Mit Veränderungsprozessen habe ich als Pfarrer ständig zu tun. Seit Jahren. Und es wird sich so schnell nicht mehr ändern, »permanente Reorganisation« (Nick Kratzer) bestimmt alle kirchliche Ebenen, seit langem und noch länger. Aktuell aus meiner Sicht: Meine Landeskirche will/muss 35% ihres Etats »einsparen«, im Kirchenkreis wird vermehrt über inhaltliche Zusammenarbeit über die Gemeindegrenzen nachgedacht, in meiner Gemeinde haben wir den Konfirmandenunterricht vor einem Jahr als bezirklichen Unterricht aufgelöst und sind dabei, ein gemeinsames Konzept zu entwickeln, einzuführen und zu erproben. Ach ja, ein neues Gemeindezentrum soll auch verschiedene ältere Häuser ablösen. Veränderung überall und ständig.
Auf diesem Hintergrund bin ich über das Buch: »Verändern. Change-Praxis für Entscheider und Führungskräfte« von Lorenz S. Forchhammer und Walter G. Straub gestolpert. Es hat mich beeindruckt: Manches, was ich geahnt habe, wurde bestätigt, etliches neu angeregt, einiges zurechtgerückt oder in Frage gestellt.
Nach einer Einleitung, die auf Veränderungen in der Projektarbeit eingeht, beginnen die Autoren mit der Beschreibung des Begriffs Komplexität, der heute viele Debatten und Konflikte bestimmt. Wesentlich ist für nach ihrer Ansicht die Unterscheidung zwischen inhaltlicher und sozialer Komplexität:
»Inhaltliche Komplexität hat vier Faktoren: Erstens die Anzahl der Sachaspekte, also wie lange ist die Liste der zu bewältigenden Themen. Zweitens die Vielfalt bzw. die Unterschiedlichkeit der Sachaspekte, also wie viele verschiedenen Fachlichkeiten beherrscht werden müssen. Drittens den Veränderungsgrad des Vorhabens und viertens den Vernetzungsgrad der Themen. Die Faktoren sozialer Komplexität sind: Erstens die Anzahl der Anspruchsgruppen und Betroffenen (Stakeholder), zweitens die Interessenvielfalt unter den Stakeholdern, drittens die Klarheit der Machtverhältnisse sowie die emotionale ›historische Ladung‹, mit der ein Thema behaftet ist.« (S. 14)
Diese Aspekte werden entfaltet und immer wieder mit Hinweisen aus der eigenen Beratungspraxis verstärkt (so z.B. S. 16: Man »darf den Experten nicht die Leitung des Veränderungsprozesses übertragen, weil sonst relativ hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass die soziale Komplexität außen vor bleibt«).
Kapitel 2 beschreibt die Erfolgsfaktoren von Veränderungsprozessen. Hintergrund ist eine Studie, die von den Autoren 2008 durchgeführt wurde. Tenor: Vielfach wird Changemanagement wenig professionell durchgeführt und ist kaum in die Unternehmensstrategie und -kultur eingebettet. An der Spitze der Kritikpunkte stehen Kommunikations- und Beteiligungsmängel (S. 28). Daraus ziehen die Autoren die Konsequenz:
»Zentrale Bedeutung für Veränderungsprozesse kommt den Entscheidern und Gremienmitgliedern zu. Ohne sie läuft nichts. Sie müssen vorleben, wovon Mitarbeiter betroffen sind und eindeutige Orientierung bieten. Strategisch wie menschlich.« (S. 31)
Es folgen summarisch sieben Hinweise, die in den weiteren Kapiteln entfaltet werden.
Kapitel 3 fragt nach den Auslösern von Veränderungsprozessen und nennt Vision, Einsicht, Leidensdruck und Notfall. (S. 38) Immer gilt aber Change is pain, Veränderungen sind unangenehm, lösen Angst aus. Als Ausweg sehen die Autoren die Tatsache, dass unser Verhalten nicht nur von Angst, sondern auch von Neugier geprägt ist, die geweckt werden kann.
Für mich neu, aber einleuchtend ist die Unterscheidung zwischen Anwendungs- und Veränderungsprojekten. Sie unterscheiden sich im Kern darin, dass bei Anwendungsprojekten der berechenbare, vertraut und bekannte Bereich viel größer ist als offene und unvertraute Bereiche. Während erstere relativ leicht zu managen sind, gilt es sich bei den Veränderungsprozessen umfassend und gezielt mit den Ängsten der Betroffenen zu befassen.
Hier ist es auch sinnvoll, Ziele nicht zu früh zu exakt zu formulieren, sondern eher als Wegweiser zu verstehen, die im Verlauf präzisiert werden:
»Verfrühte Lösungen im sprachlichen Gewand von Zielen – ohne gute Kenntnis der Veränderungslandschaft und ihrer Stellhebel – (schaden) oft mehr (…) als (sie) nützen. Denn durch sie wird der Blick darauf verstellt, was mit Phantasie und Mut wirklich erreichbar ist.« (S. 53)
Die Verfasser regen daher an, drei Zieldimensionen im Auge zu behalten: Qualität, Akzeptanz und Integration, um Verbindlichkeit zu erreichen:
»Darum geht es letztlich. Wenn es gelingt, dass die Mitarbeiter die Lösungen zu sich nehmen und bei sich an ihrem Arbeitsplatz verwirklichen, dann entwickelt sich die Organisation« (S. 56)
Kapitel 4 widmet sich der Unternehmenskultur. Hier haben die Verfasser verschiedene Instrumente zur Analyse entwickelt, zum einen die Zwiebel, in der die Ebenen der Veränderungen abgebildet sind (S. 73, Abbildung), zum anderen den Kulturprofil-Indikator. Dieser hilft, in Unternehmen vier Kulturstile zu unterscheiden (Ideen-, Family-, Projekte- und Struktur-Kultur) und diese mit einer zweiten Dimension zu verbinden, die nach Relevanz von Rängen unterscheidet: individuell – standardisiert – gleichwertig –- rangorientiert (S. 79, Abbildung). Mit Hilfe des Indikators kann die heutige Situation analysiert werden und Veränderungen können ins Auge gefasst werden. Die Frage lautet am Ende des Analyse:
»Um der Zielkultur näher zu kommen: Was müssen Führungskräfte mehr / verstärkt / eindeutiger tun und was sie in Zukunft bleiben lassen / weniger tun / beenden?« (S. 84)
Kapitel 5 untersucht die Architektur von Veränderungsprojekten und stellt verschiedene Tools und Werkzeuge vor. Manches findet sich so oder ähnlich auch anderswo. Hilfreich fand ich die Komplexitätsanalyse, welche die Unterscheidung von sachlicher und sozialer Komplexität aufnimmt und in einer Grafik veranschaulicht. (S. 98)
Spannend ist das Stakeholder-Mapping (S. 101), welches aufzeigt, dass die Linie von destruktiv über ablehnend, skeptisch, fragend, überzeugt hin zu begeistert nicht linear verläuft, sondern die beiden Eckpunkte von herausragender Bedeutung sind. Daher sollte alles Bestreben darauf ausgerichtet sein, möglichst viele Betroffene für den konkreten Veränderungsprozess zu begeistern.
Kapitel 6 geht der Konstruktion von Prozessen nach, der Initialisierung und Mobilisierung der Beteiligten.Auch hier werden verschiedene Modelle und Werkzeuge beschrieben.
Kapitel 7 nimmt die innere Organisation von Projekten in den Blick. Umfangreiche Veränderungsprozesse sollten sinnvollerweise in Teilprojekte unterteilt werden. Auch hier gibt es Hinweise zum Vorgehen.
Zentral ist in diesem Kapitel die Frage nach der Verantwortung in den Projekten. Hier werden verschiedene Ebenen unterschieden und deren jeweilige Aufgabe beschrieben (Entscheider, Lenkungsausschuss, Projektleiter, Teilprojektgruppen.) Verschiedene Dilemmata für die Entscheider an der Spitze werden aufgelistet und diskutiert. Beseitigt werden können diese nicht, aber man kann mit ihnen umgehen lernen, so die These. Solche Dilemmata lauten z.B.: »Ganz oben, ganz einsam und ohne Feedback« oder »Gut Ding will Gründlichkeit – die Praxis Eile«.
Hilfreich fand ich im weiteren Verlauf des Abschnitts auch den Hinweis, die Intensität der Beteiligung zu prüfen und die Betroffenen der Sache angemessen zu beteiligen. (S. 162, Abbildung)
Das achte und letzte Kapitel stellt schließlich die Frage: Wie gewinne ich Unterstützung?
Die Ergebnisse einer Umfrage machen hier zunächst deutlich, dass die Entscheider zumeist zufrieden sind – im Gegensatz zu allen anderen Beteiligten. Gründe sind für die Autoren eine gelegentliche Selbstverliebtheit von Entscheidern, aber vielmehr noch:
»Sie haben häufig bereits eine Lösung im Kopf und möchten diese durchsetzen. Und sie beteiligen zum Schein, aber es ist schon klar, was rauskommen muss; so das Mehrheitsurteil der Befragten.« (S. 177)
Hier wird schon erkennbar, was die Autoren kurz danach in aller Deutlichkeit formulieren:
»Auch Führungskräfte sind Menschen, die sich überfordert fühlen können und nur wenige sind auf die menschlich schwierigen Auseinandersetzungen gut vorbereitet. Mache reagieren dann entweder autoritär oder überhaupt nicht und beides vergrößert den Schaden. Aber es hängt davon ab, wie Führungskräfte mit den Mitarbeitern umgehen, ob sich die Stimmung im Bereich wieder erholt und verbessert. (…) Wir glauben, dass die persönlichen Fähigkeiten von Entscheidern und Führungskräften in schwierigen Zeiten fast das einzig Entscheidende sind.« (S. 180f.)
Widerstände sind normal, aber es hilft selten weiter, sie einfach nur ernst nehmen zu wollen. Für die Autoren wird die Zusammenarbeit immer dann schwierig, wenn eines oder mehrere von fünf Kernbedürfnissen nicht erfüllt oder gar verletzt wird: Anerkennung – Zugehörigkeit – Selbstbestimmung – Status – Rolle/Zuständigkeit. (S. 184, Abbildung) Sie schlagen daher vor, eine Art des Denkens anzuwenden, welche die Entweder-oder-Haltung durch einen Sowohl-als-auch-Blickwinkel ersetzt. Dazu hilft die Idee eines Lösungsraumes, dessen vier »Ecken« so benannt sind: »Verbrannte Erde« – »A gewinnt, B verliert« – »B gewinnt, A verliert« – »win-win«. In der Mitte des Raums wabert dann noch der faule Kompromiss herum. Dies ist auch nicht neu, die Grafik des Lösungsraums (S. 186) ist aber einprägsam.
Am Ende des Kapitels gehen die Verfasser noch auf die »Neurobiologie der Leidenschaften ein« und versuchen Hilfestellung zu geben, wie »emotionale Disziplin« gelingen kann. Es gilt achtsam zu sein, lautet ihre Antwort:
»Achtsamkeit bedeutet, automatische Gefühlsabläufe zu unterbrechen und damit eingeschliffenen Reaktionsweisen auf äußere Reize und innere Befindlichkeiten die Zwangsläufigkeit zu nehmen. Emotionale Freiheit heißt, dass ich wahrnehme, achtsam registriere, was um mich herum und in mir geschieht und dann bewusst meine Reaktion wähle. Der innere Beobachter bleibt also verbunden mit dem, was er beobachtet. Aber er ist nicht identifiziert.« S. 189)
Für das weitere Vorgehen empfehlen sie eine Übung »Wahrnehmen – vermuten«: Formuliere eine Wahrnehmung und finde dann mindestens fünf Vermutungen, warum der oder die Andere sich so verhält. Dies führt in aller Regel dazu, dass mit verschiedenen Vermutungen verschiedene Gefühle verbunden sind, die nun bewusst werden – und ich zugleich merke, dass ich in meiner vorschnellen emotionalen Reaktion einer unbewussten Vermutung gefolgt bin!
Dies führt oft dazu, dass häufig für viele Konflikte akzeptable Lösungen gefunden werden können.
»Es ist unserer Erfahrung nach gar nicht so wichtig, dass jeder 100 Prozent seiner eigenen Interessen erfüllt sieht. Schon wenn jeder das Gefühl hat, dass seine Sicht und seine Anliegen genauso ernst genommen werden wie die der anderen, entspannt sich die Lage. Im Kern geht es darum, aus dem Pokerspiel auszusteigen und mit dem Puzzeln zu beginnen.« (S. 191)
Fazit:
Vieles hatte ich schon mal irgendwo gehört oder gelesen, selbst erfahren oder im Studium der Sozialpsychologie gelernt. Aber bislang nicht in solch komprimierter Form, mit vielen einprägsamen Schaubildern und Sätzen, die sich nachhaltig in meinem Kopf festgesetzt haben.
Im Fokus des Buchs stehen betriebliche Veränderungsprozesse. Hier und da stellen sich Rahmenbedingungen in kirchlichen Institutionen anders dar. Auch das für Kirche und Gemeinde spezifische Zusammenwirken zwischen Haupt- und Ehrenamt lässt eine direkte Anwendung der Instrumente nicht immer möglich oder ratsam erscheinen. Da die Autoren aber weniger einen konkreten Leitfaden, sondern eine Anleitung zur Wahrnehmung aller möglichen Aspekte in Veränderungsprozessen vorgelegt haben, hat mich die Lektüre sehr angeregt. Ich merke, dass ich mit anderen Augen auf die oben genannten Umstrukturierungen zu schauen beginne, in die ich mehr oder weniger intensiv involviert bin.
Das Stakeholder-Mapping hat mich nachdenklich gemacht. Wie kann es gelingen, Menschen für Veränderungsprozesse zu begeistern? Diese Frage führte mir vor Augen, dass ich selten in meinen innerkirchlichen Zusammenhängen auf Menschen treffe, die von den anstehenden oder laufenden Prozessen begeistert sind. Das ist eine offene Frage, die mich noch länger beschäftigen wird.
Gerade an Kapitel 8 ist mir deutlich geworden: Ich bekomme hier für mich viele Werkzeuge in einem Werkzeugkasten an die Hand, die vorher zwar schon irgendwo bei mir herum lagen, aber nicht so übersichtlich und sortiert. Die Autoren arbeiten mit Grafiken, die sich mir gut einprägen, aber auch mit verbalen Bildern, die im Gedächtnis bleiben und – hoffentlich – in künftigen Gesprächen und Prozessen in mir wieder aufleuchten und hilfreich sein werden.
Eine kritische Anmerkung zum Schluss:
Ärgerlich finde ich den weitgehenden Verzicht auf inklusive, geschlechtersensitive Sprache. Ausschließlich ist von Entscheidern, Beratern, Mitarbeitern die Rede. Vertan wird so auch die Chance, auf etwaige Unterschiede im Vorgehen von Frauen und Männern in Veränderungsprozessen einzugehen bzw. diese gezielt fruchtbar zu machen.
Verändern: Change-Praxis für Entscheider und Führungskräfte, Lorenz S. Forchhamer/Walter G. Straub, ComTeammedia 2013, 29,90 €
Link zum Shop von ComTeammedia:
Eine kurze Einführung in den Kulturprofil-Indikator steht kostenlos zum Download bereit. Dort finden sich auch einige der in meiner Rezension genannten Abbildungen.
Link:
http://de.comteamgroup.com/sites/default/files/ct_kpi_flyer2013_2.pdf
Lieber Matthias Jung,
Deiner Kritik an der geschlechter-unsensiblen Sprache muss ich leider Berechtigung einräumen! Die kommende Auflage wird diese peinlich unzeitgemäße Unterlassung bereinigen.
Darüber hinaus danke ich Dir sehr für die inhaltlich sehr aufwändige (und sehr freundliche) Rezension des Buches. Über keine Rezension habe ich mich mehr gefreut; ich fand meine Werteüberzeugungen als Christ und Unternehmer sehr geteilt.
Herzliche Grüße, Lorenz Forchhammer
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