Mobilität, ein Menschenrecht – Potentiale und Grenzen eines menschlichen Grundbedürfnisses aus evangelischer Perspektive

Vortrag beim Besuch der Gesamtkonferenz Hannover bei der UESTRA am 23. Oktober 2019

Bewegung ist unser Leben.
Schon als kleine Kinder drängt es uns zu krabbeln.
Dann auf unseren zwei Beinen zu stehen und zu laufen.
Uns selbstbestimmt durch einen Raum zu bewegen.
Und alle sind stolz, wenn wir es schaffen.

Bald kommen auch die ersten Grenzen.
Das Gitter an der Treppe.
Die Haustür.
Eine Hand, die mich zurückzieht.

Mein Radius weitet sich schnell.
Garten, Kindergarten, Schulweg.
Zuerst zu Fuß.
Dann mit Hilfsmitteln, die mich schneller machen:
Dreirad, Roller, Fahrrad.
Bus, Straßenbahn, Zug – Auto.

Ich bin unterwegs.
Von morgens bis abends.
Aus dem Bett ins Bad und in die Küche.
Oder umgekehrt.
Ins Büro, zum Gespräch ins Café, zum Betriebsbesuch.
Abends eine Laufrunde durch den Georgengarten.
Ins Kino oder einfach nur am Maschsee spazieren gehen.

Viele meiner Wege sind Alltagswege.
Ich nehme sie nicht oder kaum wahr.
So selbstverständlich sind sie.
Und es gibt die besonderen Wege.
Die mit Aufregung und Herzklopfen.
Eine Fahrt zum Bewerbungsgespräch.
Studienfahrt, Urlaubsreise.
Der schwere Weg, Mutter oder Vater zu beerdigen.

Auch in biblischer Zeit gab es unzählige Alltagswege.
Erzählt wird aber vor allem von besonderen Wegen.
Adam und Eva werden aus dem Paradies vertrieben.
Kain muss nach seinem Mord auf Wanderschaft gehen.
Abraham verlässt seine Heimat auf Gottes Wort hin.
Das Volk Israel zieht 40 Jahre durch die Wüste.
Maria und Josef müssen nach Betlehem.
Jesus wandert drei Jahre durch Israel.
Und wenn Paulus nicht gereist wäre…

Menschen sind unterwegs.
Auf alltäglichen und besonderen Wegen.
Neues entdecken, Handel treiben, Besuche.
Und es gibt und gab immer auch Wege ohne Rückfahrtkarte.
Menschen mussten und müssen ihre Heimat verlassen.
Wegen Hungersnot und Krieg, religiöse Streitereien.
Neuerdings und zukünftig auch durch steigende Meeresspiegel und zunehmende Dürren.

Bewegung ist ein Menschenrecht.
Bewegung ist notwendig.
Bewegung tut gut.
Bewegung macht auch Spaß.
Manch eine, einer kann sich an Geschwindigkeit geradezu berauschen.

Doch immer sind meiner Bewegung auch Grenzen gesetzt.
Durch meinen Körper und seine Kraft.
Durch Ressourcen.
Durch gesetzliche Vereinbarungen.
Rechts hat Vorfahrt.
Es gibt Ampeln und Bahnschranken.
Ich darf nur mit Tempo 50 durch den Ort fahren.
Es braucht solche Regeln.
Damit wir uns nicht gegenseitig über den Haufen rennen oder fahren.

Dem Recht auf Mobilität sind oft noch andere Grenzen gesetzt.
Ich brauche einen Pass, um in die USA einreisen zu dürfen.
Geflüchtete standen am Grenzzaun in Idomeni.
Oder warten auf Booten vor Häfen.
Legale Grenzen, ja.
Ob es auch legitime, gerechtfertigte Grenzen sind, steht auf einem anderen Blatt.

Über Mobilitätskonzepte für die Zukunft wird zur Zeit viel geredet.
Auch in Hannover.
Autofreie Innenstadt, Ampelschaltungen, Radwegeausbau.
Hier stoßen unterschiedliche Interessen aufeinander.
Und es wird heftig gestritten.
Mein Eindruck ist:
Die Sachargumente sind gar nicht so entscheidend.
Mobilität hat viel mehr mit Emotionen, oder genauer mit Gewohnheiten zu tun.
Gewohnheiten, mentale Infrastrukturen nennt sie Harald Welzer.
Die prägen meine Vorstellung von Bewegung.
So sehr, dass meine Positionen längst bezogen sind, bevor ich nach Sachargumenten suche.
Meine These lautet daher:
In allen Fragen künftiger Mobilität müssen wir zuallererst über unsere Gewohnheiten reden.
Denn ethisch ist kaum umstritten, dass unser heutiger Verkehr wesentlich zur Klimakrise beiträgt.
Trotz aller Anstrengungen.

Ich bin es gewohnt.
Ich habe mich daran gewöhnt.
Ein kleiner, vielleicht feiner Unterschied.
Ich bin es gewohnt, mit dem Auto zu fahren.
Ich habe mich daran gewöhnt, mit dem Smartphone zu arbeiten.
Das eine war schon immer so.
Beim anderen kann ich mich noch daran erinnern, dass es mal anders war.
Gewohnheiten prägen Empfinden und Verhalten.
Gewohnheiten sind vertraut, suggerieren Sicherheit.
Aber das Gute ist:
Gewohnheiten können sich ändern.
Wir alle haben uns an das Internet und das Smartphone gewöhnt.
So sehr, dass wir das Gefühl haben, ohne geht es nicht mehr.
Aber wir können uns noch daran erinnern, dass es mal anders war.
Telefonieren aus dem Urlaub?
5 DM für 5 Minuten aus Italien.

Mein Lieblingsauto ist der VW-Bulli.
Als Zivildienstleistender fuhr ich einst so einen bei der Lebenshilfe.
Morgens, nachmittags und oft auch zwischendurch kutschierte ich behinderte Jungs und Mädchen.
Von zuhause zur KiTa und wieder zurück.
Mit einem tiefroten Bulli.
Ich habe das Fahrgefühl bis heute in meinem Körper abgespeichert.
Nicht nur den Sound des Motors.
Auch das butterweiche Gleiten der Schaltung im Getriebe.
Das Übergreifen der Hände beim fast horizontal angebrachten Lenkrad.
Ich habe seit Jahrzehnten nicht mehr in einem Bulli gesessen.
Doch in zwei Sachen bin mir sicher:
Erstens:
Manche Routinen wären sofort wieder da.
Zweitens:
Ich käme mir doch ziemlich komisch vor.
Denn wir sind heute ganz andere Standards gewohnt.
Bequemere Sitze, leisere Motoren.

Deutschland ist ein Autoland.
Vieles ist nach wie vor auf das je eigene Auto abgestimmt.
Nach wie vor wird ein wesentlicher Teil der Wege in der Stadt unter fünf Kilometer mit dem Auto zurückgelegt.
Das Auto ist billig, bequem und steht vor der Haustür.
Wir fahren mit dem eigenen Auto zum Einkaufen, in den Urlaub, zur Beerdigung.
Wir sind es gewohnt, als Radfahrer*in und Fußgänger*in auf Autos zu achten.

Wir behaupten ja gerne, in einer Wissensgesellschaft zu leben.
Und damit auf der Grundlage von Wissen zu planen und zu handeln.
Harald Welzer hat vor kurzem gesagt:
„Würde man tatsächlich wissensbasiert handeln,
hätte man längst erfolgreich Treibhausemissionen reduziert –
das Wissen über den Klimawandel ist seit Jahrzehnten vorhanden.“
(Welzer, Futurezwei 10/2019, S. 11f.)
Es sind die Gewohnheiten, die uns hindern.

Wie ändern sich Gewohnheiten?
Durch Einsicht.
Durch Vorgaben.
Oder durch Katastrophen.

Bodo Janssen schreibt:
„Laut einer psychologischen Studie brauchen wir 66 Tage täglicher Praxis, um aus einem Akt eine Gewohnheit werden zu lassen.
Der wichtigste Aspekt dabei ist das praktische Tun (…).
Eine gute Gewohnheit entsteht nicht dadurch, dass ich etwas denke. (…)
Des weiteren ist eine Gemeinschaft sehr hilfreich bei der Entwicklung guter Gewohnheiten –
man muss etwas nicht allein tun und es auch nicht allein durchhalten.“
(Bodo Janssen, Kraftquelle Tradition, 48ff.)

Der erste Schritt liegt darin, meine eigenen mentalen Infrastrukturen zu erkennen.
Die Gewohnheiten in meinen Bewegungsmustern.
Und auch zu überlegen:
Wo habe ich schon Gewohnheiten geändert und wie habe ich das gemacht?
Oder wo haben sich über die Jahre Gewohnheiten geändert, ohne dass ich hier bewusst tätig wurde?
Schleichend, so wie Autos allmählich immer sicherer und leiser und bequemer wurden.
Aus meiner Sicht ist das eine Voraussetzung, um dann über eine zweite Frage nachzudenken.
Die lautet:
Was ist mir meine eigene Mobilität eigentlich wert und teuer?

Bewegung hat ihren Preis.
Sie kostet Zeit.
Verursacht gegebenenfalls Muskelkater.
Oder Rückenschmerzen vom langen Sitzen.
Und sie kostet Geld.
Fürs Rad, fürs Auto, für die UESTRA, die Bahn, das Flugzeug.
Da stellt sich die Frage:
Welche Wege sind sinnvoll, welche sinnlos?
Warum will ich eigentlich von A nach B?
Und warum mit diesem und nicht jenem Verkehrsmittel?
Und was ist mir dieser oder jeder Weg wert?

Mobilität hat ihren Preis.
Bewegung kostet etwas.
Zeit, Kraft, Geld.
Und andere Ressourcen.
Wir sind es gewohnt, dass wir nicht die wahren Preise zahlen.
Für den Naturverbrauch und im Blick auf den CO2-Ausstoß zum Beispiel.
Wir leben – nicht nur im Bereich der Mobilität – über unsere Verhältnisse.
Wir Lebenden in Westeuropa und Amerika schon unser ganzes Leben lang.
Wissen tun wir das schon lange.
Jetzt beginnen wir die Folgen zu spüren.
Wir ahnen allmählich:
Wir müssen anfangen, die wahren Preise zahlen.
Sonst fliegt uns nach und nach alles um die Ohren.
Da wird es ernst, da rückt es mir nahe.
Es geht um mein Geld.
Um liebgewordene, selbstverständliche, gewohnte Bewegungsmuster.

Das Gute ist:
Wir Menschen sind unendlich kreativ.
Wenn wir vor einer Herausforderung stehen, beginnt unser Gehirn zu rattern.
Aber der Rahmen muss gesetzt sein.
Daher lautet für mich die sozialethische These:
Wir müssen die echten Preise für Mobilität bestimmen und den Rahmen setzen.
Dann kann es losgehen.
Dann stehe ich zum Beispiel vor der Frage:
Wenn das eigene Auto immer teurer und teurer wird…
… und ich aber trotzdem von hier nach dort möchte oder muss…
… dann?

Mobilität hat ihren Preis.
Hatte sie schon immer.
Übers Mittelmeer und den Balkan kommen auch nur diejenigen, die es sich „leisten“ können.
Was ist mir welcher Weg wert?
Welchen Preis bin ich bereit zu zahlen?
Nur zehn Prozent kompensieren bislang ihre privaten Fahrten.
Wie es bei den Unternehmen, Verbänden und bei uns in der Kirche aussieht, weiß ich nicht.
Teilweise wird kompensiert.
Dabei wäre das Kompensieren der Auto- und Bahnfahrten sowie der Flugreisen gar nicht so „teuer“.
Die Klimakollekte setzt einen Preis von 23 € pro Tonne CO2 an.
Investiert in entsprechende Programme wird so der CO2-Ausstoß ausgeglichen.
Fahre ich mit dem Auto 20.000 Km im Jahr komme ich bei einem Verbrauch von 7 Litern auf etwa 75 € Kompensation.
Warum tun es dann so wenige?
Aus Gewohnheit?
Weil es nicht „notwendig“, sprich: gesetzlich vorgegeben ist?

Ich habe vor einigen Wochen einen Vortrag gehört.
Von einem sehr konservativen Menschen.
Er berät Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit.
Er sagt:
„Mit individueller Anstrengung allein werden wir die Klimaziele nicht erreichen.
Unser klimaschädlicher Lebensstil ist tief in unsere Infrastruktur eingewebt.
Wir werden Jahrzehnte brauchen, bis wir unsere Infrastruktur entsprechend umgebaut haben.
Bis dahin ist als Hilfskrücke die Kompensation von schädlichem CO2-Ausstoß unverzichtbar.
Sonst können wir die Klimaziele nicht erreichen.
Und das kostet uns buchstäblich etwas.
Meinen wir es ernst mit dem 1,5 Grad-Ziel, dann gibt es hier eigentlich nicht viel zu überlegen.“

Alles hat seinen Preis.
Und alles hat seine Grenzen.
Die von unserem Planeten vorgegebenen sollten wir bereit sein einzuhalten.
Aus reinem Egoismus für uns, vor allem aber für unsere Nachkommen.
Viele Religionen kennen den Imperativ:
Lebt im Einklang mit der Natur!
Als Christ sage ich:
Wenn wir dem Auftrag von der Bewahrung der Schöpfung nachkommen wollen, kommen wir nicht darum herum, den wahren Preis zu zahlen.

Verstehen Sie mich nicht falsch.
Ich will hier nicht Verzicht predigen, keinesfalls.
Ich bin selbst ja leidenschaftlich gerne unterwegs.
Bewegung bringt mich in Bewegung.
Im Zug kann ich wunderbar schreiben.
Ich treffe Menschen lieber analog als mit ihnen zu skypen.
Ich liebe es, neue und vertraute Gegenden zu sehen.
Südtirol ist ein Sehnsuchtsort, in Berlin leben zwei meiner Kinder.
Gerade entwickelt sich etwas mit Menschen im Großraum Thessaloniki.
Und Sie können mich immer fragen und ich organisiere Ihnen eine Studienreise ins Foyer le Pont nach Paris.
Weil es mir etwas gibt.
Weil es mir Spaß macht.
Weil es mich mit anderen verbindet.
Ich bin gerne und viel unterwegs und will das nicht missen.

In diesem Punkt sind wir individuell verschieden.
Es gibt Menschen, die kommen ihr ganzes Leben nicht aus ihrem Dorf heraus.
Oder haben nie das Bedürfnis, mal in Urlaub zu fahren.
Andere dagegen lieben es, unterwegs zu sein.
Beruflich und/oder privat zu reisen.
Und es gibt diese vielen notwendigen Wege in unserem alltäglichen Leben, im direkten Umfeld.
Wie auch immer – es gilt, den tatsächlichen Preis zu zahlen.

Ich bin gespannt, wie das gleich auf dem Podium gesehen und diskutiert wird.
Vorher möchte ich abschließend aber noch fragen:
Was können wir konkret als Kirche tun?
Drei Dinge möchte ich nennen.

a) Es lohnt, selbst genau hinschauen statt sich irgendetwas über Mobilität erzählen zu lassen.
Ich kann mich fragen:
Wie bewege ich mich und warum so und nicht anders?
Wo sind meine Muster, meine Gewohnheiten?
Und wie hat sich das über die Jahre hin entwickelt?

Wir können aber auch in der Gemeinde fragen, im Kirchenvorstand oder in Gruppen und Kreisen:
Was bedeutet eigentlich Mobilität für unsere Kirchengemeinde?
Wie kommen die Menschen zu uns und wir zu ihnen?
Wie sind wie mit unseren Gebäuden eingebunden in die Verkehrsinfrastruktur?
Was sagen die Verkehrsentwicklungspläne im Blick auf die Mobilität in meinem Stadtteil?
Erreichen Menschen mit öffentlichen Verkehrsmitteln unsere Kirchen, Gemeindehäuser, Friedhöfe?

b) Wir können in unseren jeweiligen Zusammenhängen die Frage nach den wahren Preisen stellen.
Bei Besuchen, in Gruppen und Kreisen, in Gottesdiensten, im Kirchenvorstand, in den Synoden .
Nüchtern und pragmatisch, das zeichnet uns als Protestant*innen ja aus.
Weder die Potentiale noch die Abgründe menschlicher Existenz sind uns fremd.
Und für beides gibt es in unserem christlichen Glauben „Antworten“.
Deswegen haben wir auch etwas zu sagen, wenn es um Gewohnheiten geht.
Und wir können unaufgeregt aber entschieden auf notwendige Veränderungen und Kompensationskosten hinweisen.

c) Das Dritte schließt beim Zweiten an:
Was als wahr erkannt wird, muss auch umgesetzt werden.
Sonst sind wir als Christ*innen unglaubwürdig.
Heißt:
Wenn meine These von den wahren Preisen stimmt, dann müssen wir in den sauren Apfel beißen und zahlen.
Als einzelne, als Institutionen.
Da kommt dann schnell das böse Unwort vom Verzicht ins Spiel.
Aber ich sehe es anders und antworte mit einem Bild:
Wir haben vor Jahrzehnten angefangen, auf Kredit zu leben.
Nun gilt es, den Kredit zurückzuzahlen.
Wir wissen, was das bedeutet.
Manch Gewohntes werden wir uns nicht mehr leisten können.
In einem geordneten Insolvenzverfahren.
Oder wir gehen pleite.

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