Hinführung
Johann Wolfgang Goethes Osterspaziergang aus dem „Faust“ kennen vermutlich viele, allerdings beschränkt sich diese Kenntnis zumindest bei mir vor allem auf den ersten und den letzten Satz: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche“ bzw. „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“
Aber das ist schade. Ich möchte anregen, sich allein oder mit anderen zusammen, sich in diesem Jahr mal ganz anders mit Goethe’s Osterspaziergang während eines eigenen Osterspaziergangs zu beschäftigen.
Was reizt und fasziniert mich an Goethe’s Text?
Goethe schaut sich um und genau hin. Er nimmt die Stimmung am Ende des langen Winters auf, die Bilder, die Farben, den Geruch, den Aufbruch. „Sie sind selber auferstanden, feiern die Auferstehung des Herrn“, schreibt er. Am Ende fasst er die Osterbotschaft zusammen: »Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!« Dabei beschreibt er nicht für das Ende des Winters, sondern auch die Lebenssituation der Menschen: Es fehlt an Blumen im Revier, die Häuser und Gassen sind finster und eng, Handwerker, Gewerbe, Schifffahrt werden genannt – hier nimmt er Berufe wahr.
Dieser wunderbare Text ist für mich eine Anleitung, mich in meinem Umfeld umzuschauen und genau hinzusehen. Noch ist unklar, wie lange der Winter in diesem Jahr dauert, in Hannover habe ich in diesen Wochen mehr Schnee gesehen als in den letzten vier Jahren, die wir hier mittlerweile leben. Und dann ist die da die riesengroße Sehnsucht, dass wir „nach Corona“ wieder raus dürfen, das (alte?) Leben wieder auflebt, meine Seele auflebt, mein Körper durchatmet – und ich einstimme in den Satz: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“
Durchführung
Ich nehme eine Idee auf, die ich in einem Workshop mit Birgit Mattausch sowohl kennengelernt als auch mit ihr weiterentwickelt und mit einer Gruppe erprobt habe. Die Methode ist sowohl für die persönliche Meditation geeignet als auch für Gruppen. Die Aktion geht so:
1. Der „Osterspaziergang“ von Goethe wird entweder hier heruntergeladen oder selbst zu Hause persönlich eingesprochen (Text bzw. Link zur Audiodatei am Ende).
2. Die Audiodatei lade ich auf mein Handy, wenn ich den Text nicht selbst aufnehme. Dann geht es raus an den Ostertagen – in den eigenen Stadtteil, besser nicht in „die Natur“ (obwohl das natürlich auch möglich ist). Gruppen starten vielleicht bei der Kirche/dem Gemeindehaus oder verabreden sich entsprechend. Gruppen legen eine Zeit fest, wann sie sich wieder treffen.
3. Während ich spazieren gehe, höre ich in einer Endlosschleife immer wieder den Osterspaziergang. Ich notiere in Gedanken oder auf Papier, was mir ein- und auffällt. Fragen könnten (!) z.B. sein:
- Was fällt mir auf? Menschen? Gebäude? Farben? Gerüche? Geräusche, die so laut sind, dass sie „durchkommen“ durch die Ohrhörer?
- Welche Gefühle und Empfindungen bewegen mich? Freude? Trauer? Glück? Schmerz?
- Wie ist das in diesem Jahr, mit Corona und Ostern: Erlebe ich mich »auferstanden«, erlebe ich mich „als Mensch, der ich hier sein darf?“
- Fallen mir biblische Geschichten ein, die passen? Oder auch „weltliche“?
- Was sehe ich in einem Stadtteil, in der Umgebung? Wo sind die düsteren, grauen Ecken, die traurig machen? Wo leuchten Farben und blitzt Lebensfreude und Hoffnung auf?
Spannend ist, sich zwischendurch mal für ein paar Minuten auf eine Bank zu setzen oder irgendwo im Stadtteil stehenzubleiben. Und dann hören und schauen.
4. Am Ende des Spaziergangs kann die Auswertung sehr verschieden aussehen. Gruppen können einander die Gedanken mitteilen. Ich kann ein Bild malen. Ich kann für mich den Goethe-Text umschreiben. Oder, oder, oder..,
Materialien
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer kornigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt’s im Revier
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurückzusehen.
Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß, in Breit und Länge
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und bis zum Sinken überladen
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!
(Quelle: Johann Wolfgang Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, 1808. Vor dem Tor, Faust zu Wagner)
Der Osterspaziergang, gelesen von Matthias Jung: