Was ist uns heilig? Zwischen Beschneidung und Pussy Riot, ein eher launisches Essay…

Zwei Blogbeiträge habe ich heute zum Thema Pussy Riot (übersetzt: „Mösen in Aufruhr“) gelesen:

Pop, Aktion und Überlegenheitskult und

Dann mach ich was ein Baum tun würde, wenn ein …. sich an ihm kratzt…

In manchem ähnlich und doch sehr verschieden. Mir fiel beim Lesen ein, dass zur Zeit noch eine andere Frage in der Öffentlichkeit diskutiert wird, in der es um Religionsfreiheit bzw. religiöse Empfindungen und Gefühle geht: das Beschneidungsurteil des Landgerichts in Köln. In beiden Fällen geht es um Grenzen: Was in kirchlichen Räumen erlaubt? Was darf an Kindern im Namen der Religion geschehen? Und dahinter steckt die Frage: Wer entscheidet hier eigentlich über Recht und Unrecht, oder besser: über richtig und falsch? Der Staat? Die Religionsgemeinschaft? Der einzelne Mensch? Die öffentliche „Meinung“? Der Ethikrat?

Es gibt noch weitere Diskssionen, die sich um diese Fragen ranken. Wie steht es um den Dritten Weg im Arbeitsrecht? Wie soll künftig in einem zusammenwachsenden Europa mit den sehr unterschieldichen Verhältnissen von Kirche/Religionsgemeinschaften und Staat umgegangen werden? Da ist eine Menge Bewegung und Zündstoff drin.

Langweilig finde ich die Beobachtung, dass so wenig Neues in der Diskussion ist. In meiner Wahrnehmung argumentieren die in der Öffentlichkeit stehenden Personen – ganz gleich, ob Vertreter/innen von kirchlichen, staatlichen oder anderen Institutionen – eher vorhersagbar. Der Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider und Altbischof Wolfgang Huber verteidigen die Beschneidung, Kanzlerin Merkel und Außenminister Westerwelle geißeln den Umgang mit den aufrührerischen Mösen (und der eine Blogger fragt sich denn auch, ob sie eigentlich wissen, welche Worte sie da in den Mund nehmen…), eher religionskritische Menschen beschreien die Unversehrtheit des Leibes und sind gegen die Beschneidung an kleinen Kindern und bejubeln den Mut der Musikerinnen, sich mit Putin und der orthodoxen Kirche anzulegen. Und die Fronten zwischen Kirche, Diakonie und Gewerkschaften sind in Deutschland auch ziemlich verhärtet, trotz einiger abweichender Einzelmeinungen.
Schade eigentlich.

Dabei könnten all diese Themen, die sich um die Ausübung von Religion drehen, uns vor die Frage stellen:

Was ist uns eigentlich heilig?

Ich will jetzt nicht auf eine theologische Diskussion und/oder Definition des Heiligen hinaus. Sondern ich frage mich, wie das eigentlich in einer sich permanent und andauernd verändernden Welt mit unseren ureigensten religiösen Gefühlen und Empfindungen ist. Unbezweifelbar gibt es diese Gefühle, genauso unbezweifelbar gibt es heftigen Streit darum. Die einen suchen sie zu sichern, die anderen mutmassen, dass hier Macht und Einfluss im Namen eines vielleicht gar nicht existierenden „Gottes“ gesichert werden soll.

Und dahinter steht für mich wiederum die Frage, wie genau sich die Unantastbarkeit der Menschenwürde mit dem Heiligen zusmamenhängt. Die Menschenwürde könnte ein Begriff sein, auf den sich auch unterschiedlichste Gruppen von Weltanschauungen einigen können. Aber was heißt das konkret? Wer definiert die Menschenwürde? Und wer wacht über sie? Der Staat? Die Religionsgemeinschaften? Ein Ethikrat? Die Diskussion in der Öffentlichkeit? Was ist uns heilig? Die Unversehrtheit eines menschlichen Körpers oder eines sakralen Raumes?

Doch wohin führt die Diskussion? Im Blick auf das Individuum in unauflösbare Dilematta. Wo soll die Grenze der Selbstbestimmung gesetzt werden? Im Blick auf die Beschneidung auf sechs, vierzehn, achtzehn Jahre? Und was ist mit Menschen, die wir so schnell als „behindert“ bezeichnen? Die vielleicht niemals zu einer „normalen“ Selbstbestimmung anderer sogenannter „erwachsener“ Menschen kommen, wohl aber religiöse Empfindungen haben? Und weiter: Wie gehen wir mit Religionsgemeinschaften um, die bestimmte, heute mögliche ärztliche Behandlungen ablehnen und die Unversehrtheit des menschlichen Körpers aus religiösen Gründen ablehnen? Und wer hier argumentiert, dass letztlich jede/ selber entscheiden muss, was er oder sie an sich machen lässt und was nicht – nun, wie steht es dann mit der Sterbehilfe? Was ist uns da heilig, wichtig? Die Selbstbestimmung? Die Unversehrtheit? Eine Frage zieht die nächsten nach sich…

So auch bei den Räumen. Da regen wir uns auf, dass ein paar russische Frauen sich vielleicht ungebührlich in einer Kirche aufgeführt haben. Finden es vielleicht auch richtig, wenn sie von der Polizei abgeführt werden und so der sakrale Raum geschützt wird. Okay. Doch was wäre, wenn ein Pfarrer, eine Pfarrerin oder ein anderes Mitglied eines Kirchenvorstandes oder eines Presbyteriums die Polizei rufen würde, wenn sich ein Menschenkind in unseren Kirchen verbal daneben benimmt und die Würde anderer Menschen, gerade auch Angehöriger anderer Religionsgemeinschaften, mit Füßen tritt? Das kommt ja vor heutzutage unter uns, landauf, landab, immer wieder. In Zeiten, in denen es offenbar immer mehr um sich greift, dass mann/frau mit Worten um sich wirft ohne Rücksicht auf Verluste.
Ich habe manchmal den Eindruck, die Anonymität im Netz hat hier Schleusen geöffnet, die sich inzwischen auch in Leserbriefschlachten und in öffentlichen Diskussionen zu einer Flut von Mißachtungen der Menschenwürde auswächst, in denen es zumindest mir manchmal so scheint, als sei manch einem/einer Zeitgenossen/-genossin nichts mehr heilig… Dennoch: dann die Polizei holen?! Anzeige erstatten? Kann ich mir nicht vorstellen. Doch wie dann damit umgehen? Einfach ertragen? Fragen über Fragen und keine Antworten.

Was ist uns, mir heilig?

Unsere Welt verändert sich. Rasant und permanent. Damit auch die religiösen Empfindungen, die Vorstellungen von Menschenwürde. Manches ist spannend und aufregend, wir lernen voneinander. Manches ist erschreckend und verwirrend. Gut finde ich aber, dass wir momentan an so vielen Stellen überhaupt über religiöse Themen miteinander ins Gespräch kommen. Religion bewegt.

Aber dennoch, so richtig zufrieden bin ich nicht. Unsicherheit ist nicht schön. Etwas mehr Sicherheit, Boden unter den Füßen in all den Diskussionen und Auseinandersetzungen, das wäre doch was. Aber, um dann doch theologisch zu schließen, Sicherheit (securitas) ist uns nicht verheißen. In Glaubensdingen zumindest nicht, und ich vermute auch nicht in all den anderen Dingen dieser Welt. Der Glaube als Vertrauen auf Gott schenkt Gewißheit (certitudo) – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das öffnet die Diskussion, in aller Vorsicht und Neugier. Ich sage dir, was mir heilig ist und du sagst mir, was dir heilig ist. So kann es gehen, immer wieder, Schritt für Schritt. Wie gut, dass ich nicht täglich Mikrofone vor mir habe, in die ich irgendwelche mehr oder weniger klugen Sätze zu allem und jedem sagen muss, zur Beschneidung und Pussy Riot und und und…

2 Gedanken zu “Was ist uns heilig? Zwischen Beschneidung und Pussy Riot, ein eher launisches Essay…

  1. Reblogged this on Θ TheoNet.de and commented:
    Was ist uns heilig? Welchen Raum soll Religion in unserer Gesellschaft einnehmen, was heißt Religionsfreiheit heute für uns? Matthias Jung zieht sieht seine Schlüsse aus der Diskusion um Pussy Riots und die Beschneidungsdebatte.

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