An Heilig Abend predigen ist eine Herausforderung.
Ich habe am Schreibtisch meine Gemeinde vor Augen,
weiß in etwa, wer vor mir sitzen wird.
Die Gefühle schwanken zwischen Freude,
Sehnsucht,
Verzweiflung
und banger Erwartung.
Dazu Stern und Krippe,
Hirten und Könige,
ein paar Tiere,
eine ruhige Abendstimmung.
Und wenn´s dann draußen noch schneit,
ist alles perfekt.
Hier den richtigen Ton treffen,
damit Worte berühren
und Weihnachten in den Herzen zu wirken beginnt,
das ist ein Spagat zwischen Wahrheit und Stimmung.
Es gilt in der Mitte zu bleiben.
Die Welt nicht auszublenden,
aber auch die Stimmung nicht zu zerstören.
Ersteres wäre verlogen.
Letzteres nähme mir die Gemeinde übel.
Beides wäre fatal.
Fünfundzwanzig Jahre habe ich so Heilig Abend gepredigt.
In diesem Jahr ist alles anders.
Wie in all den Jahren horche ich zwar in mich hinein,
ganz automatisch,
aus Gewohnheit,
was denn dieses Jahr zu predigen wäre.
Suche nach Texten, Motiven, Gedanken.
Lasse das Jahr an mir vorüberziehen.
Doch anders als sonst mischen sich diesmal keine Bilder aus der Gemeinde hinein.
Weil ich dieses Jahr nicht auf der Kanzel stehen, sondern unter ihr sitzen werde.
Umso brutaler drängen sich mir andere Bilder auf,
die aus der Welt.
Ein dumpfe Form des Islamhass macht sich in seltsamen Koalitionen auf den Straßen breit.
An Touristen vorbei versuchen Menschen, die Festung Europa zu stürmen.
Lassen nicht selten ihr Leben dabei,
während andere sich zum Bräunen noch einmal umdrehen.
Berge von Plastikmüll,
Tag für Tag auch von mir produziert,
die mir manchmal ein Gefühl des Ekels bescheren,
wenn endlich das fertige Essen vor mir steht.
Kriege in der Ukraine, Syrien, Irak.
Terror – ach, wo eigentlich nicht?
Sinkende Ölpreise, die jubeln lassen, weil Benzin endlich mal wieder billiger wird.
Und ein Riesenreich im Osten vor dem Absturz zittern lässt.
Nachrichten von scheiternden Klimagipfeln und zunehmender Demokratieverdrossenheit.
Und in Worms verbietet ein Gericht ein Krippenspiel auf dem Marktplatz.
Weil es verstören könnte.
Das wäre schlecht fürs Geschäft.
Die Kasse muss brummen, die biblische Geschichte passt hier nicht.
Die Welt scheint mehr und mehr aus den Fugen zu geraten.
Unterschwellig breitet sich Angst aus.
Angst, die Party könnte bald vorbei sein.
Unser Wohlstand zusammenbrechen,
Verwerfungen und Krieg sich auch auf unseren Straßen breit machen.
Viele haben das Gefühl:
Ich bin überfordert,
ich kann nicht mehr.
Oder auch:
Ich kann es nicht mehr sehen noch hören,
lass mich doch in Ruhe.
Wenigstens an Weihnachten.
Weihnachten
– und das ist das Positive daran -,
Weihnachten hält in vielen Menschen eine Sehnsucht nach heiler Welt wach.
Eine Sehnsucht, die mit der Wirklichkeit kaum mehr übereinzustimmen scheint.
Ein kleines Fenster,
so scheint es,
in einer unwirtlichen, gefährlichen, verstörenden, hoffnungslosen Welt.
Schwiegen nicht auch in den Weltkriegen am Weihnachtsabend hier und da die Waffen auf beiden Seiten?
Diese Sehnsucht ist so wichtig.
Da ist noch etwas in uns lebendig.
Und das wollen wir am Heilig Abend und den beiden Feiertagen ausleben.
Wenigstens einmal im Jahr so eine Art Auge in der Mitte des Sturms.
Ist dagegen etwas zu sagen?
Nein.
Denn vielleicht sind wir so offener für die Botschaft des Heiligen Abends.
Für die Botschaft, die aus den uralten Texten zu uns herüberweht.
Und die Zukunft öffnet.
Advent, Erwartung.
Weihnachten, Ankunft.
Danach geht es weiter.
Für die heilige Familie auf den Weg nach Ägypten.
Um den Häschern des Königs zu entfliehen.
Und das kleine Samenkorn der Hoffnung zu retten und zu schützen.
Damit es wachsen und groß werden kann.
Leben ist riskant, gefährdet, gefährlich.
Verdammt gefährlich.
Ich weiß nicht warum,
aber mir ging mir in diesen Tagen dieses Lied durch den Kopf:
O Heiland, reiß die Himmel auf,
Herab, herab, vom Himmel lauf!
Reiß ab vom Himmel Tor und Tür,
Reiß ab, wo Schloss und Riegel für!
Sehnsuchtsvolle Worte.
Wir singen sie,
könnten sie aber auch verzweifelt schreien.
Reiß die Himmel auf,
endlich!
Reiß ab, reiß auf!
Damit etwas möglich wird,
neu wird,
anders wird.
Der Himmel erzählt eine Gegen-Geschichte.
Denen, die eine Geschichte haben und sie kennen.
Wer nur den Kopf in simplen Zeitvertreib steckt,
ist dem Kapitalismus bereits verfallen.
Endlos konsumieren,
ohne Nachdenken über die Vergangenheit
und schon gar nicht über die Zukunft,
das ist keine Geschichte und hat keine.
Das ist die Hölle der endlosen Gegenwart.
Die sich erschöpft in kleinen Momenten des Kaufens, Verbrauchens und Wegwerfens.
Von Dingen und Menschen.
Ich, ich, ich und das war´s.
Eine Geschichte hat das nicht.
Eine Geschichte erzählen können heißt:
sich aufspannen können
zwischen Vergangenheit,
Gegenwart
und Zukunft.
Und zwischen mir und dir.
Es sind in unser aller Leben oft schwere, bittere Geschichten.
Geschichten von enttäuschten Hoffnungen,
vertaner Zeit,
endlosen Kämpfen.
Wie oft möchten wir rufen:
O Heiland reiß die Himmel auf!
– aber der Himmel scheint verschlossen,
wie mit Schloss und Riegel davor.
O Erd schlag aus, schlag aus o Erd,
– aber die Erde ist vielfach wüst vergiftet und tot.
Solche Geschichten kennen wir viele.
Dagegen erzählen wir so selten von Zukunft.
Wir scheinen sie verloren zu haben.
Die Aussichten sind düster,
Meeresspiegel steigen und Durchschnittstemperaturen.
Wir ahnen –
nein,
wissen es eigentlich doch:
Das erstaunliche Wirtschaftswachstum wird nicht ewig anhalten.
Und irgendwann wird der Schwall der Menschen aus dem Süden so anwachsen,
dass kein Zaun mehr hoch genug ist,
sie davon abzuhalten,
nach Mitteleuropa hinein zu fluten.
Zu uns.
Was für Aussichten.
Wer träumt da gerne von Zukunft?
Wer traut sich hier, Zukunftsgeschichten zu erzählen?
Vielleicht wird denen,
die noch Sehnsucht in sich spüren,
gerade an Weihnachten diese Gemengelage wieder bewusst.
Dann, wenn wir gefühlsmäßig anders drauf sind als sonst im Jahr.
Eigentlich doch die rechte Zeit, Gegen-Geschichten zu hören und zu erzählen,
die eine Gegen-Geschichte zu hören
und sie verwoben in unsere Lebensgeschichte weiter zu erzählen.
Chaos,
wirtschaftliche Unsicherheit,
Angst vor Krieg und Tod –
all das war den Menschen in Israel und im römischen Reich auch nicht fremd.
Und da hinein wird diese Geschichte erzählt,
von der Geburt eines Kindes.
Eine Geschichte, so wunderbar wie jede Geburt.
Und genauso schrecklich und gefährlich.
Krippe und Stall sprechen das überdeutlich an.
Welche Frau bringt dort gerne ein Kind zur Welt?
Und ohne die medizinischen Kenntnisse der Gegenwart war solch eine Geburt eine lebensgefährliche Angelegenheit.
Für Mutter und Kind.
Das erste Wunder lautet eigentlich:
Sie haben überlebt!
Romantisch ist das jedenfalls nicht.
Den ganzen Kitsch müssen wir beiseite schieben,
dann kommt schnell die politische Wucht dieser Geschichte zum Vorschein.
Kein Wunder, dass der König Herodes dem Kind nach dem Leben trachtet.
Kein Wunder, dass ein Gericht in Worms diese brisante Geschichte nicht in aller Öffentlichkeit aufführen lassen wollte.
Im Verborgenen der Kirche,
bei Weihrauch und Kerzen und Orgelmusik,
ja, meinetwegen.
Aber nicht in der Mitte der Stadt.
Vor aller Augen und Ohren.
Und doch geschieht es, trotz aller Schlösser und Riegel:
Gott wird Mensch,
menschlich,
in einem neugeborenen Kind.
Sprengstoff für die Welt, in der Welt.
Warum ist diese Geschichte so brisant, so gefährlich?
Sie macht Hoffnung.
Öffnet Zukunft.
Und bietet mir die Chance,
meine, unsere traurigen, deprimierenden Geschichten
neu zu hören,
neu zu sehen
und weiter zu erzählen.
Ändert das was?
Alles und nichts.
Es ändert nicht die Welt.
Und auch meine Möglichkeiten werden nicht mehr.
Tropfen auf kochend heiße Steine.
Nicht mehr, nicht weniger.
Weihnachten heißt ehrlicherweise auch Abschied nehmen von Allmachtsphantasien.
Das ist bitter und erleichternd,
ja –
erlösend zugleich.
Reformatorisch gesprochen:
Entlastet von allem befreit zur Liebe.
Es hängt nicht von mir ab, die Welt zu retten, so gerne ich es möchte.
Aber ich kann tun, was ich kann.
Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Das reicht.
Und ändert alles.
So berührt mich diese uralte Geschichte und das Lied.
Worte drängen sich mir auf.
Reiß ab die Schlösser von den Türen der Festung Europa!
Reiß auf die Geldtresore der Banken und Superreichen!
Reiß ab die Riegel vor meinem aus Angst vor Wohlstandsverlust verschlossenen Herzen!
Reiß auf die Tore zwischen den verfeindeten Völkern!
Reiß ab!
Reiß auf!
Und es wird geschehen:
Die Erde schlägt aus, es wird grün.
Amen.
So wird es sein.