Radikal arbeiten. Fragen, Beobachtungen und ein Vorschlag

Am 16. März habe ich am digitalen Barcamp „Radikal arbeiten“ teilgenommen (Gruppe auf LinkedIn: https://www.linkedin.com/groups/12896721/). Die Teilnehmer:innen kamen aus sehr verschiedenen Hintergründen und Orten. Mein Eindruck war., dass „Radikal arbeiten“ bislang ein Sammelbecken für verschiedene Personen mit unterschiedlichen Interessen ist, die von dem Begriff angefixt sind. Folgende Beobachtungen, Fragen und einen Vorschlag möchte ich teilen.

1. Radikal arbeiten, eine Bewegung

Radikal arbeiten versteht sich als „Bewegung“. Dieser Begriff stieß bei mehreren Teilnehmer:innen auf Resonanz.

Ich nehme in der Bewegung eine – manche:n euphorisierende – Sehnsucht nach „anderer“ Arbeit war. Das erinnert mich an frühere Aufbrüche. Sowohl in New Work im Sinne Frithjof Bergmanns als auch im Umfeld der „Augenhöhe“-Filme von Sven Franke begegnete mir diese Sehnsucht, die ich selbst in der Begegnung mit Frithjof Bergmann so empfunden habe.

Allerdings verpufft die verändernde Kraft mit der Zeit, weil die Richtung der „Bewegungen“ unklar ist. Das führt zu Enttäuschungen einerseits (mein Engagement in der Bewegung bringt mir nicht das, was ich erhofft habe) und/oder zu Forderungen („andere“ müssen sich ändern, etwas tun oder lassen, damit es vorangeht).

Das hängt für mich damit zusammen, dass oft nicht geklärt ist:

  • Wer bewegt sich?
  • Bewege ich mich?
  • Werde ich bewegt?
  • Bewege ich andere?
  • Sollen sich andere in meine Richtung bewegen?

2. Radikal, ein emotionales Wort

Das Wort „radikal“ löst emotional etwas in mir aus. Es geht an „die Wurzel“, es geht um den Kern. Und suggeriert eine Dringlichkeit.

Allerdings frage ich, ob es Sinn ergibt, „isoliert“ (nur) über Radikal arbeiten nachzudenken. Arbeit ist bezogen auf Wirtschaftsprozesse. Müsste nicht auch die Wirtschaft „radikalisiert“ werden? Welche ordnungspolitischen Eingriffe fördern radikale Arbeit und Wirtschaft? Oder ist die Hoffnung da, dass sich durch radikale Arbeit zugleich auch Wirtschaft verändert im Sinne: Zurück zum Kern?

3. Meine Fragen nach dem Barcamp

Mich beschäftigen Fragen wie diese:

  • Wie können Führungskräfte radikal arbeiten? Müsste nicht eine Reorganisierung von Arbeit von ihnen ausgehen? Impulse von „unten“ verpuffen ansonsten schnell oder führen zu Frust. Aber: Wer radikalisiert Führungskräfte?
  • Wenn ich die These unterstütze, dass es zahlreiche Bullshit Jobs gibt und in der Wirtschaft jede Menge überflüssiger Schrott produziert wird – wer entscheidet darüber, solche Jobs künftig zu lassen? Anders gefragt: Wer ist das Subjekt in der Bewegung Radikal arbeiten? Genauer: Wer sind die Subjekte und welche Aufgaben haben sie in ihrer jeweiligen Situation?
  • Was bedeutet Radikal arbeiten für Selbständigkeit bzw. unternehmerische Tätigkeit? Cathi Bruns bemängelt seit Jahren die schwache und oft geringschätzende Unterstützung selbständiger Arbeit. Es wird in der Schule nicht gelehrt (anders als zB in Estland). Selbständigkeit ist kein Allheilmittel auf dem Weg zu radikaler Arbeit, aber sie sollte nicht außen vor bleiben.
  • Welches Menschenbild habe ich vor Augen, wenn ich an Radikal arbeiten denke? Jeder Mensch ist einzigartig, dieser Satz bekommt auf dem Hintergrund der Erkenntnisse der Neurodiversität in den letzten Jahren noch einmal eine neue Zuspitzung.

4. Eine Einordnung

Markus Väth weist in seinem Podcast-Gespräch mit Jule Jankowski (https://goodwork.podigee.io/193-markus-vaeth-und-jule-jankowski-radikal-arbeiten) auf den Aufsatz „New Work-Diskursanalyse – Humanisierung der Arbeit oder effektives Managen?“ von Lars Taimer und Heiko Weckmüller aus dem Jahr 2020 hin.

Taimer und Weckmüller helfen mir mit ihren Thesen und Beobachtungen, Schneisen in das für mich unübersichtliche Feld zu schlagen. Sie benennen dort u.a. folgende drei Befunde:

  • Unter den Beschäftigten herrscht akut nicht die Stimmung, überwiegend sinnlose Arbeit zu verrichten.
  • Während nach Bergmann Beschäftigte aktiv sinnstiftende Arbeit finden sollen, die sie „wirklich, wirklich wollen“, sind reale Sinnansprüche und Sinnzuschreibungen deutlich breiter, individueller und differenzierter. Arbeitsplätze, die persönliches Wachstum oder soziale Kontakte ermöglichen, werden subjektiv als sinnstiftend empfunden.
  • Für radikale Zielsetzungen wie Konsumverzicht oder substanzielle Arbeitszeitverkürzung ist im Moment keine politische und gesellschaftliche Stimmung auszumachen.

Taimer und Weckmüller verweisen selbst darauf, dass die wesentlichen Thesen in der Zeit vor Corona formuliert wurden. Corona und die weiteren Krisen wie der Ukraine-Krieg und die immer offener zutage tretende Klimakrise haben zu Veränderungen geführt. Eventuell wird die Sinnfrage noch einmal „radikaler“ gestellt. Vor vier Jahren hätte vermutlich nur eine Minderheit die Rüstungsindustrie für notwendig und sinnvoll erachtet, da hat sich einiges gedreht. Und in dem allgemeinen Unbehagen suchen viele Menschen den vorzeitigen Ausstieg aus dem Arbeitssystem (vorgezogener Ruhestand trotz gekürzter Rente oder Pension). Auch das Thema Arbeitszeitverkürzung erfährt eine Renaissance (4 Tage Woche, 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich bei der Bahn und anderswo).

Außerdem identifizieren und beschreiben Taimer und Weckmüller drei Subdiskurse in der Bewegung New Work:

  • Einen „originäre Sinndiskurs“ nach Bergmann, der durch eine antikapitalistische Systemkritik die Menschen ganzheitlich anspricht und auf eine neue Gesellschaftsform abzielt;
  • einen „mitarbeiterorientierte Humanisierungsdiskurs“,in dem die Beschäftigten sich Freiräume nach ihren Bedürfnissen schaffen und dabei durch ihre Arbeitgeber gegebenenfalls unterstützt werden und
  • einen „businessorientierte Managementdiskurs“, in dem unter New Work effektive Maßnahmen zur Begegnung unternehmerischer Herausforderungen (wie etwa Agilität, Flexibilität etc.) verstanden werden.

In aller Vorsicht würde ich die These in den Raum stellen, dass in der entwickelnden Bewegung zu „Radikal arbeiten“ alle drei Subdiskurse durch verschiedene Personen vertreten sind.

5. Ein Vorschlag zum weiteren Vorgehen

Radikal arbeiten wird als Bewegung nur Wirkung hinterlassen, wenn sehr konkret argumentiert wird. Über „die Arbeit“, „die Wirtschaft“, „die Führungskräfte“ und „die Arbeitnehmer:innen“ zu sprechen, ergibt wenig Sinn – jede und jeder assoziiert hier anders und anderes.

Die arbeitenden Menschen unterscheiden sich. Kultureller Wandel muss das im Blick haben. Die aktuelle Sinus-Studie beschreibt zehn aktuelle Milieus:

(Quelle: https://www.sinus-institut.de/media-center/presse/sinus-milieus-2021)

Ein Weg wäre, durchzubuchstabieren, was Radikal arbeiten für Menschen im jeweiligen Milieu bedeuten kann – ich vermute, dass es hier sehr große Unterschiede gibt. Das ist auch kein Problem, solange ich mir dieser Tatsache bewusst bin.

Aber mit Milieus allein ist es nicht getan. Arbeit vollzieht sich in unterschiedlichsten Ausprägungen (z.B. im Blick auf die Unternehmensgröße) und Branchen. Arbeitdigital (https://arbeitdigital.de/gruender/branchen/) unterscheidet 27 Branchen:

  • Automobilindustrie
  • Baugewerbe & Bauwirtschaft
  • Beauty-, Kosmetika- und Frisörgewerbe
  • Bildung, Erziehung & Unterricht
  • Biotechnologie & Chemietechnik
  • Dienstleistungsbranche (Finanzen & Versicherungen)
  • Dienstleistungsbranche (Sonstige)
  • Energieversorgung & Energiewirtschaft
  • Gesundheitswesen
  • Handel
  • Hotel- und Gastgewerbe
  • Immobilien-, Grundstücks- und Wohnungswesen
  • IT-Branche
  • Kunst, Unterhaltung und Erholung
  • Land- und Forstwirtschaft, Fischerei
  • Lebensmittelindustrie
  • Logistik, Lagerei & Verkehrswirtschaft
  • Luft- und Raumfahrt
  • Medizintechnik
  • Montanindustrie & Bergbau
  • Öffentliche Verwaltung
  • Pharmabranche
  • Schiffbau und Meerestechnik
  • Spielzeugbranche
  • Telekommunikationsbranche
  • Textil- und Bekleidungsbranche
  • Wasser, Abwasser & Entsorgung

Radikal arbeiten wird sich in der verschiedenen Branchen unterschiedlich auswirken. Kombiniere ich das mit den zehn Milieus erhalte ich eine Matrix mit 270 Feldern. Diese muss ich noch verdoppeln, weil sich in jedem Milieu und in jeder Branche Radikal arbeiten im Blick auf Frauen und Männern unterschiedlich auswirkt. Kombiniere ich das noch mit dem Lebensalter und nehme weitere Kriterien wie Behinderungen oder Migrationserfahrungen mit hinzu, wird die Herausforderung nicht mehr zu händeln.

Aber eventuell hilft eine solche Matrix dabei, Fragen wie diese zu stellen: „Hilft“ Radikal arbeiten Menschen in allen Milieus und allen Branchen? Wenn nein, für wen und warum? Gibt es eine vermutete Nähe zu einzelnen Milieus oder Branchen?

Daher wäre meine Idee, mein Vorschlag, in kleineren Gruppen Personas zu entwickeln, in denen – mehr oder weniger narrativ – einzelne Personen „vorgestellt“, möglichst präzise beschrieben werden und bedacht wird, wie Radikal arbeiten sich hier konkret auswirken könnten.

Also z.B.

  • ein Handwerker aus der Abwasserentsorgung aus dem traditionellen Milieu
  • eine Lehrerin in einer Berufsschule aus dem konsum-hedonistischen Milieu
  • eine Unternehmensberaterin aus der Finanzbranche aus dem konservativ-gehobenen Milieu

Usw.

Eine Schärfe könnte dadurch mit hineingenommen werden, dass ich den Handwerker, die Lehrerin und die Unternehmensberaterin in zwei unterschiedlichen Milieus vorstelle.

Ein solches Vorgehen nimmt zum einen den visionären und utopischen Charakter der Bewegung auf, wird aber in der Entwicklung der Personas und dem damit zusammenhängenden Szenario hinreichend konkret und anschaulich. In weiteren Schritten werden dann die verschiedenen Personas verglichen.

So erhielte die für mich derzeit sehr offene und unbestimmte Bewegung einen konkreten Rahmen. Brüche, Widersprüche, Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Hoffnungen und Stolpersteine werden erkennbar.

Ich freue mich über Kommentare: Kritik, Anmerkungen, Zustimmung...

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..