Warum ich es gut finde, dass sich bei mir niemand vom Religionsunterricht abmelden kann

Seit knapp einem halben Jahr unterrichte ich evangelische Religion am Pestalozzi-Seminar. Nach einer ersten Phase, in der ich tastend vorgegangen bin, stellen sich erste Erkenntnisse ein.

Wenn ich mittlerweile zum Beispiel in eine neue Klasse gehe, stellen wir uns in der ersten Stunde gegenseitig vor. Anschließend sprechen wir über die Erfahrungen, die wir bislang mit Religionsunterricht (RU) gemacht haben. Dann kommt der Punkt, an dem ich sage: „Ich finde es super, dass sich von euch hier niemand vom RU abmelden kann!“

Die Reaktionen sind gemischt. Überraschung, Verwirrung, Skepsis. Wie meint er das? Ist er als Pastor doch nicht so offen, wie er es in der Vorstellung angedeutet hat?!

Ich schaue in die Runde. Da sitzen Frauen und Männer, die evangelisch, katholisch oder orthodox sind. Dazu kommen Muslima und Jesidininnen. Andere haben sich eben als religiös distanziert oder als atheistisch beschrieben. Manche sind oder waren aktiv in kirchlichen Gruppen und bezeichnen sich als gläubig. Es ist eine bunte Mischung, so wie in unserer Gesellschaft.

Ich fahre dann fort: „Ihr bereitet euch auf einen Beruf vor, in dem ihr früher oder später mit Religion, religiösen Fragen oder religiösen Konflikten konfrontiert werden. In KiTas und Jugendheimen, bei den Kindern und Jugendlichen, oder ihren Eltern. Völlig unabhängig von der Frage, wie religiös du bist, musst du als Sozialpädagogische Assistent:in oder Erzieher:in in der Lage sein, mit Religion umzugehen.“

Ich erläutere das an Beispielen. Da ist die KiTa-Leitung, die nach dem Tod eines Kindes am nächsten Tag wieder zum alltäglichen Betrieb übergeht. Tod und Trauer werden ausgeblendet, sind privat. Oder die KiTa, in die mein Enkel geht. Dreißig Seiten Konzeption, hoch reflektiert, sehr kindgerecht, doch das Wort Religion kommt nicht vor. Weihnachten wird trotzdem gefeiert. Zwei Beispiele, wie religiöse Fragen nicht hinreichend ernst genommen und reflektiert werden.

Deshalb finde ich es richtig, dass an unserem Seminar alle am RU teilnehmen. Ich erzähle weiter, dass es mein Ziel ist, Religionssensibilität zu „unterrichten“. Ich setze das bewusst in Anführungszeichen, weil ich das genauso lernen muss wie die Seminarist:innen. Wir sind da eine Lerngemeinschaft. Im Blick auf die Arbeit der Sozialpädagogischen Assistent:innen und Erzieher:innen heißt das:

„Unsere moderne Gesellschaft ist, wie alle Gesellschaften vor uns auch, darauf angewiesen, dass die Werte, welche sie zusammenhalten, und die religiösen Prägungen und Grundüberzeugungen an die nächste Generation weitergegeben werden. Dazu gehört, dass den religiösen Fragen der Kinder Raum gegeben wird und sie für diesen Bereich Orientierung erhalten – heute wird dafür häufig der Begriff der Religionssensibilität verwendet.“

https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/religioese-und-ethische-bildung/wieviel-weihnachten-darf-es-in-einer-kita-sein/

Religionssensibilität, darunter verstehe ich, dass ich mich so weit mit religiösen Fragen und Religionen (!) auseinandergesetzt habe, dass mich auftauchende Fragen und/oder Konflikte nicht völlig kalt erwischen. Der je aktuelle Moment lässt sich nicht planen, aber wenn es Erfahrungen und/oder Gedanken gibt, die ich dann aktivieren kann, ist das hilfreich.

Zum anderen gehört für mich zur Religionssensibilität hinzu, dass ich mich frage, wie ich selber zu Religion stehe. Beziehungsgeschehen gehen nicht ohne meine Person, und dazu gehört auch eine (Nicht-) Religiosität. Wenn ich hinreichend weiß, wo ich selbst stehe, dann kann ich in der konkreten Beziehungssituation authentisch auftreten. Ich kann Kindern und Jugendlichen „selbst-bewusst“ gegenübertreten. Ganz gleich, ob ich mich als christlich, muslimisch, jüdisch, humanistisch usw. verstehe. Ganz gleich, welchen religiösen Hintergrund das Kind oder seine Eltern haben. Oder meine Kolleg:innen und/oder Vorgesetzte.

Pointiert formuliert: Ich kann auch als Atheist die Weihnachtsgeschichte oder die Erzählung vom barmherzigen Samariter kindgerecht erzählen, sodass die religiösen Fragen der Kinder angemessen aufgegriffen werden. Andersherum, ich kann auch als Christ:in das Zuckerfest oder den Schabbat Kindern und Jugendlichen nahebringen.

Abschließend mache ich in meinen Klassen deutlich, dass ich mich als Christ evangelischer Prägung verstehe und das nicht verstecke. Aber nur in dem Sinn, dass ich mich in die gemeinsamen Lernbewegungen mit meiner Person und meinen Erfahrungen einbringe.

Und dann geht es fröhlich ans Werk, um es mit Martin Luther zu sagen. Nach fünf Monaten kann ich für mich sagen: Wow, ich habe in den Klassen schon viel gelernt. Es ist spannend, mit Menschen über Religion nachzudenken. (Ja, ich muss auch Noten geben und Klausuren schreiben. Muss sein, macht nicht so viel Spaß, gehört aber dazu.)

Von daher wäre es auch meiner Sicht sinnvoll, wenn an unseren Schulen insgesamt diese Trennung zwischen evangelischem und katholischem Religionsunterricht sowie Werte und Normen abgeschafft und durch ein gemeinsames Lernen ersetzt wird. Religiöse Fragen haben mit Werten und Normen zu tun, und religiösen Menschen tut es auch gut, sich mit anderen Positionen zu beschäftigen. Solch ein Unterricht in Religionssensibilität wäre ein Beitrag zu einem friedvollen Zusammenleben in der Gesellschaft, weil Verständnis und Empathie füreinander geweckt wird und Konflikte angesprochen, wenn auch nicht immer gelöst werden können.

4 Gedanken zu “Warum ich es gut finde, dass sich bei mir niemand vom Religionsunterricht abmelden kann

  1. Marie Francine Lauterwald

    Ich finde sehr gut dass alle Schüler zur Religionsunterricht teilnehmen. Für mich ist immer eine Bereicherung andere Religionen oder Glaubensarten kennen zu lernen, aber auch wichtig meine Glauben zu leben deswegen finde ich richtig dass es in Christlichen Kindergarten von Weihnachten, Ostern, Pfingsten…erzählt wird.

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  2. Aus meiner eigenen Erfahrung bezweifle ich, daß es sinnvoll ist, wenn Christen meinen, den Schabbat oder das Zuckerfest nahebringen zu können / sollen. Mit Grausen denke ich an die von einigen evangelischen Medienstellen angebotenen „Judenkoffer“… , die es hoffentlich nicht mehr gibt. Aber auch ohne gab es genug christlichen Antijudaismus als „Fremdreligionen“ in der Mittelstufe dran waren. Mir ist noch keine Rabbinerin und noch kein Imam untergekommen, die dachten, sie müßten den Stellenwert des Sonntags oder die Bedeutung von Pfingsten unterrichten.

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    1. Meine Erfahrung ist anders. Im Haus der Religionen in Hannover zB stellen sich verschiedene Religionen gemeinsam vor, u. a. der Islam und das Judentum. Mit dem Ziel, Verständnis füreinander zu entwickeln, um das gute Miteinander und Nebeneinander zu fördern.

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      1. Das ist etwas völlig anderes, wenn Angehörige einer Religionsgemeinschaft die eigene Religion vorstellen als wenn der christliche Religionslehrer per „Judenkoffer“ das Judentum einführt, jeder anwesende christliche Junge eine Kippa und einen hebräischen Namen für die Religionsstunde bekommt …

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