Wer ist denn nun meine Nächste, mein Nächster? Predigt über die Erzählung vom barmherzigen Samariter

Festgottesdienst im Johanneshof in Wettbergen am 25. Juni 2023

Liebe Gemeinde,
der barmherzige Samariter (Lukas 10,25-37) ist eine der bekanntesten biblischen Erzählungen. In vielen diakonischen Leitbildern wird sie genannt. Denn sie ist DIE Geschichte, die anschaulich Sinn und Zweck christlicher Nächstenhilfe beschreibt.

Daher bearbeiten wir sie auch im Seminar der Pestalozzi-Stiftung. Dort bilden wir Sozialpädagogische Assistent:innen und Erzieher:innen aus. Alle Schüler:innen nehmen an meinem Religionsunterricht teil, abmelden kann sich niemand. Das ist gut. So landen viele Fragen und Konflikte gleich auf dem Tisch. Denn wie ich es auch drehe und wende – Religion kann ich unserer Gesellschaft nicht umgehen.

Wir arbeiten im Seminar zumeist so: Eine – mehr oder weniger – fiktive Situation aus der Praxis wird beschrieben. Nach und nach erarbeiten wir, wie Pädagog:innen hier angemessen handeln können. Biblische Geschichten werden mit herangezogen. Und die Schüler:innen üben sich im Erzählen der Geschichten für Kinder und Jugendliche.

So auch vor ein paar Wochen. Unter der Überschrift „Nächstenliebe“ sprachen wir über den barmherzigen Samariter. Und die Seminarist:innen erzählten die Geschichte aus ihrer Sicht für eine fiktive KiTa-Gruppe.

Ich möchte Ihnen ein paar Beobachtungen aus diesem Unterricht mitteilen. Denn es ist jedes Mal megaspannend, zehn-, fünfzehn- oder auch zwanzigmal die gleiche biblische Geschichte für die gleiche Situation zu hören. Nicht nur die Menschen, die sie erzählen, sind verschieden. Sie wählen auch unterschiedliche Perspektiven. Manchmal wird eine vertraute Geschichte auf einmal ganz neu interessant – oder aufregend fremd.

Denn wenn ich eine biblische Geschichte erzähle (oder über sie predige), muss ich entscheiden, wo ich den Schwerpunkt setze. Aus welcher Perspektive möchte ich den Zuhörer:innen die Geschichte nahebringen? Dabei helfen in der Vorüberlegung Fragen wie diese: Welcher Person in der Geschichte fühle ich mich nah? Mit welcher Person identifiziere ich mich? Oder auch: Welche Person ist mir ganz und gar fremd?

In unserem heutigen Predigttext kommen viele Personen vor. Überlegen Sie doch mal kurz: Welcher Person fühlen Sie sich nahe?

Ist es der Samariter, der vorurteilsfrei hilft? Ohne zu zögern, ohne Ansehen der Person, auch mit eigenem Geld? Ist er ein Vorbild für mich in meinem Leben? In meinem Beruf, in meinem ehrenamtlichen Engagement?

Oder finde ich mich eher in dem Menschen wieder, der überfallen wird? Erinnert mich sein Schicksal an Erfahrungen aus meinem Leben? In denen ich mich überrollt, hilflos, an den Rand gedrängt gefühlt habe? Vielleicht habe ich auch schon selbst die Erfahrung gemacht, überfallen, ausgeraubt oder zumindest bestohlen worden zu sein. Das tut weh. Macht mich traurig. Ohnmächtig. Oder auch wütend. Und wer hat mir dann geholfen? Wer wurde mir zur Nächsten, zum Nächsten?

Wenn ich ehrlich bin, finde ich mich oft im Priester oder Levit wieder. Denn auch ich gehe immer wieder an Not und Leid anderer vorbei. Aus Angst. Aus Überforderung. Aus Hilflosigkeit. Aus Bequemlichkeit.

Kann es auch sein, dass mir die Räuber nahe sind? Vielleicht sind es Menschen, die aus Bosheit andere überfallen, mag sein. Aber es könnte auch pure Not und Verzweiflung sein, die sie dazu bringt, sich in der Wüste zu verstecken und Reisende auszurauben. Weil sie zum Beispiel keine Arbeit finden. Vielleicht hatten sie seit Tagen nicht zu essen, vielleicht warten zu Hause hungrige Kinder…

Wahrscheinlich ist es so, dass wir das hier in Deutschland so selbst nicht erleben. Auf Mundraub sind wir nicht angewiesen, um zu überleben. Deswegen fühlen wir uns vermutlich den Räubern eher nicht verbunden und nah.

Aber wie sieht es im weltweiten, globalen Zusammenhang aus? Kritisieren nicht Menschen, Völker und Staaten die reichen Industrienationen im Norden für ihr oft ausbeuterisches wirtschaftliches Verhalten? Aus Sicht mancher Menschen im globalen Süden mag es so aussehen, dass sie sich wie ausgeplündert vorkommen. Bodenschätze werden abgebaut und exportiert, und die Bevölkerung vor Ort hat nichts davon.

Auch wenn es hier nicht um mein individuelles Verhalten geht: Als Mensch, der in einem der reichsten Länder unseres Planeten lebt, muss ich mir schon die Frage gefallen lassen: Geht es im globalen Zusammenhang gerecht und auf Augenhöhe zu? Oder ist das Gefühl, ausgebeutet oder gar ausgeraubt zu werden, aus Sicht anderer Ecken unseres Planeten nachvollziehbar? Dann finde ich mich schon in den Räubern wieder, die anderen nehmen, was sie zum Leben brauchen. Eine unangenehme Wahrheit. Es bleibt eine ständige Aufgabe und Herausforderung, aus diesem Muster herauszutreten. Und uns auf Augenhöhe, als Nächste zu begegnen.

So gesehen können Menschen sich in allen Personen der Geschichte wiederfinden.
Auch für den Wirt im Gasthaus finden wir noch einen Anknüpfungspunkt:
Er lässt sich dafür bezahlen, dass er dem Überfallenen hilft. Er pflegt ihn und bringt in wieder auf die Beine. Was machen heutige diakonische Unternehmen? Sie beschäftigen Menschen, die andere unterstützen. Der Wirt steht meist passiv eher im Hintergrund, wenn die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt wird. Dabei leistet er wichtige Arbeit und verdient seinen Lebensunterhalt damit. Wie wäre die Geschichte weitergegangen, wenn der Samariter kein Gasthaus gefunden hätte?

Liebe Gemeinde,
über solch unterschiedlichen Blickwinkel habe ich mit den Schüler:innen diskutiert. Und sie haben für ihre Erzählung der Geschichte sehr verschiedene Perspektiven gewählt.

Es geht aber noch weiter. Wenn ich überlege, wie ich diese Geschichte heute Kindern und Jugendlichen nahebringen kann, dann kann ich fragen: Wüste und Räuber, Esel, Gasthaus und Samariter – sind das Orte und Personen, mit denen Kinder und Jugendliche sich so ohne weiteres identifizieren?

Einer unserer Seminaristen ging daher hin und verlegte die Geschichte nach Deutschland. Er erzählt von einem Jungen, der von älteren Jugendlichen überfallen wurde. Dann ließ er seine Freundinnen und Freunde achtlos vorübergehen. Aber ein Jugendlicher aus dem Flüchtlingsheim um die Ecke hilft ihm, dem Überfallenen, auf und bringt ihn nach Hause. Klingt vielleicht klischeehaft und moralisch – aber ehrlich gesagt, dann war Jesus mit seinem Samariter auch klischeehaft und moralisch.

Und noch eine letzte Beobachtung aus dem Unterricht möchte ich mit Ihnen teilen.

Wir haben überlegt, wie wir dieses dreifache Liebesgebot beschreiben können, das den Rahmen für Jesu Erzählung abgibt: Gott lieben, die Nächsten leben und mich selber lieben. Wir waren uns einig, hier geht es um eine Balance. Zu jeder Seite kann ich wegkippen.
Nächstenliebe ohne Selbstliebe führt vielleicht zum Burnout.
Selbstliebe ohne Nächstenliebe zum Egoismus.
Nächstenliebe und Selbstliebe ohne Liebe zu Gott zur Überforderung.
Gottesliebe ohne Nächstenliebe zur religiösen Eiferei.
Wir stellten fest: Im Prinzip bildet das Dreieck des dreifachen Liebesgebotes einen Rahmen, in dem sich unser ganzes Leben spiegeln lässt.

Doch dann stand mit einem Mal der Gedanke im Raum:
Müssen wir das dreifache Liebesgebot nicht heute erweitern zu einem vierfachen Liebesgebot? Sehen wir nicht immer deutlicher, wie lieblos wir unserer natürlichen Umwelt gegenübertreten?
Im Seminar haben wir gesagt: Könnte es nicht sein, dass Jesus heute so formulieren würde: Du sollst Gott lieben, deine Nächsten lieben und deine natürliche Umwelt wie dich selbst? Dann können es auch der vertrocknende Baum, die gefährdete Tierart und viele andere sein, die meiner, unserer Zuwendung bedürfen. Sie sind auch unsere Nächsten. Damit unser allen Leben in Balance bleibt oder wieder kommt.

Liebe Gemeinde,

mich hat gerade dieser letzte Gedankengang angesprochen und bewegt mich weiter. Wie können wir Fragen des Klimaschutzes gut ansprechen? Das beschäftigt mich schon lange. Dass ausgerechnet diese, mir so vertraute biblische Geschichte hier einen Raum öffnet, hätte ich nicht gedacht.

Das ist das Tolle an biblischen Geschichten und unserem Glauben: Wir werden nie damit fertig. Nicht wir haben es in der Hand, Gottes Geist spricht uns an. Gerade auch dann, wenn ich denke, ach, das ist doch alles ganz einfach. Pustekuchen. Ist es nicht. Gott sei Dank! Das hält offen, immer wieder neu zu fragen: Ja, wer ist denn jetzt genau meine Nächste, mein Nächster und wie kann ich angemessen helfen?

Amen.

(Vorschaubild: pixabay)

3 Gedanken zu “Wer ist denn nun meine Nächste, mein Nächster? Predigt über die Erzählung vom barmherzigen Samariter

  1. Sandy Braxein

    Liebe deinen Nächsten wie Dich Selbst. So heißt es doch.   Den Anderen, den Fremden und meine Feinde so lieben wie ich mich Selbst liebe. Das heißt Selbstliebe ist die Quelle aller Liebe. Und wer sein Selbst verloren hat, wird es finden. Den der Andere, der Fremde, mein größter Feind, das bin ich Selbst….

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  2. Genau genommen wäre die Frage umgekehrt besser gestellt: Wer ist mein Nächster nicht? Denn: Da wäre ich schon wieder fertig mit der Aufzählung. Jesus geht im Bezug auf die Nächstenliebe so weit, dass er sogar meint, dass wir unsere Feinde lieben sollen. Und das ist der Punkt. Nächstenliebe ist für alle da. Glaubst Du nicht?

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