bestimmen, mein Fühlen zu prägen. Wenn ich daran glaube, dass Männer über Frauen zu bestimmen haben, dann wirkt sich dies aus. Ich habe das gelernt, subtil zumeist, geerbt von meinen Vorfahr_innen, die es ihrerseits von ihren Vorfahr_innen übernommen haben. Niemand lebt isoliert, immer sind wir verwoben in ein Geflecht von Gedanken, Gefühlen und Handlungen, das andere zuvor gewebt haben und in das ich hineingeboren wurde. Noch einmal theologisch gesprochen: Wenn meine so geerbte Weltsicht nicht der Botschaft der hebräische und griechischen Bibel entspricht, ist sie als Erbsünde zu bezeichnen.
Interessant und bedeutsam ist nun, dass es offenbar problemlos möglich ist, dass auch »Irrlehren« im Gewand christlicher Weltsicht daher kommen. Jahrhundertelang war es völlig selbstverständlich, die Herrschaft von Männern über Frauen biblisch zu legitimieren. Der Glaube an die naturgegebene Macht des Marktes ist solch ein Satz. Oder das nur das in dieser Welt Wert besitzt, was in Geld aufgewogen werden kann.
Neu ist die Erkenntnis nicht. Schon Paulus selbst warnt in seinen Briefen vor Irrlehren und fordert auf, die Geister zu prüfen. Dieser Gedanke lädt mich ein, nach weiteren Glaubensätzen Ausschau zu halten, die mein Leben bestimmen und vergiften. Offenbar können sie nebeneinander in mir existieren, miteinander im Streit liegen oder sich schiedlich, friedlich auf einzelne Lebensbereiche beziehen – zumindest solange, wie ich mir dessen nicht bewusst bin. Glaubenssätze, die ebenfalls eine ganze Welt beinhalten.
Es wäre aber ein Missverständnis zu »glauben«, das mit dem Ende des Glaubens an die Macht Patriarchat und/oder Markt und Geld diese aufhören zu existieren. Als verselbstständigte Machtstrukturen bleiben sie wirkmächtig – aber ihre Macht auf mich und mein Leben wird eingeschränkt, gebrochen. Fragt sich also, wie der Markt für mich aufhört zu existieren, wenn ich nicht mehr an ihn glaube. Ich beginne vielleicht das Konkurrenzverhalten grundsätzlich in Frage zu stellen und nach anderen Formen der Kooperation Ausschau zu halten. Gleiches gilt für das Geld – wenn ich erkannt habe, wie stark auch ich von diesem Denken und Fühlen geprägt bin, alles und jedes nach seinem Geldwert zu bewerten, dann ist diese Denkstruktur bereits aufgebrochen und sie verliert ihre umfassende und ganzheitliche Macht. Vielleicht beginne ich darauf zu achten, welche Werte ich Dingen und Begebenheiten zuschreiben kann, ohne Geld. Vielleicht beginne ich zu tauschen (oder auch zu verschenken, bewusst), weil ich weiß, dass ich so dem Machtsystem Geld ein Schnippchen schlage.
Umgekehrt, und das ist das Schöne, es gibt auch Glaubenssätze, die ein anderes Denken, Fühlen und Verhalten befördern. »Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat samt allen Kreaturen« beinhaltet den Glauben an die Gleichwertigkeit aller Menschen und den achtsamen Umgang mit den Ressourcen der Umwelt. Solche Sätze müssen sich aber übersetzen lassen in einprägsame, bildhafte Vorstellungen, die dann Denken, Handeln und Fühlen durchdringen, beeinflussen, ja bestimmen lassen. »Das Patriarchat ist zu Ende, weil ich nicht mehr daran glaube!« ist so ein Satz. »Der Markt ist zu Ende, weil ich nicht mehr an ihn glaube!« ein anderer. »Ich glaube nicht mehr an die Festung Europa!« könnte ein ganz aktueller Glaubenssatz lauten. Oder der Mann, der in der Mitte seines Lebens sagen darf: »Ich glaube nicht mehr daran, dass ich ein Schulversager war!«
Es lohnt auf die Suche zu gehen nach Glaubenssätzen, die mich positiv wie negativ bestimmen. Beide existieren nebeneinander in meinem Kopf und Herz, das weiß auch die christliche Theologie. Sie ging und geht davon aus, dass das »neue Leben« sich nur ansatzweise, fragmentarisch, unter den Bedingungen unserer »Welt« realisiert. Aber immerhin, christlicher Glauben realisiert sich, ist nicht nur eine leere Luftnummer oder noch schlimmer, lediglich auf ein wie auch immer geartetes Jenseits fixiert. Und gleiches gilt für die anderen Glaubenssätze, die mit falschen, ungerechten Verhältnissen brechen und auf ein gutes Leben aller hoffen und darauf zugehen.