Occupy (und) Kirche – Eine Entgegnung auf Franz Segbers

Seit im Herbst 2011 Menschen vor der Wall Street Zelte aufstellten und mit dem Weckruf »Occupy Wall Street!« auf die Probleme des Weltfinanzsystems aufmerksam machen wollten, hat sich eine weltumspannende Bewegung entwickelt, die inzwischen sehr unterschiedliche Institutionen ins Visier genommen haben.
Schaut man sich die mediale Berichterstattung an, dann fallen zwei Dinge auf: die evangelische Kirche ist weder als Subjekt noch als Objekt in diesen Vorgängen präsent. Franz Segbers hat sich dazu unter der Überschrift »Königin ohne Land« in den »Zeitzeichen« geäußert. Sein Artikel weist auf viele wichtige Aspekte hin, fordert mich aber auch zum Widerspruch heraus.

I. Schweigen ist mehr als Reden

Segbers fragt sich, warum die evangelische Kirche diese Bewegung verschläft, warum Synoden nicht Stellung beziehen. Die Frage ist berechtigt, weist aber auf eine Zwickmühle hin, in der sich Kirche in unserer medialen Gesellschaft befindet. Natürlich wäre es schön, wenn »die Kirche« sich zu aktuellen Fragen pointiert und kompetent äußert. Es fragt sich aber, ob diese Erwartung nicht überzogen ist.

Eine Wortflut zu allen möglichen Themen ergießt sich Tag für Tag ins Land. Ich bin selber seit langem Mitglied des sozialethischen Ausschusses der EKiR und erlebe an mir selbst die Hilf- und Ratlosigkeit, wenn in einer Sitzung hintereinander mehrere aktuelle, bedeutsame, aber eben auch komplexe Themen auf den Tisch kommen und wir in die Runde schauen und überlegen, wer kann jetzt hierzu etwas sinnvolles beitragen – und das auch noch möglichst schnell…?

Gleiches beobachte ich auch bei Politikerinnen und Politikern, von denen ebenfalls erwartet wird, im Sekundentakt zu den verschiedensten Themen kompetent und lösungsorientiert ins Mikrofon sprechen zu können. Und der kleinste »Fehler« wird anschließend genüsslich seziert…

Von daher ist es vielleicht besser, wenn sich »die Kirche« zu der hochkomplexen Problematik des Weltfinanzsystems zurückhaltend oder gar nicht äußert. Ist sie damit nicht in guter Gesellschaft? Die Occupy-Bewegung verweigert sich bislang allen Forderungen nach Präzisierung und Lösungsvorschlägen. Zu Recht, weil nur so die unbequemen Fragen offen gehalten werden und zugleich zu- und eingestanden wird, dass Antworten nicht leicht zu finden sind. Warum wird dann von »der Kirche« erwartet, dass sie sofort und gleich zu wissen habe, wo die Bösen sitzen und wie Lösungswege aussehen könnten?

Mir klingt das alles nach einer eher pauschalen Kritik an der – vermuteten oder auch realen – Ausrichtung des »Mainstreams« in der evangelischen Kirche. Ich bin mir auch nicht so sicher, ob Segbers recht hat mit seiner These, dass es vor allem auf die politischen Handlungsträger(innen) ankommt, auf die Druck ausgeübt werden muss. Ich bin weder Historiker noch Soziologe, aber ich vermute eher, dass gesellschaftliche Veränderungen auf vielfältige Art und Weise zusammen kommen als »nur« durch politische Entscheidungen. In der gegenwärtigen Diskussion gibt es ja auch kontroverse Auffassungen zur Handlungsfähigkeit der Demokratien auf unserem Erdball im globalen Kontext. Ist es nicht sinnvoller, auf eine breiter gestreute Bewegung zu hoffen?

Ich bin eher der Meinung, dass »die Kirche« sich an den Fragen und der Aufklärung beteiligen soll, kann und muss, ohne gleich Rezepte zu präsentieren. Das ist schmerzhaft, weil das erkannte Falsche ausgehalten werden muss, während alles in uns nach Veränderungen und Lösungen schreit. Doch Aktionismus führt selten zum Ziel, beruhigt vielleicht das eigene Gewissen, doch um welchen Preis? Ich hege die Hoffnung, das das bewusste Offenhalten der Fragen mehr Potential zur Veränderung birgt, weil die Beteiligung des Nachdenkens breiter wird als vorschnelle Äußerungen und Appelle von wem auch immer an wen auch immer – das führt doch eher dazu, sich gleich wieder aus der Diskussion auszuklinken, weil man ja etwas gesagt hat.

II. Wer ist »die Kirche«?

Segbers wirft die Frage auf, warum Frieden und Gerechtigkeit heute keine Themen mehr für den Kern der Volkskirche darstellen, spricht vom Burgfrieden, den die evangelische Kirche brauche, um nicht unter Spannung zerrissen zu werden und verweist auf den innerkirchlichen Pluralismus, dem er Stärke und Schwäche zugleich zuspricht.

Ich finde es aber zu kurz gesprungen, wenn anschließend allein auf die Schwäche angehoben wird und das kirchliche Reden und Handeln als schal und wirkungslos bezeichnet wird. Segbers übersieht, dass die presbyterial-synodale Struktur der evangelischen Kirche kaum zu anderen Positionen kommen kann, als zu einer Mischung aus Denkschriften, theologischen Beiträgen, synodal verfassten Stellungnahmen und Äußerungen der kirchlichen Handlungsträger(innen) und entsprechender Handlungsentscheidungen der verschiedenen Ebenen.
»Kirche«, das bin ich, das sind wir, Christinnen und Christen, Gemeinden und Kirchenkreise, synodale Gremien und die Leitungsämter. Aber damit gilt zugleich: Kirche ist auch Gesellschaft, weil Christinnen und Christen Teil der Gesellschaft sind.

Die Beobachtung, »die Kirche« habe Angst hat vor Veränderungen, kann man theologisch korrekt vielleicht als Akt des Unglaubens und als Sünde bezeichnen. Ob es sich aber im Kern (allein) um die Angst vor dem Verlust vorhandener Besitzstände handelt, scheint mir fraglich. Vielfach beobachte ich aufgrund des Wandelns und der Verunsicherung allerorten auch eine Sehnsucht nach einem Ort der Geborgenheit, nach ruhenden Polen in den Wirren einer sich teilweise chaotisch verändernden Gesellschaft. Auch dies mag als Unglaube qualifiziert werden, hilft aber zunächst wenig weiter.

Sinnvoller scheint mir zu fragen, wo denn der Kern der Volkskirche konkret verortet wird, der sich den Themen Frieden und Gerechtigkeit verweigert. Sehe ich ihn nur in der sog. »Kerngemeinde«, dann mag die These vielfach zutreffen. Aus den Kerngemeinden scheinen sozialethische Themen in den letzten beiden Jahrzehnten nach und nach ausgewandert zu sein, das entspricht auch meiner langjährigen Beobachtung als Gemeindepfarrer. Über die Gründe mag man streiten. Ich halte die These von Traugott Jähnichen für bedenkenswert, dass die evangelische Kirche in den letzten hundert Jahren sich in ihren Reformbemühungen stets am Zeitgeist orientiert hat. Für die Gegenwart seit den neunziger Jahren erkennt er vielfache Hinweise darauf, dass sich die Kirche hier am Ökonomismus ausgerichtet hat. Und wahrscheinlich kann das auch gar nicht anders sein, weil die Kirchenmitglieder nun einmal Teil der Gesellschaft sind, immerhin 24 Millionen Menschen in Deutschland. Dies mag erneut als Sünde im Sinne von Verstrickung bezeichnet werden und wirft Fragen auf, denen nachgegangen werden muss.

Allerdings eröffnet diese These doch auch eine Hoffnungsperspektive: Wenn sich der Zeitgeist gegenwärtig in Richtung Occupy ändert, wird sich das mittelfristig auch auf das Leben der Kirche und ihrer Gemeinden auswirken. Hier zeigt sich erneut: die Vielfalt, der Pluralismus von 24 Millionen Christinnen und Christen, ist Stärke und Schwäche zugleich.

III. Chancen und Möglichkeiten für die evangelische Kirche


Die Occupy-Bewegung verweigert sich ganz klar der Frage nach Programmen und Lösungen und zieht zunächst eine »Option für die Armen«. Das sollte uns als »Kirche« schon hellhörig machen – und freuen. Aber sie stellt Fragen und macht auf Probleme aufmerksam, die viele Menschen bewegen.

Ich habe in den letzten Monaten immer wieder in Predigten und Gesprächen auf Fragen hingewiesen, die von der Occupy-Bewegung gestellt werden. Und ich finde in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und auch in praktisch jedem Alter Menschen, die mit dem Protest still sympathisieren, weil sie sagen, irgendwo haben »die« schon recht. Es mag zutreffen, dass »die Kirche« sich hier (noch) nicht (öffentlich) positioniert hat, aber viele Christinnen und Christen teilen  das Unbehagen, dass überall konstatiert wird.

Das finde ich durchaus hoffnungsvoll, verweist doch Margrit Kennedy in ihrem kleinen Büchlein »Occupy Money« darauf, dass nur 10% der Bevölkerung von einer Veränderung überzeugt werden müssen, damit sich grundsätzlich etwas ändert. Da bewegt sich schon etwas, auch in der Kirche. Einige Gedanken möchte ich im Anschluss an Segbers nennen.

a) Subsistenzwirtschaft statt Vereinskirche
Die Vereinskirche mit ihrer Konzentration auf Gruppen und Kreise scheint schon länger ein Auslaufmodell zu sein, die sich so eröffnende Lücke ist derzeit nicht durch neue Trägergruppen geschlossen. Man kann daher die Frage stellen, an welchen Stellen und mit welchen Themen Kirche entweder neue Trägergruppen initiieren könnte oder sich mit vorhandenen solidarisch zusammenschließt. Ich bin auch sicher, das dies landauf, landab längst geschieht.

Ich plädiere daher weniger für das Wort nach außen, sondern für die Fragen nach innen. Noch einmal: unsere Kirchenmitglieder sind doch Teil dieser Gesellschaft. Fangen wir hier an, z.B. bei der Suche nach Möglichkeiten, subsistenzwirtschaftliche Anteile im Leben unserer Gemeinden (und das heißt vor Ort ja immer auch sofort: im Leben eines Dorfes oder einer Stadt) zu verwirklichen, um Lebensbewegungen zu initiieren, viele kleine Neuanfänge zu wagen – in der Hoffnung, dass sich aus vielen kleinen Anfängen hier und da Großes erwächst (Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld, Markus 4). Dann haben wir auch etwas anzubieten und einzubringen in die Bewegung, die sich »Occupy« nennt und das würde ich für mich mit »Wiederaneignung« übersetzen.
Sympathisierende Worte und Handlungen für die Aktivistinnen und Aktivisten vor Banken und Parlamenten dürfen auch sein und hierfür gibt es in Frankfurt, Berlin, Zürich und anderswo auch Beispiele.

b) Kirchliche Finanzen
Natürlich kann über die Frage gestritten werden und das muss auch sein, ob es sinnvoll ist, die Pensionsfonds auf dem Kapitalmarkt zu platzieren. Ob die Alternative zwingend ein umlagefinanziertes System sein muss, sei dahin gestellt. Gibt es nicht im Bereich der kirchlichen Banken und Gruppierungen wie Südwind hier vielfältige Ansätze zu ethischer Geldanlage, an der sich – und das ist wieder eine Stärke des Protestantismus – jede Gemeinde, jeder Kirchenkreis, jede Landeskirche beteiligen kann? Kirchliche Rede bleibt schal, wenn sie nicht ins Handeln überführt wird. Umkehr ist nötig, ja.

Und möglich, aber vermutlich – und das müssen wir schmerzlich aushalten – nur aus der Einsicht der jeweils handelnden Personen und Gremien. Und es würde der evangelischen Kirche ein Hauch Occupygeist gut tun, wenn es z. B. um die Frage geht, wofür Kirche auf ihren verschiedenen Ebenen ihr Geld einsetzt. Das wäre ein lohnender Streit, der eventuell aus manch fruchtloser Strukturdebatte herausführen könnte, die sich gerade an der »Basis«, in den Gemeinden, häufig im Kampf um Gebäude und nicht um Inhalte manifestiert.

c) Moderation ja – aber bei klarer Positionieren
Segbers Kritik an der moderierenden Rolle eines außenstehenden Zuschauers finde ich überzogen, weil sie übersieht, dass die Rolle des Moderators oder Mediators an vielen Stellen hilfreich und sinnvoll ist. Gerade in Fragen von sozialer Gerechtigkeit, in denen viele Nerven blank liegen, ist es gut, wenn Menschen dazwischen treten können, denen allseits ein gewisses Vertrauen entgegengebracht wird. Segbers hat aber Recht, wenn er der Kirche vorhält, dass sie nicht außen stehen kann, weil sie Teil des Systems ist.

Zur Rolle der Moderation gehört neben der Offenheit zum Zuhören auch eine klare fragende, anregende, aber nicht verurteilende Position. Hier wandelt Kirche wie auch immer und wo auch immer auf einem schmalen Grat. Es gibt den Punkt, an dem die einseitige Parteinahme notwendig ist, aber wann dieser Punkt erreicht ist, darüber muss ebenfalls gestritten werden.

Wer moderieren will, braucht eigene Positionen und muss diese im Prozess transparent machen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass das in früheren Zeiten vorherrschende theologische Motiv vom Wächteramt, dass die Kirche gegenüber Staat und Gesellschaft auszuüben habe, nun eine Wiederkehr findet in einem Wächteramt, dass sich nun aufschwingt, um über den gesellschaftlichen Kommunikationsprozess zu wachen.

Link zum Artikel von Franz Segbers: Königin ohne Macht

Eine Textfassung mit Fußnoten und Literaturangaben findet sich hier: Occupy (und) Kirche

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