Harald Martenstein hat in der ZEIT von letzter Woche einen sehr bedenkenswerten Artikel über den Mainstream geschrieben. Normalerweise lese ich am Donnerstagmorgen nur die Überschriften mal flüchtig, aber hier blieb ich hängen und habe das ganze Dossier komplett gelesen. Heute ist es auch auf zeit.de erschienen ( Sog der Masse ), und da ich in den letzten Tagen sehr häufig darüber nachgedacht habe und heute Abend Zeit habe, habe ich meine Gedanken mehr oder weniger unsortiert zu einigen Zitaten notiert.
»Weil die Geschichte immer weitergeht, werden meine heutigen Meinungen den Nachgeborenen wohl auch seltsam vorkommen. Ich weiß, dass ich in den Augen der Zukünftigen eine lächerliche Figur bin. Diese Erkenntnis macht mich demütig. Leute, die eine Meinung mit großer Selbstgewissheit vertreten, ohne die Spur eines Zweifels, so, als ob es kein Morgen gäbe, kommen mir dumm vor. Die einzige Haltung, die garantiert jeder Revision standhält, ist vermutlich der Zweifel. (…) Darüber, welche Meinung gerade die allgemein übliche ist, informieren die Massenmedien. Die Meinungsmacher dort sind aber auch nur Leute wie alle anderen. Sie tendieren dazu, die Meinungen und die Themen anderer Meinungsmacher zu übernehmen (…). Sie trauen ihren eigenen Augen nicht. (…) Weil der Mainstream heute die normative Rolle übernommen hat, die früher von Traditionen und Sittengesetzen gespielt wurde, tendiert man dazu, vom Mainstream abweichende Meinungen als unmoralisch zu verurteilen.«
Als ich das las, musste ich erst mal schmunzeln. Aber er hat ja so recht. Weil die Geschichte immer weitergeht, vergessen wir auch so schnell. Immer neue Ereignisse, Bilder, Geschichten, Personen treten auf die Bühne – und sind genauso schnell wieder verschwunden. Martenstein spricht von Demut und der Haltung des Zweifels. Gefällt mir als evangelischer Christ natürlich gut. Aber das durchzuhalten, ist so schwer. Die »Masse« will einfache, klare Antworten. Ich habe es schon auf Versammlungen erlebt, ich versuche einen komplizierten Sachverhalt darzustellen und nach zwei Minuten tönt es aus dem Saal: »Wir wollen keine langen Reden hören!« Da ist so eine Sehnsucht nach Einfachheit in unserer Welt. Und es wäre ja auch so schön, wenn endlich mal wieder etwas EINFACH wäre. Oder nicht? Ist es aber nicht. Deswegen versuche ich immer wieder, meine eigenen – derzeitigen – Positionen mit dem Zweifel zu beharken. So habe ich zumindest das Gefühl, ich entwickele meine Gedanken weiter und versuche der Versuchung zu wehren, meine Positionen absolut zu setzen. Doch wehe, ich wage solch eine vorsichtige, abwägende, zweifelnde Position in einer Diskussion um – was auch immer – zu beziehen. Es löst bei manch einem, manch einer sofort Irritationen, Wut, das Gefühl im Stich gelassen zu werden, aus. Und dann kommt es schnell zu »unmoralischen« Reaktionen, Tritten unter die Gürtellinie. Vermutlich ein Preis, den Menschen zahlen müssen, die heute in der Öffentlichkeit stehen. Ob es früher anders war, weiß ich aber nicht, das müssen andere beurteilen. Andererseits: Spreche ich mit einem Menschen über kompliziertere, strittige Fragen mal länger, sagen wir eine Stunde, dann erlebe ich es oft, dass sich irgendwann die Spannung löst, Verstehen einsetzt und wir dann schließlich gelöst auseinander gehen. Keineswegs hat der eine den anderen oder umgekehrt überzeugt, aber solche Gespräche enden oft mit dem gemeinsamen Seufzer: »Es ist aber auch schwierig!«
»Lange vor den großen Verbrechen der Nazis und des Stalinismus vertrat Le Bon die Theorie, dass ›gutmütige Bürger, die normalerweise ehrsame Beamte geworden wären‹, in der Masse zu den grausamsten Verbrechen fähig sind. Die Masse ist nicht nur dumm. Sie kann auch gefährlich sein. 1895 wurde das Kino gerade geboren, ans Fernsehen dachte keiner. Trotzdem hat Le Bon über die Entstehung von Massenmeinungen den erstaunlichen Satz geschrieben: ›Die Massen können nur in Bildern denken.‹ Bilder transportieren Emotionen, nur Emotionen bewegen Massen. Logik ist zu kompliziert für sie. Die zweite Grundregel zur Überzeugung der Massen – Le Bon spricht lieber von ›Hypnose‹ als von ›Überzeugung‹ – heiße Wiederholung. Man muss einfache Botschaften und starke Bilder oft genug wiederholen. Dieses Rezept wird immer wirken.«
Spannender Gedanke. Von Le Bon habe ich zwar schon gehört, dass er den Bildern aber solche eine Bedeutung zuspricht, ist mir neu. Mir fiel sogleich folgendes Zitat von Franz-Josef Radermacher ein:
»(Es) ist zu beachten, dass es den Marktfundamentalisten gelungen ist, ihre Position über manipulierte Bilder tief in den Gehirnen vieler Menschen zu verankern.« (Franz Josef Radermacher, Balance oder Zerstörung. Ökosoziale Marktwirtschaft als Schlüssel zu einer weltweiten nachhaltigen Entwicklung, S. 243)
Ich habe in diesem Jahr viel über Bilder nachgedacht, die in unseren Köpfen sitzen, die wir von den Wirtschaftsmächtigen eingepflanzt bekommen. Ich gestehe, ich träume von einem iPhone (meine Frau kann ein Lied davon singen…). Dabei habe ich mit dem Teil weder genauer beschäftigt und brauchen, also brauchen tue ich es wahrlich nicht. Trotzdem hätte ich gerne eins. So ist das mit den Bildern und den Sehnsüchten, die dadurch geweckt werden. Und ich frage mich, wer entwickelt die Gegenbilder? Eine Sysiphusarbeit, keine Frage. Aber notwendig. Gestern in der Predigt zu Volkstrauertag ( Predigt zu Jeremia 8 ) habe ich den Gedanken entwickelt, Zelte von Bankentürmen, das sei so ein Gegenbild gegen den Mainstream. Oder die Mülltaucher, die mit Gummistiefeln in Container bei Aldi oder Lidl klettern, um gegen den Wahnsinn zu protestieren, was wir so alles wegwerfen. Gegen-Bilder. Einfache Botschaften und starke Bilder immer wieder wiederholen. In dem Sinn macht die Occupy-Bewegung alles richtig…
»Bei den einfachen Fragen ist der Publikumsjoker fast immer eine sichere Sache. Aber je komplizierter es wird, desto öfter irrt sich die Mehrheit. Es ist dann klüger, jemanden anzurufen, der Ahnung hat. Eine Einzelperson. Das Leben ist natürlich oft ziemlich kompliziert. Trotzdem haben wir unser Leben weitgehend dem Publikumsjoker untergeordnet.«Kompliziert ist unsere Welt wahrlich geworden, o ja. Die Mitglieder »meines« Presbyteriums stöhnen zu Recht über immer kompliziertere und komplexere Sachverhalte, über die sie zu beraten und zu entscheiden haben. Immer häufiger höre ich nach einer Sitzung: »Eigentlich war das doch unzumutbar, was wir da heute wieder an Tagesordnungspunkten durchgezogen haben, und es bleibt bei mir ein ungutes Gefühl, wirklich verstanden habe ich wahrlich nicht alles, – entscheiden, die Hand heben, hierfür oder dafür, das musste ich am Ende denn dann doch. Aber es bleibt ein mulmiges, ungutes Gefühl, der Zweifel….«
Was ziehe ich daraus an Konsequenzen? Abschaffung demokratischer Prozesse? Doch wer garantiert denn, dass ein »Diktator« – ganz gleich auf welcher Ebene unseres Lebens, sei es in Regierungen, Städten, Vereinen, Kirchengemeinden, das Richtige tun wird? Niemand. Und es stellt sich ja auch gleich die Frage: Was ist das Richtige? Vielleicht ist es dann auch nicht so sehr die Fragen wie mein Nachbar denkt (das auch), aber ich glaube, bei der Frage komplizierter Entscheidungen geht es um das Vertrauen. Ich vertraue dem oder der – und dann stimme ich ihm oder ihr halt zu…. Mainstream des Vertrauens. Kann es nicht sein, dass wir dazu neigen, uns den immer komplizierter werdenden Sachfragen dadurch zu entziehen, dass wir nach Vertrauen zu der Person entscheiden? Umso schrecklicher, wenn dann das Vertrauen in die Brüche geht, durch Fehlverhalten oder durch gezielte Kampagnen. Abweichungen vom Mainstream sind unmoralisch. Schnell ist da von »unverantwortlichem« »katastrophalen«, »unseriösen« Verhalten von Entscheidungsträgern die Rede, das kenne ich auch aus eigener Erfahrung. Guttenberg war ein gutes Beispiel dafür, erst wurde er in den Himmel gehoben und dann gnadenlos fallen gelassen. Gut, er nährte Zweifel an seiner Integrität, da er zu zögerlich mit der Wahrheit herausrückte. Aber entlud sich nicht auch eine Art von Enttäuschung über den Hoffnungsträger? Margot Käßmann ist das umgekehrte Beispiel.
Vielleicht will die Masse gar keine sachlich abgewogenen Entscheidungen, sondern sie sucht eine Schulter, an der sie sich anlehnen kann. Verständlich und gefährlich zugleich…
So schwer es oft fällt, der Streit über die Wahrheit muss immer neu, jeden Tag geführt werden. Weder einfache Antworten noch den angebliche starke Schulter sind da eine sinnvolle Alternativen. Dennoch: »schöne« Aussichten für Querdenkern oder »Reaktanten«, wie Martenstein sie nennt.
Harald Martenstein spricht an der ein oder anderen Stelle davon, dass ihm das Nachdenken über den »Sog der Masse«, den Mainstream, Angst macht. Mir geht es genauso. Aber zugleich frage ich mich: ist das nicht reichlich arrogant von mir? Stelle ich mich damit nicht über die Masse? Ja, erwischt. Aber zugleich: Da ist er wieder, der Zweifel. Morgen lese ich das hier dann noch mal nach. Vielleicht schreibe ich dann einen Kommentar dazu – weil ich schon wieder anderer Meinung bin.