Erinnerung an meine Mutter – geboren am 9. März 1938

Heute wäre meine Mutter 85 Jahre alt geworden.
Geboren wurde sie als Erika Schnabel am 9. März 1938 in Frankfurt am Main.
Auf der Zeil stand ihr Geburtshaus, worauf sie ein Leben lang stolz war.

Ihr Vater musste in den Krieg, nach Frankreich.
Dort ging es in der Etappe eher friedlich zu, wenn die seltenen Hinweise stimmen, die er gab.
Er blieb in Frankreich bis 1948 in Gefangenschaft, dort lebte es sich auch so weit ganz gut.

Für meine Mutter und ihre Mutter sah das anders aus.
Vor den Bomben flohen sie nach Norden, fanden eine Bleibe in Hermannstein bei Wetzlar.

Nach dem Krieg fing schon die Geschichte mit meinem Vater an.
Die Familie Schnabel zog nach Wetzlar in ein Haus, das an die Holzhandlung meines anderen Großvaters grenzte.
Dort lernten sich Erika und Wilhelm kennen, praktisch im Sandkasten.

Meine Mutter durchlebte eine für die damalige Zeit normale Schulzeit.
Sie machte eine Ausbildung, dann heirateten meine Eltern 1960.
An Erwerbsarbeit war nicht mehr zu denken.
1961 wurde ich geboren, 1964 mein Bruder.
Ein Hausbau stand in den Jahren an, viel Trubel.

Vielleicht wenig Zeit zum Nachdenken?
Ich weiß es nicht.
Meine Eltern wurden groß in der Nachkriegszeit.
Ihre Hochzeit fiel in die Zeit der Kubakrise.
Ich wurde kurz vor dem Mauerbau geboren.
Hat sie die Weltgeschichte beschäftigt, emotional?
Hatten sie Angst vor einem neuerlichen Krieg?
Ich habe sie später gefragt und sie haben das entschieden verneint.

Vielleicht hatten sie schon damals auch andere Sorgen.
Meine eine Großmutter starb früh, ich war gerade geboren.
Ihr Mann, der Vater meines Vaters, als ich sechs Jahre alt war.
Mit 28 Jahren war mein Vater Chef in der Holzhandlung, mit allem dran und drum.
Und das, obwohl er seit Geburt schwerhörig war und ihn das zeitlebens behindert hat.

Dann wurde meine Mutter erstmals krank.
Depressionen, Klinikaufenthalt.
Lithiummangel wurde später diagnostiziert.
Das hat alle sehr belastet.
Ich weiß noch, dass mein Vater einmal zu mir sagte, ich solle mich in der Schule anstrengen, damit sich meine Mutter keine Sorgen machen müsse.

Diese Wolken zogen vorbei und es folgten Jahre mit großem Wohlstand.
Auf den Bildern kann man die wachsenden Bäuche in meiner Eltern- und Großelterngeneration erkennen.
Geld war kein Problem.
Urlaube, Möbel, egal, es war Geld da.
In meiner Erinnerung waren das volle und leichte Jahre.

Im frühen Jugendalter fingen die Diskussionen am Küchentisch an.
Zu viert beim Abendessen.
Aber vor allem auch Gespräche zwischen meiner Mutter und mir.
Wenn ich aus der Schule kam, unterhielten wir uns ganz oft.
Und intensiv.
Ich habe diese Zeiten immer sehr geschätzt, die Vertrautheit, das intellektuelle Niveau.

Ein Gespräch habe ich noch sehr genau vor Augen.
Das war schon im vorgerückten Jugendalter, vielleicht war ich sechzehn oder so.
Wir unterhielten uns über die Möglichkeit des Suizides und ich meinte, das könne ich für mich nicht eindeutig ausschließen.
Meine Mutter fing aus dem Stand an zu weinen.
Dann erzählte sie mir, dass ihre Mutter sich vor Jahren in einer depressiven Phase aufgehängt hat.
Und ich solle auf gar keinen Fall meinem Bruder etwas davon erzählen!

In meiner Erinnerung war ich überrascht und betroffen, aber nicht schockiert.
Und das Schweigegebot – in meiner Familie wurde über viele Dinge ganz offen geredet, dafür über andere überhaupt nicht.

Ich kam auf die Oberstufe, tummelte mich in der Jugendarbeit der Kirchengemeinde, verliebte mich.
Die Gespräche mit meiner Mutter wurden weniger.
Noch mehr, als ich zum Studium auszog.
Kurz danach heirateten Christine und ich.

Nun telefonierten wir, und das ging aufgrund der Schwerhörigkeit meines Vaters eben nur mit meiner Mutter.
Solange wir in Marburg lebten, waren wir aber oft am Wochenende in Wetzlar bei meinen Eltern. Intensive Gespräche auf dem Balkon oder beim Grillen waren dann die Regel.

Als wir mit den frisch geborenen Zwillingen ins Rheinland zogen und ich erst ins Vikariat und dann ins Pfarramt ging, nahm die Zahl und auch die Intensität der Begegnungen ab.
Das war schade, die Abschiede waren oft schwer, für beide Seiten.
Aber sie freute sich an ihren drei Enkeln, die oft auch allein nach Wetzlar zu Besuch kamen.

In den neunziger Jahren erkrankte meine Mutter an Parkinson.
Anfangs hatte sie die Krankheit noch im Griff, doch nach wenigen Jahren nahm die Krankheit sie in den Würgegriff.
In Kombination mit ihrem Hang zu Depressionen war es extrem schwer, eine gute medikamentöse Einstellung zu finden.
Meine Mutter litt unter Ängsten, zog sich immer weiter in ihre Welt zurück, war oft traurig.
Ihre Persönlichkeit veränderte sich.
Die Gespräche „wie früher“ waren nicht mehr möglich.

Mein Vater musste nun vieles übernehmen, auch die Kommunikation in der Familie.
Ihm half das aufkommende Internet und die Möglichkeit zu mailen, später Messenger nutzen zu können.

Die Begegnungen habe ich in den letzten Lebensjahren als bedrückend erlebt.
Ein dunkler Schleier lag über dem Leben meiner Mutter, meiner Eltern.

Von manchen Dingen wollten sie aber kategorisch nichts wissen.
Versuche, sie zu einem Umzug in unsere Nähe zu bewegen, wurden unmittelbar zurückgewiesen. Wir haben das akzeptiert, aber leicht war das nicht.

2011 stürzte meine Mutter und brach sich ein Bein.
Davon hat sie sich nicht mehr erholt.
Kurz nach meinem 50. Geburtstag starb sie zu Hause, die Familie war an ihrer Seite.
Es war ein Segen für sie, bei aller Trauer.

Von daher kann ich die Frage, ob ich meine Mutter vermisse, nicht eindeutig beantworten.
Die letzten zehn Jahre ihres Lebens waren für sie weitgehend eine Qual.
Die Mutter, mit der ich so gute und intensive Gespräche führen konnte, war damals schon nicht mehr da.
Und die gute Zeit liegt mittlerweile so lange zurück, dass vieles verblasst an Erinnerungen und Gefühlen.

Ja, ich vermisse ich diese Beziehung schon.
Im Sinne eines warmen und dankbaren Hinspürens in meine Vergangenheit.

Das Bild, was ich ausgewählt habe, habe ich vor fast genau fünf Jahren schon einmal in einem Blogbeitrag beschrieben: Meine Ahnen.
Meine Mutter steht mittendrin, in der Familie, im Leben.
Trotz alledem.
Es ist mein liebstes Bild von ihr.

Heute wäre sie 85 Jahre alt geworden.

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