Auf halbem Weg stehen geblieben. Versuch einer geschlechterbewussten Analyse der „Arbeitsdenkschrift“ der EKD

Diesen relativ umfangreichen Text gibt es auch als PDF: Auf halbem Weg stehen geblieben.

1 Menschen, Frauen und Männer

Im Frühjahr veröffentlichte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) die von ihrer Sozialkammer erarbeitete Denkschrift „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt“. Darin heißt es zu Beginn:

Die sog.Inklusive Schreibweise wird nur da verwendet, wo es wirklich um Individuen in ihrer Geschlechterdifferenz geht, nicht um den Typus, der im Deutschen zumeist durch die maskuline Form bezeichnet wird.1

Die Begründung irritiert. Es wird nicht, wie so oft, mit der angeblichen besseren Lesbarkeit des Textes argumentiert. Nein, die Abgrenzung wird mit dem Verweis auf einen übergeordneten, umfassenden „Typus“ vorgenommen. Auf den Seiten nach diesem Zitat bewertet die Denkschrift Arbeit aus biblischer Perspektive. Hier wird unmissverständlich betont, dass aus theologischer Sicht alle Formen von Arbeit in gleicher Weise zu würdigen sind: Haus- und Familienarbeit, Erwerbsarbeit, ehrenamtliches Engagement, Unternehmertum. Arbeit wird als Gemeinschaftsleistung des zusammenarbeitenden und aufeinander angewiesenen Menschen verstanden, Solidarität ist die angemessene Haltung, die Menschen in ihrer Tätigkeit verbindet bzw. verbinden soll. Menschen, nicht Frauen und Männer. Der Mensch ist also der Typus.

Dies macht neugierig, nun die Stellen in der Denkschrift zu suchen, in denen ausdrücklich nach Geschlechtern differenziert formuliert wird.

a) Identitätsstiftende personennahe Dienstleistungen

Erstmals geschieht dies bei der Beschreibung personennaher Dienstleistungen. Diese sind in besonderer Weise durch die Ambivalenzen der gegenwärtigen Veränderungen in der Arbeitswelt betroffen, denn:

Diese Tätigkeiten sind für die betreffenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer identitätsstiftend, denn sie haben die Möglichkeit, ja sogar die Pflicht, ihre eigene Persönlichkeit in die Erwerbsarbeit einzubringen.2

b) Verteilung der Arbeit in der Familie

Die vielfältigen Umbrüche in der Erwerbsarbeit wirken sich im Blick auf die Verteilung der Arbeit von Männern und Frauen innerhalb der Familie aus. Das wird eng mit der Sorgearbeit verknüpft gesehen, die weitgehend von Frauen getragene Doppelbelastung klar benannt.3

c) Teilzeitbeschäftigung

Bei den Gründen für die Zunahme der Teilzeitbeschäftigung in den letzten Jahren kann sich die Denkschrift nicht auf eine gemeinsame Bewertung einigen, sie bleibt umstritten. Betont wird allerdings, dass insbesondere unter teilzeitbeschäftigten Frauen der Wunsch nach einem höheren Beschäftigungsgrad stark ausgeprägt ist.4

d) Frauen als Verliererinnen der Globalisierung

Bei der Beschreibung der Auswirkungen der Globalisierung wird als aktuelles Beispiel die Textilindustrie genannt und darauf verweisen, dass die meisten der dort Beschäftigen Frauen sind.5

e) Gewerkschaftliches Engagement von Frauen

Im Blick auf die Mitgliedschaft in Gewerkschaften wird festgestellt, dass gewerkschaftliches Engagement heute nicht mehr selbstverständlich ist. Daher, so die Denkschrift, wenden sich Gewerkschaften vermehrt im Dienstleistungsbereich

früher für sie untypischen Gruppen zu. So sind sie auch bestrebt, den Anteil weiblicher Mitglieder zu erhöhen.6

f) Unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen

Schließlich, und das überrascht dann doch, gibt es einen eigenen Abschnitt „Männer und Frauen“. Im entsprechenden Kapitel (4.2.2) wird Arbeit als Gemeinschaftswerk in den Blick genommen. Hier geht es neben Niedriglohnsektor, Werksverträgen, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Handicap, Älteren in der Arbeitswelt und Langzeitarbeitslosen dann auch um Männer und Frauen. Konkret wird die unterschiedliche Bezahlung von Frauen und Männern in der Erwerbsarbeitswelt untersucht. Zunächst wird betont, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen mittlerweile zum „Normalfall“ (Anführungszeichen im Text) geworden ist. Allerdings herrscht bei Frauen vielfach Teilzeitbeschäftigung vor,

die Zugewinne der Frauen übersetzen sich also noch nicht in eine insgesamt gendergerechte Verteilung der Arbeit.7

Mit Blick auf die Gehaltsunterschiede wird gefordert, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Ausbildung zu verbessern sowie das niedrige Lohnniveau in der Sorgearbeit anzuheben. Auch die bei Männern deutlich niedrigere Bereitschaft, weniger erwerbstätig sein zu wollen, wird in der ungleichen Bezahlung zwischen den Geschlechtern verortet.

Schließlich wird mit Blick auf die Folgen der ungleichen Bezahlung für die Sozialversicherungssysteme gefordert:

In Zukunft sollte die Finanzierung sozialer Sicherungssysteme auf einer geschlechtergerechten Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit aufbauen und im Ergebnis zu vergleichbaren Ansprüchen von Männern und Frauen aus sozialen Sicherungssystemen führen.8

f) Pastorinnen und Pastoren

Ganz am Ende fällt dann umso mehr ins Auge, dass ausgerechnet bei Pfarrer/-innen mit einem Mal geschlechtsdifferenzierend formuliert wird. Sowohl bei den Mitarbeitenden im Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) als auch in der Berufsschule wird ausdrücklich von Pastorinnen und Pastoren gesprochen, ohne das es hier um „Individuen in ihrer Geschlechterdifferenz“ geht. Vermutlich ein eher peinliches Versehen der Endredaktion, das aber einen Blick auf die Prioritäten öffnet – die Geschlechterdifferenz gehört offensichtlich nicht dazu.

Die eingangs zitierte Aussage zur Inklusiven Schreibweise suggeriert, dass es Benachteiligungen von Frauen nur in den genannten Bereichen gibt, Frauen in allen anderen Bereichen also nicht oder gleich stark wie Männer benachteiligt sind. Dies überrascht, da die Denkschrift bei ihrer Definition von Arbeit von einem sehr weiten Verständnis Arbeit ausgeht, das allerdings nicht konsequent durchgehalten wird.

2 Geschlechterbewusste Wirtschaftsethik

Vor ein paar Tagen stoße ich über eine Diskussion auf Facebook auf den Sammelband „St. Galler Wirtschaftsethik“ und lese darin einen Artikel von Ulrike Knobloch. Dort untersucht sie aus Genderperspektive die in St. Gallen gelehrte Integrative Wirtschaftsethik. Ihre Kernthese lautet,

dass sich die Integrative Wirtschaftsethik in ihrer Kritik zu stark auf die Mainstream-Ökonomie ausrichtet (…) und dadurch deren Ausblendung der Kategorie Geschlecht übernimmt.9

Knobloch reflektiert ihre Verbindung zu Integrativen Wirtschaftsethik einerseits und kritisiert deren Ausblendung der Geschlechterdifferenz andererseits. Programmatisch schreibt sie:

Einer geschlechterbewussten Wirtschaftsethik geht es darum zu zeigen, auf welchen Werte und Normen inkl. Geschlechternormen auch moderne Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme basieren.10

Ausgangspunkt ist eine erweiterte Definition von Ökonomie: Realwirtschaft ist Marktwirtschaft plus Versorgungswirtschaft.11 Hierzu verweist Knobloch zunächst auf die Herkunft des Begriffs Ökonomie:

Der Begriff ‚Ökonomie‘ kommt vom Altgriechischen oikonomia und setzt sich zusammen aus oikos und nemein, wobei oikos Haus oder Haushalt bedeutet und nemein aus-, zu- und verteilen, später auch verwalten und ordnen. Von ‚Haushaltsökonomie‘ zu sprechen, ist daher eigentlich ein Pleonasmus, der sich daraus erklärt, dass Ökonomie oft auch Marktökonomie verkürzt wird.12

Von diesem erweiterten Verständnis von Ökonomie auszugehen ist bereits eine ethische Entscheidung:

Eine implizite Ethik liegt auch darin, womit sich ökonomisches Denken befasst und womit nicht, was unter Ökonomie (nur die Lehre von der Marktwirtschaft oder auch von der Sozial- und Hauswirtschaft) und was unter Arbeit (nur bezahlte oder auch unbezahlte Haus-, Sorge- und Freiwilligenarbeit) verstanden wird.13

Beide Unterbereiche, Marktökonomie wie Versorgungsökonomie, sind untrennbar aufeinander bezogen und miteinander verwoben:

In der Marktwirtschaft dominiert die Marktlogik und in der Hauswirtschaft die Versorgungslogik, aber diese je in einem Teil der Wirtschaft dominierenden Logiken sind auch in den jeweils anderen Bereich wirksam. Wann welche Logik in welchem Ausmaß zum Tragen kommen soll und wo Grenzen zu setzen sind, wäre ein wichtiges Thema einer geschlechterbewussten Ordnungsethik.14

Denn schon rein zahlenmäßig wird unbezahlte Haus- und Sorgearbeit in erheblichem Umfang mehr von Frauen als von Männern ausgeübt. Aus diesem Blickwinkel der Realwirtschaft folgt:

Die Kategorie Geschlecht ist in der (Wirtschaftswissenschaft immer implizit präsent und zwar so lange, wie Gesellschaften zwischen Männer und Frauen unterscheiden und damit sozialökonomische Ungerechtigkeiten verbunden sind.15

So erst werden Verlagerungsprozesse sichtbar, die erst dann in den Blick kommen, wenn der Ökonomiebegriff auf das „Ganze des Wirtschaftens“ ausgeweitet wird:

Wenn aus bezahlter Arbeit unbezahlte Arbeit wird, sinkt das Volkseinkommen, ohne dass sich realwirtschaftlich gesehen etwas ändert, weil ja nicht mehr oder weniger geleistet wird. Heute haben wir es tendenziell stärker mit dem umgekehrten Fall zu tun, dass unbezahlte Hausarbeit zunehmend gegen Bezahlung geleistet wird, wodurch Wachstum ausgewiesen wird, das realwirtschaftlich betrachtet gar nicht stattgefunden habe – ein Effekt, den ich an anderer stelle ‚Pseudowachstum‘ genannt habe.16

Aus der übergeordneten Perspektive der Realwirtschaft werden die Unterschiede zwischen Männern und Frauen sichtbar und es ist daher notwendig, dass künftig

weder vom homo oeconomicus noch vom Wirtschaftsbürger als geschlechtsneutralen Wirtschaftssubjekten ausgegangen wird, sondern von Männer und Frauen, Jungen und Mädchen in den verschiedenen Lebensphasen, nicht nur als erwerbstätige Erwachsene.17

Geschlechterbewusste Wirtschaftsethik weitet also den Blick über die monetarisierten, also in Geld aufgewogenen und durch Geld entlohnten Tätigkeiten hinaus und bezieht die unbezahlten Tätigkeiten der Versorgungsökonomie ein. Realwirtschaft umfasst Haushaltsökonomie und Marktökonomie, die ungleichen Verteilungen und die daraus folgenden Ungerechtigkeiten zwischen Männern und Frauen kommen nicht nur in den Blick, sondern werden grundsätzlich differenzierend in alle Überlegungen einbezogen.

3 Ökosoziale Marktwirtschaft und der Mainstream in der Ökonomie

Die Denkschrift ist ein Konsenspapier einer heterogen zusammengesetzten Kammer. Pointierte Formulierungen und klare Positionsbestimmungen können von ihr nicht unbedingt erwartet werden. Daher macht es aus meiner Sicht wenig Sinn, die Denkschrift noch weiter zu analysieren. Es wurde ja bereits deutlich, dass es hier Spannungen und Widersprüche gibt, manches Argument nicht durchgehend zu Ende gedacht und formuliert wurde.18

Nun bekennt sich die Denkschrift der EKD zur „Ökosozialen Marktwirtschaft“.19 Im deutschen Sprachraum ist diese vor allem mit Franz-Josef Radermacher verbunden. Um es vorwegzunehmen: Weder in seinen Büchern noch auf den einschlägigen Websiten habe ich auch nur einen Text gefunden, der sich dezidiert der unterschiedlichen Perspektive von Frauen und Männern in der Ökonomie widmet. Das legt nahe, dass auch die Ökosozialen Marktwirtschaft die von Knobloch konstatierte Ausblendung des ökonomischen Mainstream übernimmt. Kann es sein, dass die Verfasser/-innen der Denkschrift ihr hier unbewusst folgen?

Sinnvoll scheint mir daher, die Grundgedanken der Ökosozialen Marktwirtschaft darauf hin zu untersuchen, warum Männer und Frauen dort in ihrer Unterschiedlichkeit ausgeblendet werden. Dies soll am Buch „Welt mit Zukunft“ von Franz-Josef Radermacher und seinem Co-Autor Bert Beyers geschehen.

a) Zwei universelle ethische Prinzipien

Die Autoren nehmen ihren Ausgangspunkt bei zwei universellen ethische Prinzipien, die aus der Goldenen Regel folgen:

1. Erhalt der Umwelt. Der Mensch muss mit der Welt so umgehen, dass sie für zukünftige Generationen bewohnbar bleibt und deren Bedürfnisse erfüllt. 2. Würde des Menschen. Die Würde aller Menschen ist zu sichern. Niemand darf das Objekt des Willens eines anderen sein.20

b) Nachhaltigkeit

Daraus ergibt sich grundlegend die Forderung auf Nachhaltigkeit:

Eine Gesellschaft und mit ihr die zugehörige Wirtschaftsordnung können als nachhaltig bezeichnet werden, wenn für alle Menschen ein erfülltes Leben frei von materieller Not und Frieden miteinander und mit der Natur erreicht und für nachfolgende Generationen eine Zukunft mit ähnlichen oder gar besseren Perspektiven gesichert werden kann.21

c) Markt und Nachhaltigkeit = ökosozial

Dabei sind Markt und Nachhaltigkeit gleichzeitig möglich – jede Marktwirtschaft, die dies leistet, heißt ökosozial. Von solcher Ausrichtung der Weltwirtschaft sind wir allerdings weit entfernt, die Menschheit lebt weit über ihre gegenwärtigen und zukünftigen Verhältnisse. Dies beschreiben die Autoren an vielen Stellen.

d) Globaler Wohlstand durch Nachhaltigkeit

Als Zielperspektive fordert die Ökosoziale Marktwirtschaft, dass Markt und Nachhaltigkeit weltweit für heutige und künftige Generationen realisiert werden sollen. Dafür braucht es Lösungen für die Versorgung von zehn Milliarden Menschen im Jahr 2050 mit Nahrungsmitteln und Energie, solche Lösungen können nur mit striktem Umweltschutz realisiert werden.

e) Rolle der Innovationen

Um diese Ziele zu erreichen, setzt die Ökosoziale Marktwirtschaft auf Innovationen, die der Wettbewerb ermöglicht:

Das Potenzial des Marktes, Innovationen hervorzubringen, ist eine der Hauptmotivationen für eine konsequente Marktorientierung.22

Das ist ihre Hoffnung: Aus der drastischen Zunahme der Bevölkerung und den Möglichkeiten, welche die rasant ausbreitenden Digitalisierung eröffnet, ergeben sich ungeahnte und neuartige Potentiale für den „Superorganismus Mensch“23 – dieser steht allerdings zugleich neuen und dramatischen Herausforderungen gegenüber.

f) Homo oeconomicus cooperativus

Dabei grenzt sich die Ökosoziale Marktwirtschaft vom Menschenbild des Marktfundamentalismus ab. Sie verwirft das „realitätsfremde Konstrukt des Homo oeconomicus“, der nur seinen eigenen Interessen folgt. Statt dessen geht sie vom Menschenbild des Homo oeconomicus cooperativus aus, das der realen Erfahrung von Menschen beim Kaufen und Tauschen deutlich näher kommt.

g) Wachstum auf der Grundlage von Kooperation und Intelligenz

Die Ökosoziale Marktwirtschaft setzt daher auf Wachstum, allerdings nicht auf der Grundlage von Ressourcenplünderung, sondern auf der Basis von Intelligenz und Kooperation, um so Wohlstand zu generieren. Allerdings ist dieser künftige Wohlstand

ein fundamental anderer als der heutige, auch die Lebensstile sind ganz anders – stärker suffizienzbestimmt – als heute: Konsequenter Umwelt- und Ressourcenschutz steht an erster Stelle zusammen mit sozialer Balance und kulturellem Miteinander, erst danach kommt das Wachstum.24

h) Weltweite Ordnungspolitik

Um diese Lösungen anstreben und umsetzen zu können, spricht sich die Ökosoziale Marktwirtschaft für eine entschiedene Ordnungspolitik aus (und zwar weltweit) und grenzt sich dazu entscheidend vom Marktfundamentalismus ab. Sie verwirft dessen Hoffnung, „der Markt wird es schon richten“ und Wohlstand von alleine schaffen, wenn er möglichst „frei“ agieren kann. Im Gegenteil, um Wohlstand für alle (!) generieren zu können, ist ein Regelwerk notwendig, denn:

Wettbewerb sogt für Effizienz, Rahmenbedingungen dagegen bringen Effektivität, führen also dazu, dass angestrebte Ziele erreicht werden. Auf diese Weise werden wichtige ethische und gesellschaftliche Anliegen einer Gesellschaft – soziale, ökologische und kulturelle – in die ökonomischen Prozesse inkorporiert. (…) Vom Prinzip her sind die Rahmenbedingungen deshalb wichtiger als der Wettbewerb .Der Wettbewerb ist (…) der einfachere Faktor, denn er wirkt unter allen Rahmenbedingungen und sorgt für gute Einsatz-Nutzen-Verhältnisse und damit für Effizienz. Aber was am Ende dabei herauskommt, wird im Wesentlichen durch die Regelwerke bestimmt.25

i) Globale Verträge und Programme

Die Ökosoziale Marktwirtschaft setzt sich daher für einen umfassenden Weltklimavertrag genauso ein wie für einen „Global Marshall Plan“. Jeglicher ungeregelte Freihandel wird abgelehnt. Ebenso wesentlich ist die faire Besteuerung aller Wertschöpfungsprozesse. Auf dieser Basis sehen die Autoren gute (aber keineswegs einfache!) Chancen, die anstehenden Herausforderungen in den nächsten Jahrzehnten zu bewältigen. Gelingt dies nicht, steigt entweder die Gefahr des Kollaps dramatisch an oder die „Brasilianisierung“ schreitet weiter fort.

j) Offene Struktur

Die Ökosoziale Marktwirtschaft versteht sich als offene Struktur, die viele Traditionen und Positionen unter einem Dach vereinigt. Einige Männer und Frauen werden exemplarisch genannt. In dieser Liste taucht auch Vananda Shiva auf, die sich für die Entwicklung eines Ökofeminismus einsetzt:

Frauen und Natur wurden durch die industrielle Revolution auf ihre Rolle als Lieferanten von menschlichem und natürlichem Rohmaterial reduziert.26

4 Blick aus der Meta-Position und dessen Folgen

Am zuletzt genannten Zitat von Vananda Shiva zeigt sich in einem Satz das ganze Dilemma einer geschlechtsneutralen Betrachtung. Noch viel deutlicher wird dies, wenn ich einen älteren Text heranziehe, den Shiva zusammen mit Maria Mies bereits 1995 veröffentlicht hat. Dort geht es um die Hintergründe der Bevölkerungsexplosion insbesondere in den Ländern des Südens. Mies und Shiva zeigen auf, wie die Frauen des Südens systematisch für die Bevölkerungsentwicklung verantwortlich gemacht werden, einfach, weil sie zu viele Kinder bekommen. Dies „erlaubt“ Zwangsmaßnahmen vielfältiger Art (bis hin zur Koppelung von Krediten an Empfängnisverhütung). Gleichzeitig streichen allerdings Pharmaunternehmen im Norden erhebliche Gewinne für Verhütungsmittel ein. Unberechtigt, verweisen doch die Verfasserinnen darauf, dass die Kenntnisse über Empfängnisverhütung immer schon bei Frauen vorhanden waren – und die dramatische Zunahme der Bevölkerung „zufälligerweise“ mit der Zerstörung von Lebensgrundlagen durch Kolonialismus und Entwicklungsmodelle westlicher Natur beginnt. Heute werden faktisch Frauen des Südens für die rasante Zunahme der Bevölkerung und die damit einhergehenden Folgen verantwortlich gemacht, während die ressourcenverschlingende Wachstumsideologie des Nordens ausgeblendet wird. Ausgeblendet wird zugleich, dass die bisherigen Programme offenbar auch nicht leisten, wofür sie antreten und durchgesetzt wurden (z.B. durch den IWF):

Wenn eine strikte Bevölkerungspolitik tatsächlich der Armutsbekämpfung dient, warum sind dann bloß diejenigen Länder Lateinamerikas, in denen 80 Prozent der Frauen sterilisiert wurden, ärmer und elender als je zuvor?27

Ich bin mir sicher, zwanzig Jahre nach Abfassung dieses Textes hat sich hier wenig geändert, höchstens zum Schlechteren. Alle Programme, die mit Zwangsmaßnahmen verbunden sind, stellen eine Verletzung der Würde von Frauen dar – und ich erinnere daran, dass die Würde des Menschen eines der beiden von der Ökosozialen Marktwirtschaft als zentral angesehenen universalen ethischen Prinzipien genannt wurde. Zugleich beschädigen aber auch Männer ihre eigene Würde auf diese Weise, weil sie sich von entscheidenden Teilen von Arbeit und Wirtschaft(en) abschneiden. Eine geschlechtsbewusste Sichtweise gilt es daher auch für sie zu entwickeln:

Nur wenn Männer tatsächlich die Sorge für Kinder, Alte, Kranke und die Natur mitübernehmen, wenn sie erkennen, dass diese lebenserhaltende Subsistenzarbeit wichtiger als die Arbeit für Geld ist, werden sie in der Lage sein, ein verantwortungsbewusstes, fürsorgliches, erotisches Verhältnis zu ihren PartnerInnen zu entwickeln, egal ob Mann oder Frau.28

Die Würde von Frauen und Männern ist also aus dieser Sicht nur aus einer geschlechterbewussten Perspektive für beide zu achten, weil unterschiedliche Herausforderungen bestehen. Mit der übergeordneten Kategorie „Mensch“ ist Würde also weder für Frauen noch für Männer angemessen zu verwirklichen, die Benachteiligungen für beide Geschlechter werden fortgeschrieben oder nur in Teilbereichen in den Blick genommen.

Die Ökosoziale Marktwirtschaft diskutiert ihren Ansatz nicht unter einer geschlechterdifferenzierenden Perspektive, ist aber „offen“ für diese Perspektive, das zeigt die Einbeziehung von Vananda Shiva und den von ihr vertretenen Ökofeminismus. Gerade an der unterschiedlichen Sichtweise auf die Hintergründe der Bevölkerungsentwicklung zeigt sich aber, dass es mit der „offenen Struktur“ allein nicht getan ist, weil dieser vornehmlich daran gelegen ist, auch einander widersprechende Ansätze unter einen Hut zu bringen. Verständlich einerseits angesichts der Herausforderungen, vor der „die Menschheit“ in den nächsten Jahrzehnten steht. Das Beispiel der Bevölkerungsentwicklung macht aber sichtbar, dass es kategoriale Unterschiede zwischen einem „Typus“ Mensch und einer konsequent geschlechterbewussten Sichtweise auf wirtschaftliche Prozesse gibt, die sich nicht subsumieren lassen, ohne am Kern vorbeizugehen. So werden mögliche Lösungen zu eng gedacht, weil eine Hälfte der Menschheit ausgeblendet wird und zugleich sich vornehmlich mit ihr verbindenden Versorgungsökonomie außen vor bleibt. Beide Phänomene gehören untrennbar zusammen.

Ist die offene Struktur ein Versuch, mit dem Mainstream ins Gespräch zu kommen, auf Augenhöhe mit ihm zu diskutieren? Global, nachhaltig, klare Regeln – die Herausforderungen der Überbevölkerung und der Umweltkrisen sind so immens, dass von der Ökosozialen Marktwirtschaft eine Meta-Position eingenommen wird. Die Wirtschaftssubjekte sind nicht im Blick, weder Menschen, schon gar nicht Männer und Frauen. Ihr Feindbild ist der Marktradikalismus, welcher Wohlstand erwartet durch stets weitgehende De-Regulierung. In dieser Logik des Marktes existiert auch keine Notwendigkeit, eine spezifisch nach Geschlechtern differenzierende Position einzunehmen – denn die Antwort lautet, wie immer: Auch dieses Problem, wenn überhaupt vorhanden, wird der Markt am besten regeln können. Es ist erstaunlich, dass die Kritiker/-innen des Marktfundamentalismus nicht gerade hier ansetzen – soweit zu sehen ist, hat doch der freie Markt in den letzten Jahrzehnten die Lebensbedingungen von Frauen gegenüber Männern nicht zum Vorteil entwickelt.

Die Ökosoziale Marktwirtschaft nimmt, bildlich gesprochen, einen so „hohen“ Blickwinkel ein, dass die Individuen als Wirtschaftssubjekte aus dem Blick geraten. Auch Arbeit wird nirgends definiert und beschrieben, es geht immer nur um ökonomische Prozesse. So steht die Ökosoziale Marktwirtschaft gemeinsam mit der Mainstream-Ökonomie weit „oberhalb“ der Versorgungsökonomie. Dazu schreibt Adelheid Biesecker:

Wenn heute im alltäglichen Leben über Ökonomie gesprochen oder in der Zeitung geschrieben wird, so geht es vor allem um Märkte, um Preise, um Wettbewerb. So spiegelt sich im Alltag wider, was durch wirtschaftstheoretische Modelle und wirtschaftliche Praxis über mehr als 200 Jahre herausgebildet und gesellschaftlich gestaltet wurde: Ökonomie verstanden als Marktökonomie, losgelöst von sozialen und ökologischen Zusammenhängen, autonom. Aber moderne Ökonomie ist mehr, ist – so lautet meine These – von vornherein eine Zwillingsgeburt, die Geburt zweieiiger, zweigeschlechtlicher Zwillinge: der männlich geprägten Marktökonomie und der weiblichen Versorgungs- oder Care-Ökonomie. In den wirtschaftstheoretischen Blick ist jedoch nur der eine Teil geraten – die Marktökonomie, als Einzelkind.29

Dabei ist positiv festzuhalten, dass die Ökosoziale Marktwirtschaft Ziele und Werte jenseits des Eigeninteresses beschreibt. Es gibt die klare Ansage, dass heutiges Wirtschaften eben weitgehend nicht nachhaltig ist und vielfach heute und vermutlich noch viel mehr morgen keineswegs zu mehr Wohlstand führt. Allerdings wird an keiner Stelle die Versorgungsökonomie in ihrer Bedeutung für die Versorgung gewürdigt. Und das bei dem klaren Blick, dass die Versorgung der wachsenden Weltbevölkerung eine wesentliche Herausforderung darstellt!30 Die „offene Struktur“ (ver-) führt zu einem Meta-Blick, der sich am ökonomischen Mainstream orientiert und systematisch eine Hälfte der Menschheit ausblendet und zugleich eine Hälfte der Wirtschaft übersieht. Umgekehrt eröffnet die offene Struktur aber die Einzeichnung dieser Linie, d.h., das Programm der Ökosozialen Marktwirtschaft ist sehr wohl geschlechterbewusst durchführbar, wie allein das Beispiel von Vananda Shiva zeigt.

Die Ökosoziale Marktwirtschaft nimmt Wirtschaftssubjekte als geschlechtsneutrale Wesen wahr, als Menschen, und Mensch ist Mann. Auch sie formuliert wie die Denkschrift im generischen Maskulinum. Doch dieser „Typus“ differenziert nicht durchgängig in allen Fragestellungen zwischen Frauen und Männern und berücksichtigt nicht deren je spezifische Sichtweise. Wie bedeutsam dies ist, lässt sich an der Tatsache ablesen, welche in den Studien zum generischen Maskulinum nachgewiesen werden konnte: Wer Mensch sagt, hat meist eher einen Mann vor Augen als eine Frau oder beide Geschlechter.31

5 Die zweite Hälfte des Weges

Die Denkschrift bekennt sich zur Ökosozialen Marktwirtschaft. Im Text lässt sich dies vor allem an der immer wieder auftauchenden Forderung nach einer Ordnungspolitik ablesen (15, 59f., 119), aber auch andere Eckpfeiler der Ökosozialen Marktwirtschaft tauchen auf: Erhalt der Umwelt (14), Nachhaltigkeit (14), Kooperation (21). Allerdings liegt der Schwerpunkt des Textes auf dem Arbeitsbegriff und ist keine Erörterung einer gewünschten, geforderten, wahrgenommenen Ökonomie im Ganzen.32 Dazu verweist die Denkschrift ausdrücklich auf den 2009 erschienenen Text: „Wie ein Riss in hoher Mauer“, den der Rat der EKD seinerzeit zur Finanzkrise veröffentlichte. Bevor sich der Text dezidiert den Finanzmärkten zuwendet, heißt es in einleitenden, sozialethischen Thesen:

Konjunkturprogramme sind vorrangig am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung auszurichten.

Das Konzept der klassischen Sozialen Marktwirtschaft bedarf der Erweiterung zu einer sozial, ökologisch und global verpflichteten Marktwirtschaft.

Der Staat bzw. supranationale Organisationen haben die unvertretbare Aufgabe, wirksame Rahmenordnungen für die Märkte zu etablieren. Globale Institutionen wie die Vereinten Nationen sowie IWF und Weltbank müssen auf eine verbesserte Legitimationsgrundlage gestellt und in der Effektivität ihrer Arbeit gestärkt werden.33

Noch einmal: Die Denkschrift nimmt aus sozialethischer Perspektive viele richtige Aspekte auf.34 Sie übersieht die Versorgungsökonomie nicht, aber Care-Ökonomie und Frauen werden eher additiv betrachtet statt grundsätzlich einbezogen. Indem so die Überordnung der Realwirtschaft und die Geschlechterdifferenz nicht durchgängig bedacht werden, bleibt die Denkschrift auf halbem Weg stehen.

Was folgt daraus? Ein geschlechtsbewusster Ansatz macht deutlich: Es gilt eine Balance herzustellen, eine Balance zwischen Versorgungsökonomie und Marktökonomie. Pikanterweise ist es auch hier dazu notwendig, einen „höheren“ Standpunkt einzunehmen und von der Realwirtschaft als umfassenden Wirtschaftsbegriff auszugehen. Um diese Balance zu verwirklichen bedarf es, sich im ökonomischen Diskurs vermehrt und entschieden aus dieser Perspektive der Versorgungsökonomie zuzuwenden, um den notwendigen „Ausgleich“ zu schaffen. Knobloch spricht daher zu Recht von der herausragenden Bedeutung des Versorgungsprinzips:

Die Orientierung an der zukunftsfähigen Versorgung aller Menschen erscheint als eine der erweiterten Ökonomie angemessenen Aufgabe und zwar als menschenwürdige Versorgung und Selbstversorgung aller Menschen weltweit. Dadurch rückt die Beschäftigung mit der (…) Versorgung in den Mittelpunkt der Ökonomie und zwar nicht nur im eigenen Land.35

Diese Formulierung unterschreibt sicher auch die Ökosoziale Marktwirtschaft, die immer wieder die Frage nach der weltweiten Versorgung mit Grundgütern stellt. Allerdings gilt es nun auch für sie, die Realwirtschaft als übergeordneten Standpunkt einzunehmen. Die Vernachlässigung und Geringschätzung der (unbezahlten, vorwiegend von Frauen ausgeübten) Care-Tätigkeiten in den „westlichen Industriestaaten“ verlangt nach einer anderen Wahrnehmung und Wertschätzung. Versorgungsökonomie kann die Probleme der Welt nicht lösen, Marktökonomie allein aber auch nicht. Versorgung ist allerdings die Basis menschlichen Lebens, Ausgangspunkt und Ziel gleichermaßen. Im 2014 veröffentlichten Care-Manifest heißt es:

Wir wollen Fürsorglichkeit und Beziehungsarbeit neu bewerten, unabhängig von traditionellen Geschlechterbildern. Im Zentrum einer fürsorglichen Praxis steht privat wie professionell die Beziehungsqualität. Menschen sind aufeinander angewiesen und brauchen persönliche Beziehungen. Care stiftet damit individuelle Identität und schafft gemeinschaftlichen Zusammenhalt. Wir brauchen eine neue gesellschaftliche Kultur, in der die Sorge für sich und andere einen eigenständigen Stellenwert bekommt, unabhängig davon, ob eigene Kinder oder Eltern zu versorgen sind. Wir brauchen neue Wege der Bereitstellung, Anerkennung, Aufwertung und Bezahlung wie auch der gesellschaftlichen Organisation von Care-Arbeit auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene.36

Auf der anderen Seite ist der Ökosozialen Marktwirtschaft Recht zugeben, dass vermutlich die Innovationskraft in den Industriestaaten am ehesten geeignet ist, die technologischen Entwicklungen hervorzubringen, die eine nachhaltige Entwicklung auf unserem Planeten ermöglicht. Zu solch einer nachhaltigen, Wohlstand generierenden Entwicklung gilt es aber die Versorgungsökonomie mit zu berücksichtigen, um die angestrebte und nötige Balance zwischen Markt- und Versorgungsökonomie zu erreichen, zugleich die Benachteiligungen von Frauen zu bekämpfen – und auch die beschädigte Würde von Männern heilen zu können.

Der grundsätzlich „optimistische“ Blick, dass eine solche Entwicklung möglich ist, stellt die Ökosoziale Marktwirtschaft in die Nähe einer biblisch fundierten Theologie, die – trotz allem – aus der Hoffnung lebt. Die künftige Versorgung aller Menschen mit Nahrungsmitteln und Energie ist ohne Innovation nicht denkbar – und Innovation lässt sich in einer Marktökonomie eher erwarten und organisieren als in einer Versorgungsökonomie. Von daher bekennt sich die Denkschrift der EKD zu Recht zur Ökosozialen Marktwirtschaft.

Solidarität und Selbstbestimmung, diese beiden Worte bilden die inhaltliche Klammer, mit der die Denkschrift auf die Arbeit von Menschen, von Frauen und Männern blickt. Beide Leitbegriffe sind angesichts der Herausforderungen nur angemessen zu beschreiben, wenn durchgängig geschlechtsbewusst gedacht und argumentiert wird. Die Arbeitsdenkschrift schaut in die richtige Richtung, lässt sich aber vom ökonomischen Mainstream blenden und übersieht so entscheidend die durchgehenden Differenzen der Geschlechter in der Ökonomie. „Wertschöpfung durch Wertschätzung“ – diesem Grundsatz sieht sich die Denkschrift verpflichtet und sieht hier den Grundgedanken christlicher Arbeitsethik auf den Punkt gebracht.37 Es spricht nichts dagegen, aber alles dafür, diesen Grundgedanken von einem umfassenden Standort der Realwirtschaft geschlechtsbewusst zu vertreten und (weiter) zu entwickeln.

6 Ein Schritt auf diesem Weg: Drecksarbeit wahrnehmen und wertschätzen

An einem Beispiel möchte ich diesen Ansatz abschließend vertiefen.

Geschlechterbewusste Wirtschaftsethik fragt,

wer überhaupt Wirtschaftsakteur ist (und wer nicht) und welche Organisation als wirtschaftlich relevant angesehen werden (und welche nicht). Interessiert das Handeln und Entscheiden eines ambulanten Pflegedienstes ebenso wie das von Großunternehmen?38

Wirtschaftlich relevant heißt wichtig, und wichtig heißt bedeutsam. Hier geht es um Wertentscheidungen. Die Abwertung der Versorgungsökonomie und die Ausblendung vorwiegend weiblicher, unbezahlter Arbeit ist solch eine Wertentscheidung. „Man(n)“ übersieht die Hälfte der Realwirtschaft. Ein solch undifferenzierender Blick nimmt die ungleiche Lastenverteilung und die damit verbundenen Benachteiligungen nicht wahr. Das führt zum Beispiel zu folgender Situation:

Führungspositionen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik sind schwer zu erreichen, wenn man von der unbezahlten Arbeit nicht entlastet wird. Schon allein die mit diesen Stellen direkt verbundenen Aufgaben sind von einer Person während der normalen Arbeitszeit nicht zu bewältigen. Ich bezeichne diese Positionen deshalb als ‚No-jobs-for-one-alone‘. Am unteren Ende der Gehaltsskala befinden sich dagegen häufig Personen, die neben der bezahlten Arbeit auch einen Großteil der unbezahlten Arbeit selbst verrichten (wollen oder müssen).39

Jobs, die von einer Frau, einem Mann nicht zu bewältigen sind, zwingen dazu, zwischen wichtigen und weniger wichtigen Aufgaben zu unterscheiden und letztere auszulagern. Dies gilt insbesondere für die „Drecksarbeiten“ – aus Zeitgründen, und/oder weil man es sich leisten kann. Sie werden durchaus auch monetarisiert, aber schlecht bezahlt. Dann zumeist von Frauen geleistet, oft außerhalb des Sozialversicherungsbereichs. Nicht umsonst ist eine der häufigsten Fragen, welche Befürworter/-innen des Bedingungslosen Grundeinkommens gestellt werden: „Wer macht denn dann noch den Dreck weg!?“ Nun, zur Zeit sind es die Benachteiligten, die dies nicht oder schlecht bezahlt tun. Reinigungsarbeiten sind unbeliebt und werden gern ausgelagert, versteckt. Für manch eine, einen ist es unter der eigenen Würde (!), ein Klo oder das Treppenhaus zu putzen. So werden diese Arbeiten geleistet von denen, die keine andere Erwerbsarbeit erhalten – oder sich keine „Putzfrau“ leisten können. Dreck beseitigen steht am unteren Ende der Skala. Das ist eine Folge der Bewertung. Dazu Ina Praetorius:

Tätigkeiten, die sich mit der Verarbeitung oder Entsorgung von Scheiße und anderen zuweilen als unangenehm oder ekelhaft empfundenen Stoffen – Urin, Leichen, Erde, Dung, Müll… – befassen, (sind) nicht nur ein notwendiger, sondern ein zentraler Teil der Ökonomie. Wenn die Müllabfuhr oder die Reinigungsdienste ausfallen, wenn Landwirte oder Frauen streiken (…), wird dies schlagartig augenfällig. Sobald sich die Ökonomie wieder um ihre selbstdefinierte Mitte organisiert, muss sie Dreckarbeit und Scheiß-Jobs daher ausdrücklich in ihren Gegenstandsbereich einbeziehen, unabhängig davon, wer sie wann wo und unter welchen Bedingungen verrichtet und ob sie in den Geldkreislauf einbezogen sind oder nicht. (…) Dass es an diesem Punkt, an dem es darum geht, die Abhängigkeit aller von der Entsorgung und Verarbeitung ‚ekliger‘ Stoffe systematisch zu reflektieren, einer Provokation und, zumindest für eine gewisse Zeit, einer deutlichen Schwerpunktsetzung bedarf, erscheint mir plausibel.40

Literatur

Biesecker, A. 2010: Der weibliche Zwilling der Ökonomie.  Online: Download bei der Böllstiftung

Caremanifest 2014: Online: http://care-macht-mehr.com/

Knobloch, U. 2011: Ökonomie der bezahlten und unbezahlten Arbeit – Methode, Gegenstandsbereich, Handlungsmodell, Newsletter Studienbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit, Schwerpunkt Genderforschung, Nr. 9, November 2011, S.7-11. Online: Download des Newsletter

Knobloch, U. 2015: Kritische Wirtschaftsethik aus Genderperspektive. In: Beschorner, T./Ulrich, P./Wettstein, F. (Hrsg.): St. Galler Wirtschaftsethik. Programmatik, Positionen, Perspektiven, Marburg, S. 263-282

Mies, M./Shiva, V. 1995: Menschen oder Bevölkerung: Für eine neue Ökologie der menschlichen Reproduktion, Bevölkerung, Umwelt und Menschen, in: Mies, M./Shiva, V.: Ökofeminismus. Beitrage zur Praxis und Theorie, Zürich

Praetorius, I. 2015: Wirtschaft ist Care oder: Die Wiederentdeckung des Selbstverständlichen, Heinrich Böll Stiftung Schriften zu Wirtschaft und Soziales Band 16, Berlin. Online: Download bei der Böllstiftung

Radermacher, F.-J./Beyers, B. 2011: Welt mit Zukunft. Die ökosoziale Perspektive, Hamburg

Rat der EKD 2010: Wie ein Riss in einer hohen Mauer. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt und Wirtschaftskrise, EKD Texte 100

Rat der EKD 2015: Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Arbeit, Sozialpartnerschaften und Gewerkschaften, Gütersloh

Anmerkungen

1 Rat der EKD 2015, 17 Anm. 1

2 Rat der EKD 2015, 30. Es stellt sich natürlich sofort die Frage, ob dies nur für Arbeitnehmer/-innen in den personennahen Dienstleistungen gilt…

3 Rat der EKD 2015, 65-67. Vgl. 42. Es gibt auch einen Abschnitt „Haus- und Sorgearbeit“ (4.2.1.3). Obwohl dort davon die Rede ist, dass diese Tätigkeiten „für das Leben der Menschen fundamental sind“ und sie dennoch deutlich niedriger bewertet werden als „produzierende Tätigkeiten“, ist in diesem Abschnitt nur vom Typus „Mensch“ die Rede.

4 Rat der EKD 2015, 45

5 Rat der EKD 2015, 58

6 Rat der EKD 2015, 77

7 Rat der EKD 2015, 110

8 Rat der EKD 2015, 112

9 Knobloch 2015, 267

10 Knobloch 2015, 276

11 Damit steht sie nicht allein. So spricht z.B. Adelheid Biesecker „vom Ganzen der Ökonomie“: „Neben der Marktökonomie taucht jetzt die Care-Ökonomie als essentieller Teil des Ökonomischen auf. Deutlich wird: Bisher wurde die Geburt der modernen Ökonomie als Ein-Kind-Geburt betrachtet – es ist aber eine Zwillingsgeburt! Der bisher als Einzelkind betrachtete Markt steht jetzt da als männlicher Zwilling, dem vom ersten Lebenstag an ein weiblicher Zwilling zur Seite steht. Damit wird auch die geschlechtshierarchische Strukturierung der ganzen Ökonomie deutlich, die oben schon angesprochen wurde. Männer managen oben, Frauen sorgen unten – diese Struktur kann erkannt, dekonstruiert und geschlechtergerecht und sozial und ökologisch verantwortlich neu geordnet werden. Diese Neuordnung, diese notwendige Neuerfindung des Ökonomischen‘ beginnt mit dem Studium der neu entdeckten Zwillingsschwester – der Care-Ökonomie.“ (Biesecker 2011, 2f.)

Ina Praetorius geht noch einen Schritt weiter und möchte Ökonomie von einem „erweiterten Care-Begriff“ her neu verstehen: Dies bedeutet „dem anerkannten Kriterium, demzufolge als Ökonomie nur gilt, was menschliche Bedürfnisse befriedigt, wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Geld- und marktvermittelte Tauschgeschäfte werden dadurch nicht ausgeschlossen, bilden aber nicht mehr die Mitte der Ökonomie. Sie werden auf die ihnen in der aristotelischen Weltkonstruktion zu Recht zugeschriebene zweitrangige Funktion einer Verteilung von Überschüssen zurückgebunden und müssen sich neu systematisch an der Frage messen lassen, ob sie tatsächlich leisten, was sie zu leisten vorgeben.“ (Praetorius 2015, 51)

12 Knobloch 2015, 271

13 Knobloch 2015, 271

14 Knobloch 2015, 275

15 Knobloch 2015, 268

16 Knobloch 2015, 273

17 Knobloch 2015, 278f.

18 Nur ein Beispiel: Oben (Anm. 7) wurde bereits zitiert: „Die Zugewinne der Frauen übersetzen sich also noch nicht in eine insgesamt gendergerechte Verteilung der Arbeit.“ Noch nicht. Aber als Ziel wird es hier nebenbei formuliert, aber dann nicht durchgehend zur Sprache gebracht.

19 Rat der EKD 2015, 15 u. 133

20 Radermacher 2011, 214f.

21 Radermacher 2011, 14

22 Radermacher 2011, 16

23 Radermacher 2011, 72

24 Radermacher 2011, 20

25 Radermacher 2011, 194f.

26 Zitat bei Radermacher 2011, 281

27  Mies/Shiva 1995, 379

28 Mies/Shiva 1995, 386

29 Biesecker 2010, 1

30 Radermacher 2011, 33 und passim

31 Im Artikel „Generisches Maskulinum“ auf Wikipedia wird auf eine Fülle von entsprechenden Studien verwiesen. Oder anders ausgedrückt: „Zu keiner Zeit wurde gesellschaftliche Erkenntnis, die als allgemeingültig ausgegeben wurde, aus der Perspektive des Lebens von Frauen entwickelt.“ S. Harding, zitiert bei Knobloch 2015, 276

32 Auf einer Veranstaltung in Hannover zur Denkschrift wurde genau dies von einem Vertreter der Unternehmerverbände kritisiert und angemahnt. Er verwies auf die vorhergehenden Denkschrift zur Gerechten Teilhabe (2006) und die Unternehmerdenkschrift (2008) und forderte, die EKD möge sich nun auch gezielt mit ihrem Verständnis von Ökonomie auseinandersetzen.

33 EKD 2009, 7

34 Neben der grundlegenden Hochschätzung aller menschlichen Tätigkeiten als Arbeit ist es vor allem die Würdigung gewerkschaftlichen Engagements, welches die Denkschrift auszeichnet. Diese gipfelt in dem Satz: „Die Mitarbeit in den Gewerkschaften (ist) für christliche Arbeitnehmer wesentlicher Ausdruck ihres Berufs­ethos.“ (136)

35 Knobloch 2015, 78. Mögliche positive Folgen beschreibt Praetorius: „Die naturalisierten Menschengruppen, die der nur scheinbar funktionierenden Marktmechanik seit Jahrhunderten gratis und unsichtbar zuarbeiten, würden ausdrücklich als volkswirtschaftlich relevante Akteurinnen und als Träger von Menschenwürde im Vollsinn anerkannt. Dadurch würde sich viel berechtigte Aggression, Verbitterung und Resignation auflösen. Aufmerksamkeits- und Finanzströme könnten endlich dorthin gelenkt werden, wo tatsächlich menschliche Bedürfnisse im Sinne des guten Lebens aller, auch zukünftiger Generationen, befriedigt werden.“ (2015, 54)

36 Care-Manifest 2014

37 EKD 2015, 10

38 Knobloch 2015, 277

39 Knobloch 2011, 9

40 Praetorius 2015, 65f.

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