Vor der leeren Leinwand stehen

Vor einiger Zeit las ich Otto Scharmer´s Buch „Theorie U“. Ich fand es in vielerlei Hinsicht spannend und nachdenkenswert, aber in besonderer Weise bin ich am Bild des Künstlers, der Künstlerin hängengeblieben, der/die vor der leeren Leinwand steht.

Im Nachhinein bemerkenswert, weil sich dieses Bild  sofort in meinem Kopf festhakte, ich aber erst viel später ahnte, was Scharmer mit diesem Bild sagen möchte.

„Wir können uns auf das Ding konzentrieren, das aus einem kreativen Prozess hervorgeht – sagen wir, ein Bild;
– oder wir können uns auf den Prozess des Malens konzentrieren; oder
– wir können die Künstlerin beobachten, während sie vor einer leeren Leinwand steht.
Mit anderen Worten: Wir können ihr Werk ansehen, nachdem es geschaffen worden ist (das Ding), während sie es schafft (den Prozess) oder bevor der schöpferische Prozess einsetzt (die leere Leinwand oder die Dimension der Quelle).“ (Theorie U, 32)

Scharmer überträgt dieses Bild auf Entscheidungssiutationen und stellt fest, dass die inneren Quellen, von denen aus Einzelne oder Gruppen, wenn sie wahrnehmen, kommunizieren und handeln, selten bekannt sind. (33) Für Scharmer gibt es zwei Quellen des Lernens:

„Der erste Lerntyp, Lernen aus der Vergangenheit, ist gut bekannt und breit erforscht. Er ist die Basis aller heute bedeutsamen Lernmethoden (…) und Ansätze von Organisationslernen. (…) Manchmal (aber) sind die Erfahrungen der Vergangenheit sogar eher hinderlich für die Lösung aktueller Probleme. (…) Als ich dann nach und nach feststellte, dass diejenigen Führungskräfte (…) die mich am meisten beeindruckten, von einem anderen Kernprozess aus zu arbeiten schienen, von einem Prozess aus, der uns in entstehende Zukunftsmöglichkeiten hineinzieht, fragte ich mich: Wie können wir eine zukünftige Möglichkeit, die entstehen will, besser wahrnehmen und uns mit ihr verbinden? Ich nannte diese Wirkungsweise aus der entstehenden Zukunft heraus, während diese entsteht, Presencing. (…) Presencing heißt, sein eigenstes höchstes Zukunftspotential zu erspüren, sich hineinziehen zu lassen und dann von diesem Ort aus zu handeln.“ (34f)

Presencing geschieht für mich, in dem ich vor der leeren Leinwand stehe.

Ich weiß nicht, ob Scharmer diesem Satz so zustimmen würde, aber das ist mir auch egal, weil mich dieser Gedanke seither beschäftigt:

Vor der Leinwand stehen und leer werden, das Vergangene, aber auch das Zukünftige loswerden.

Letzteres überrascht vielleicht angesichts Scharmer´s Überlegungen. Ich meine damit, dass vielfach auch die Zukunft, das zukünftige Handeln, aus der Vergangenheit bestimmt ist oder die Erwartungen, Befürchtungen im Blick nach vorn bereits festgezurrt sind, quasi determiniert. Oder auch, dass ich bereits mit meinen Gedanken irgendwo weiter vorn bin und nicht mehr im gegenwärtigen Moment anwesend. Bei all diesen Formen ist mein Denken, Entscheiden, Fühlen bestimmt durch das Nicht-Anwesendsein. Und ich beobachte mich und stellte fest, wie oft ich nicht vor der leeren Leinwand stehe (einer „offenen“ Zukunft), sondern bereits zu wissen meine, was auf das Bild drauf gehört, die Leinwand an sich gar nicht wahrnehme oder ein Abziehbild, eine Kopie aus einer vergangenen Situation verkaufen möchte, mir und anderen. Das hat mich erschreckt.

Seither versuche ich mehrfach am Tag, vor Ereignissen, Aufgaben, mir dieses Bild vor Augen zu stellen und dort hineinzufühlen. Ich mache die Erfahrung, dass es mich zentriert, mir hilft, mich auf das Hier und Jetzt, die (vor mir liegende) Situation zu konzentrieren. Ich habe keine „Methode“ oder Ritual entwickelt, das liegt mir weniger. Sondern ich versuche, immer wieder das Bild einer leeren Leinwand vor mein inneres Auge zu stellen und dann auf meine Gefühle und Gedanken zu achten.

Die (ersten) Ergebnisse waren überraschend.

Vor einigen, mit sehr viel Stress und innerer Anspannung verbundenen Momenten gelang es mir so, Ängste und Befürchtungen zu beruhigen und mich auf den Moment zu konzentrieren. Vor Gottesdiensten, auch in der Trauerhalle, versuche ich direkt vor Beginn mir dieses Bild vors Auge zu stellen und die Menschen, die vor mir sitzen, sozusagen durch die leere Leinwand hindurch wahrzunehmen. Vor der leeren Leinwand zu stehen, ist zu einer Art Gebet oder auch einem Mantra geworden.

Es entwickelten sich aber auch Situationen völlig anders als erwartet. Auch negative Gefühle nahm ich intensiver wahr als früher, oder eigene Rat- und Hilflosigkeit in bestimmten Diskussionen und Gesprächen. Hier habe ich mich noch nicht getraut, diese Impulse in die Situation zu geben, war bisher zu überrascht über mich selbst, aber ich will dran bleiben.

Das Bild der leeren Leinwand lässt mich anders auf die Zukunft zugehen, mich ihr anders öffnen. Da ich grade ein Buch über Kirche und Zukunft geschrieben habe, trafen diese Überlegungen und Bilder auf fruchtbaren, vorbereiteten Boden. Und nach Leit-Bildern zu suchen und zu fragen, ist mir darüber hinaus schon lange ein inneres Bedürfnis, weil ich eben glaube, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte (aber auch weniger!).

Wie viele andere Gedanken Scharmer´s halte ich auch das Bild des Künstlers vor der leeren Leinwand für sehr anschlussfähig. In der geistlichen Tradition der Kirche sind es die leeren Hände, mit denen ich vor Gott stehe und ihn bitte, sie mir jetzt zu füllen. Dieser Gedanke kann sicher im Sinne einer falschen Demut missverstanden werden: ich bin nichts, ich habe nichts, bin unwürdig vor allem unwürdig, in Deinem Namen, Gott zu sprechen. Ich glaube aber, dass das Bild der leeren Hände eben auch anders gefüllt werden kann. Es ist der Versuch, mich auf das Hier und Jetzt zu fokussieren, störende Einflüsse abzulegen, die mich entweder in der Vergangenheit festhalten oder bereits in die Zukunft ziehen und mich so dem Moment entführen – und damit ist alles verloren, der Zauber des Kairos ist zerstört.

Ich mache mit dem Bild von Scharmer erneut eine Erfahrung, die ich an anderen Stellen auch bereits gemacht habe: die eigene geistliche Tradition bleibt oft stumm für mich, in dem Sinn, das ich ihr zwar sachlich folgen kann, sie mein Herz aber nicht erreicht. Über einen Umweg dagegen wird sie (wieder) lebendig.

So ging es mir mit der „Bibel in gerechter Sprache“, deren konsequenter, aber im ersten Moment fremder Ansatz mir nicht nur an vielen Stellen die biblischen Schriften neu erschlossen, sondern auch die „vertraute“ Übersetzung Martin Luthers. Vor der „Verwendung“ im Gottesdienst und bei der Predigtarbeit lese ich beide sehr gründlich, und versuche zu erspüren, in welcher der Übersetzungen ich mich an dieser Stelle und warum eher wiederfinde. Mein eigenes Vorlesen der Texte im Gottesdienst führt so – in meiner eigenen Einschätzung zumindest – zu einer viel größere Präsenz.

Eine ähnliche Erfahrung habe ich mit dem Begriff der „Achtsamkeit“ gemacht, dem ich bei Jon Kabat-Zinn begegnet bin und der mir das Verständnis des völlig abgegriffenen Begriffs der Demut erschlossen hat (Predigt: Demut ist Achtsamkeit).

2 Gedanken zu “Vor der leeren Leinwand stehen

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