Ich lese grade das Buch: „Rechnet sich das?“ von Philipp Roscoe. Sehr interessant, es geht um die schleichende Ökonomisierung unseres Lebens, in immer weiteren Bereichen. Ein Gedanke hat sich grade eben in mir festgesetzt. Über das Bildungssystem an Universitäten schreibt er:
Als Leitprinzip für die Zufriedenheit der Studenten erweisen sich zufriedene Studenten, doch es ist unmöglich, einen zufriedenen Studenten etwas zu lehren. Stattdessen sollten wir uns unzufriedene Studenten wünschen, die durch das, was sie gelernt haben, aus dem Gleichgewicht geworfen worden sind und von innen her dazu getrieben werden, ihre vorgefassten Ansichten kritisch zu untersuchen. (…)
Die Verwandlung der akademischen Ausbildung in eine Ware hat viele Konsequenzen Nicht die geringste ist die Reduzierung eines gesellschaftlichen Gutes, das einen hohen intrinsischen Wert hat und ein wesentliches Element des menschlichen Gedeihens ist, auf einen instrumentellen, kurzfristigen Hebel für das persönliche Vorankommen. Diese außergewöhnliche, folgenschwere Transformation, ein tiefer Riss im Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit, wird durch ein ganz einfaches Instrument zusammengehalten: die Liste. (138f.)
Jetzt schießen mir Fragen durch den Kopf:
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Die „Liste“ entspricht dem Wahn, möglichst alles und jedes in ein Ranking zu bringen. Wann fangen wir in der Kirche damit an? Rankings der Beliebtheit von Pfarrer/-innen? Rankings im Blick auf die Energieeffizienz von Gemeinden? Oder im Blick auf den Einsatz von Kirchensteuermitteln? Ich bin gespannt, wie sich die Einführung von NKF (Neues kirchliches Finanzwesen) hier in den nächsten Jahren auswirkt. Theoretisch besteht die Möglichkeit, Kennzahlen zu erheben. Und damit ist das Tor offen für die Liste. Und unsere „Angebote“ werden dann als „Ware“ betrachtet …?!
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Die Ökonomisierung verwandelt unser Leben. Und es geht schleichend voran. Sie zwingt uns zur Anpassung. Immer mehr Menschen, das zeigt die einschlägige Literatur und entsprechende Websiten und Blogs, sind aber unzufrieden mit der außengesteuerten Weise, das Leben zu führen. Wo genau kommt der kritische Impuls her? Welche Erfahrungen reißen den Schleier weg und offenbaren das ganze Elend: mein Leben als ein Produkt meiner selbst zu verstehen, das ich in die Hand zu nehmen und am Markt zu platzieren habe? Was weckt die Unzufriedenheit?
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Wenn ich das weiterdenken: Sollte es nicht unser Ziel als Pfarrer/-innen auf der Kanzel sein, Unzufriedenheit zu schüren, damit etwas in Bewegung kommt? Das ist aber riskant, weil sich die provozierten Gemeindeglieder auch gegen mich wenden können und unzufrieden über mich sind … Und zwar, weil sie – wie wir alle – dieses Denk- und Handlungssystem schon tief verinnerlicht haben und wir an vielen Stellen gar nicht anders können, als uns unbewusst (!) so zu begegnen? Wir sehen: Menschen verlassen die Kirche(n), in Scharen, wie es eben in der Zeitung hieß. Vielleicht deswegen, weil Menschen auch von Kirche ein Produkt erwarten und enttäuscht sind, wenn sie das nicht bekommen? Anpassung kann aber nicht die Konsequenz sein, das wäre kaum evangeliumsgemäß. Was aber dann?
Vielen Dank für die Antwort, Herr Jung.
Wissen Sie, welcher Satz mich stört und vielleicht genau das ist, was ich im Kern meine?: „sondern stellt mich wieder vor die Frage, warum wir das nicht schaffen, so zu reden und zu wirken.“
Wer ist hier das „wir“ und wer bin dann ich für das „wir“?
Das stört mich auch, wenn Leute aus der Politik so reden: „wir müssen die Menschen mitnehmen und ihnen das und das besser erklären“ (damit sie sich beispielsweise nicht einer Bewegung wie Pegida anschließen). Als ob es unter den Leuten in der Politik solche Gedanken und Ansichten über Zuwanderung beispielsweise überhaupt nicht gäbe.
Ich würde Ihnen gern eine persönliche Frage stellen: wenn Sie selbst diesen Satz denken, was passiert dann mit Ihnen?: „Die Ökonomisierung zwingt mich zur Anpassung.“
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Hallo Frau Meier,
ich komme erst jetzt dazu, eine Antwort zu schreiben.
Das „Wir“ bezieht sich im engeren Sinn auf „uns Hauptamtliche“, die wir innerhalb der Kirche tätig sind. Natürlich im Zusammenspiel mit anderen, die hier dabei sind. Kirche hat einen bestimmten Auftrag, den Sie schön beschrieben haben und es gilt, diesen Auftrag umzusetzen.
Jetzt weiß ich nicht, in welchem Verhältnis Sie zur Kirche stehen. In Ihrer ersten Antwort klang es eher nach einem Gegenüber, einer gewissen Distanz. Vielleicht habe ich das aber falsch gehört. Auf jeden Fall: Wenn Sie das bei Kirche vermissen, finde ich das schade, weil ich glaube, dass diese Wunsch, diese Sehnsucht im Rahmen unserer Botschaft zu finden ist.
Ich meine das „wir“ jedenfalls nicht so platt wie manche Politiker daher reden, da sind nahe beieinander.
Die persönliche Frage, was passiert, wenn ich diesen Satz denke …
Ich schüttele den Kopf und denke, nein, so sehe ich das nicht. Er löst Widerspruch in mir aus.
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Ich denke momentan auch über dieses Thema nach. Weil es mich betrifft.
Es gibt aus meiner Sicht einen Konflikt, der sich bei mir auftut, der sich speist aus der Diskrepanz zwischen der Interaktion zwischen Menschen auf der einen Seite
und
Zeitvorgaben auf der anderen.
Also, wie Sie auch schreiben, ökonomische Zwänge, denen man ausgesetzt ist.
Zum Beispiel Ärzte – Patienten; Pflegekräfte – zu Pflegende; Kundenservicemitarbeiterinnen – Kunden; etc. pp.
Dennoch: meine Erfahrung und Überzeugung zeigen und vor allem: helfen! mir immer wieder: es ist nicht das Außen, was mich unzufrieden macht, aggressiv, o.ä. Es ist das, was ich darüber denke und was dadurch mit mir passiert.
Denn wenn ich denke: „ich werde zu etwas gezwungen“ oder „Jemand/etwas verfügt über mich“ oder „Ich bin fremdbestimmt“ – dann sind es diese Gedanken, die mir zu schaffen machen. Das ist das eine. Das andere ist: sie verhindern Lösungen. Sie verhindern, dass ich mich frei bewegen kann, um auf neue Ideen zu kommen.
Wenn ich wüsste, dass ich in der Kirche Hilfe zur Selbsthilfe erhalte – auf eine nicht schulmeisterliche Art und Weise – und wenn ich wüsste, dass mir mein Glaube gelassen wird, wie ich ihn habe – ohne ihn daran zu messen, ob ich die Bibel auswändig oder die alten Geschichten kenne, dann würde ich in der Kirche Schutz, Erholung, Zuflucht suchen, dann und wann. Wenn ich wüsste, ich finde dort Frieden und etwas Anderes, als das, was „draußen“ ist, dann würde ich gerne in die Kirche gehen.
Wenn Kirche ein Ort wäre, in dem das „Empört euch“ gelehrt wird oder verkündet wird, dann wäre mir das zu ideologisch. Ich mag keine Ideologien. Sie tun überhaupt nicht gut.
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Das Buch von Roscoe ist schon sehr harte Kost, weil er messerscharf und sehr in die Tiefe gehend aufzeigt, wie sich dieses ökonomische Denken in unser Leben geschlichen hat und in der Tendenz versucht, alles und jedes, aber wirklich auch jedes, in eine Ware zu verwandeln. Das vorgeführt zu bekommen, tut weh. Was ich damit mache, machen kann, keine Ahnung, bis jetzt. –
Das andere macht mich betroffen. Denn es sollte ja genau so sein, dass in der Kirche etwas anderes zu finden ist, als die Welt anbietet. Wenn Sie das nicht dort finden, ist das nicht nur sehr „schade“ (mir fällt grade kein passendes Wort ein), sondern stellt mich wieder vor die Frage, warum wir das nicht schaffen, so zu reden und zu wirken.
Allerdings gehört zu unserer Botschaft auch der Protest. Nicht im ideologischen Sinne, nein. Eher so: Dietrich Bonhoeffer hat einst geschrieben: Es reicht nicht aus, immer nur die zu verbinden, die unter die Räder gekommen sind, man muss auch mal dem Rad in die Speichen greifen. Er bezog das damals auf seine Beteiligung am Widerstand gegen Hitler, aber die Leitlinie gilt bis heute: Nur verbinden ist zu wenig. Dann beginnt natürlich erst, aber dem müssen wir uns stellen.
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